– Zu Paul Celans Gedicht „DEIN VOM WACHEN stößiger Traum. …“. –
PAUL CELAN
DEIN VOM WACHEN stößiger Traum.
Mit der zwölfmal schrauben-
förmig in sein
Horn gekerbten
Wortspur.
Der letzte Stoß, den er führt.
Die in der senk-
rechten, schmalen
Tagschlucht nach oben
stakende Fähre:
sie setzt
Wundgelesenes über.
Zwei „Strophen“, die erste und die dritte, werden je von einer Kurzstrophe gefolgt, die jeweils eine Art Folgerung zieht. So zerfällt das Gedicht in zwei Hälften. Es sind durchaus verschiedene Bildsphären, die in ihnen heraufgerufen werden. Aber sie betreffen ein Gemeinsames: Schlaf und Traum, bzw. das Erwachen. Offenbar sind es auch rhythmisch zwei sehr verschiedene Vorgänge, die hier zusammengebunden sind. Auf der einen Seite das Drängen des Traumes, der wie ein Bock stößt, und auf der anderen Seite die mühsam nach oben stakende Fähre. Indessen zielt beides, wenn auch ganz verschieden gesehen, auf das gleiche.
Das ist ein erster Ausgangspunkt für die Frage, wie das Ganze zu verstehen ist. Man muß es vom einzelnen her versuchen. Der Traum ist stößig geworden wie ein Ziegenbock. Dadurch gelangt etwas von dem Dunkel an den Tag. Nun muß man beachten, daß es nicht etwa ein beim nahenden Erwachen stößig werdender Traum ist, wie wir das sonst aus dem Traumerleben Schlafender kennen. Er wird im Gegenteil vorn Wachen stößig. Es ist also ein allzu langer Vorgang des Wachens, der schließlich den Traum so stößig werden läßt, daß am Ende etwas nach oben „übersetzt“, „übergesetzt“ wird. Das steht jedenfalls fest, daß das Gedicht niccht etwa den wirklichen Traum im Schlaf meint, und das wird vollends deutlich und eindeutig durch das Reizwort im letzten Verse: „Wundgelesenes“. Daraus geht hervor, daß es die Welt der Worte und des Lesens ist, in der sich der Traum regt. Es entspricht dem, daß dieser stößige Bock ein Horn hat, auf dem sich, wie man das von manchen Widderarten kennt, gekerbte Windungen zur Spitze hinziehen und daß diese gekerbte Spur „Wortspur“ heißt. So wird deutlich, daß es sich um die lange anstehende, sich lange vorbereitende Geburt des Wortes handelt, die in dem Gedicht beschrieben wird. Das Horn windet sich in zwölf Windungen bis in die Spitze herauf, mit der der Bock den letzten Stoß führt. Die Zwölfzahl deutet auf ein rundes Ganzes von Zeit, zwölf Monate, ein volles Jahr, jedenfalls eine lange Zeit. Mit anderen Worten: schon lange hält das Wachen den Traum nieder, und immer wieder führt der Traum, der sich regt, seine Stöße. Es ist also wie ein langes „Heranwachen“, um einen Ausdruck des Gedichts „Von Ungeträumtem“ zu verwenden. Offenbar will das Gedicht sagen, daß ein Gedicht nicht ein plötzlicher Einfall ist, sondern lange Arbeit der Vorbereitung verlangt. Aber die tatsächliche Arbeit an dem Gedicht, die im zweiten Gleichnis als eine langsam und mühevoll stakende Fähre erscheint, ist gleichwohl nicht die eigentliche Aussage desselben. Die eigentliche Aussage ist vielmehr, daß es „Wundgelesenes“ ist, das so nach oben kommt. „Wundgelesenes“, Wundgelaufenes meint ein von allzulanger Wanderschaft des Lesens Wundgewordenes. Oder ist „Wundgelesenes“ von noch tieferer Zweideutigkeit und meint nicht nur den Schmerz des Lesens, des zu vielen, des sinnlosen Lesens, sondern ebenso vielleicht den Schmerz und die Wunde des „Gelesenen“, das heißt des schmerzhaft Erfahrenen überhaupt, das auch „gelesen“ heißen kann: zusammengelesen, wie durch eine Ährenlese des Leides?
In jedem Falle ist das, was ins Wort übergesetzt wird, ins Wort übersetzt ist, das Gedicht, der aus dem Dunkel des Unbewußten mit Hilfe des Traumes durch eine Art Arbeit des Traumes gewonnene Text.
Muß man noch einzelnes erläutern? Die Bildsphären sind von höchster Kraft anschaulicher Selbstauslegung: die Stöße des Bocks, die schließlich mit dem letzten Stoß, die Wachwelt durchstoßen und den Traum erwecken. Welch eine Vertauschung von Traum und Wachen! Und dann diese tiefe „Tagschlucht“: wie in eine senkrechte schmale Schlucht das Tageslicht einfällt, so arbeitet sich wie an einer Leiter des Lichts das im Dunkeln Gesammelte, „Wundgelesene“ ans Licht hinauf – auch dies nicht auf einen Schlag, so wenig wie der Bock auf einen Stoß den Traum aufweckt. Aber am Ende erweckt er den Traum, am Ende langt das aus dem Dunkel ans Licht Übergesetzte an – das ist das Gedicht.
Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019
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