Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „DIE SCHWERMUTSCHNELLEN HINDURCH…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „DIE SCHWERMUTSCHNELLEN HINDURCH…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

DIE SCHWERMUTSCHNELLEN HINDURCH
am blanken
Wundenspiegel vorbei:
da werden die vierzig
entrindeten Lebensbäume geflößt.1

Einzige Gegen-
schwimmerin, du
zählst sie, berührst sie
alle.

 

Es geht um die Erfahrung der Zeit.

An einem Punkte wird es handgreiflich, worauf das Gedicht anspielt. Jemand denkt an die vierzig Jahre, die er alt ist. Man wird sagen: der Dichter. Gewiß, und doch ist in dem, was der Dichter hier von sich selbst sagt, ein Allgemeines da, ein so sehr allen Gemeinsames, daß diese besonderen vierzig Jahre nicht die des Dichters allein sind. In dem ganzen Gedicht wird überhaupt nicht „Ich“ gesagt, so sehr ist im Sprechen des lyrischen Wortes das „Ich“ da, das wir alle sind. Dieses Ich, das wir alle sind, denkt an seine vierzig Jahre, das heißt an alles, was an ihm und an alles, woran es selbst vorübergekommen ist: Zeiten der Schwermut, Stromschnellen, die nicht so sehr durch ihr Dasein als durch die Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit ihres Auftretens Gefahr sind. Die Gefährlichkeit dessen, was so plötzlich über einen kommt, ist in dem einzigen Wort „Schwermutsschnellen“ beschworen – aber auch, daß „Ich“ durch alle Anfechtungen hindurch kam. Jetzt geht es durch ruhigeres Wasser, an dem spiegelnden See vorbei, der im Kontrast zu den Stromschnellen eine so unbewegte Wasserfläche ist, daß sich alles in ihm spiegeln kann. So ist in ihm Wissen und Eingedenken. Was sich in ihm spiegelt, sind die sichtbaren Spuren sichtbarer Verletzungen, Wunden, deren das dahinrauschende Leben sich schmerzhaft bewußt wird. Sie vor allem sind es, die in der Lebensbilanz auftreten.
Und doch ist die eigentliche Bewegung des Gedichtes, daß das Leben weitergeht, vorbei an den jähen Verdüsterungen wie an der Klarsicht offener Leiden. Die Lebensbäume der Jahre, die da dahintreiben, heißen ihrerseits „entrindet“. Das kann heißen: Es liegt der Kern bloß (für den sich Erinnernden?), dergestalt, daß alles Unwesentliche abgestreift ist. Vielleicht auch: Das eigentliche Lebendige ist nicht mehr dabei. Die Entrindung läßt den Säftestrom des Lebens nicht mehr steigen und sinken. Was da ist, ist nur sein verholztes Gehäuse. In jedem Falle: sie werden geflößt. Die Kraft der Wasser trägt sie dahin, talabwärts. Diesem Strom des Vergehens schwimmt jemand entgegen, für den, als die einzige Gegenschwimmerin, all diese Unterschiede von jähen Verdüsterungen und spiegelnder Klarheit der Wunden und all das, was sie an Leben einschließen, überhaupt nicht zu existieren scheinen. Diese Gegenschwimmerin wird als „Du“ angeredet, bewundernd, besiegelnd.
Die letzte Verszeile „alle“ macht das Allumfassende dieser Gegenbewegung deutlich. Die Gegenschwimmerin zählt alle und berührt alle diese Bäume des Lebens. Das Gleichmaß und die unbeirrbare Genauigkeit, die hier am Werke sind, machen es eindeutig, scheint mir, daß die Gegenschwimmerin die vergehende Zeit selber ist. Kein menschliches Erinnern oder Gedächtnis oder gar die mitgehende Sorge eines anderen vermöchte so beständig und unverrückt und untrennbar vom ersten Jahre an dabeizusein. Platon lehrt uns: Die Zeit ist die Zahl, das bewegte Außereinander. Die Gegenschwimmerin hier ist freilich mehr als nur ein Maß, an dem sich die Bewegung mißt. Sie tut etwas, indem sie selber der Stromversetzung des Vergehens widersteht. Dadurch allein ist sie wie ein festes Maß, mit dem sich alles zusammenfassen und messen läßt und von dem aus sie sich zählend all des Vorüberfließenden vergewissert, wie mit berührender Hand. Nichts wird dabei weggelassen, alles gehört dazu, auch all die „ungezählten“ Leiden, die hinter sich zu lassen und zu vergessen „leben heißt“. Das Gezählte ist also die ganze Summe der durchlebten Zeit. Nun lehrt uns Aristoteles: Irgendwie ist mit der Zeit die Seele da. Das Gegen, das sich nicht mitreißen läßt und nicht davon abläßt, dabeizusein und alles zu zählen, ist also nicht so sehr die Zeit selber wie das stehende und widerstehende Selbst, das „Ich“ bin und worin die Zeit ist. In ihm erst faßt sich, wie Augustin gezeigt hat, die Lebensgeschichte zu einem Ganzen zusammen. In ihm erst ist Zeit da. Es ist etwas Rätselhaftes mit der Selbigkeit des Ich. Es lebt, weil es vergißt – aber es lebt auch nur als Ich, weil alle seine Tage „für es“ gezählt werden und gezählt sind, die unvergeßlichen. Daß nichts, was ich war, ausgelassen ist, macht das Wesen der Zeit aus, aber gewiß ist es nicht das wirkliche Bewußtsein des Vierzigjährigen oder irgendeines, der zurückblickt, derart zu umfassen. Gerade dieser Unterschied der alles zählenden Zeit und des Lebensbewußtseins des Ich wird diesem vielmehr zur Erfahrung. Der Vierzigjährige wird an solchem Gleichmaß der Zeit und am Gleichmut dieses Bewußtseins, das die Zeit selber denkt, seiner wie eines höheren Selbst bewußt.

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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