– Zu Paul Celans Gedicht „DIE ZAHLEN, im Bund…“. –
PAUL CELAN
DIE ZAHLEN, im Bund
mit der Bilder Verhängnis1
und Gegen-
verhängnis.
Der drübergestülpte
Schädel, an dessen
schlafloser Schläfe ein irr-
lichternder Hammer
all das im Welttakt
besingt.
„Die Zahlen“ nimmt das Zählen der Zeit auf. Die Zeit erscheint hier als Verhängnis, denn sie steht im Bunde mit der Bilder „Verhängnis und Gegenverhängnis“. „Der Bilder Verhängnis“ meint offenbar das, was hinter dem Schädel wach ist, das unvermeidliche Verhängnis des Bewußtseins, in dem immer etwas sich abbildet. Es kann nicht fehlen, daß da etwas ist – nicht ein Gerufenes, nicht ein Gewünschtes. Die Zahlen, das heißt, dieses Ablaufen der Augenblicke, ist nicht für sich. Sie sind „im Bund“, d.h. schließen immer zugleich ein, daß als Gegebenheiten der inneren Erfahrung Bilder da sind. Diese Bilder nun, die so mit den Zahlen und der Zeit unlösbar mitgehen, sind nicht nur wie die Zeit „Verhängnis“, d.h. notwendiges, unabänderliches Geschehen, sie haben die Funktion eines „Gegenverhängnisses“. Das will sagen, daß sie zugleich gegen die Zahlen stehen, gegen das Einerlei der Folge, das unaufhörlich wie ein Hammer pocht. Doch diese Bilder sind auch selber Verhängnis. Als Verhängnis der Bilder erlangt indes das Wort „Verhängnis“ einen neuen Gegensinn, nämlich daß es etwas verhängt, so daß das Verhängte nicht mehr in seiner eigentlichen Gestalt offenliegt und unverhüllt sichtbar ist. Indem das Gegenverhängnis der Bilder beides zugleich ist, nicht nur Verhängtes, sondern auch Verhängendes, gewinnt auch das Verhängnis selber etwas von dem Doppelsinn, verhängt und zugleich verhängend zu sein. Das, wogegen die Bilder das Verhängende und Verhängte sind, sind die Zahlen, die Zeit, das unabänderliche Vergehen. Es ist – als im Bunde mit den Bildern – nicht nur ein unaufhörliches Pochen der Vergänglichkeit, sondern ist zugleich wie ein Schleier, der über der Gegenwart liegt und den zu vergessen jener andere Schleier sich herabsenkt, der bunte Teppich der Bilder.
Die Zeit ist der innere Sinn, in dem sich die Sukzession der Vorstellungen findet. Das hatte schon Kant und im Ansatz schon Aristoteles gelehrt. Man versteht das Befremdliche, daß diese Unendlichkeit der Folge und der Bilder wie unter einem Helm eingeschlossen ist. Es ist der Schädel, an dessen Wand der Äußerlichkeit sich diese innere Unendlichkeit im Hammerschlag des Zeitpulses manifestiert. Nun heißt es aber „im Welttakt besingt“: Daß der Taktschlag des Zeithammers Welttakt ist, ist klar; er umfaßt alles. Was heißt es aber, daß der pochende Hammer diese ganze innere Folge „besingt“? Aus solchem Takt des unaufhaltsamen Vorbei wird doch wahrlich keine Musik. Die kühne Metapher „besingt“ bildet einen Endvers und hat dadurch einen starken Nachdruck, die Emphase des Paradoxen, das sich selbst setzt und entgegensetzt. Nun meint „besingt“ auf alle Fälle: nicht entgegenstehen, sondern preisen und in der Preisung gegenwärtig machen. Was bedeutet das? Wieso ist der irrlichternde Hammer, das Aufzucken des Bewußtseins, das dem Strom von Zeit und Bild nur folgt und mit ihm geht, zugleich das, was zu ihm Ja sagt, ihn ganz zum meinigen macht – als jenes „ich denke“, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können?
Oder ist es gerade die Monotonie dieses Hammerschlages der Vergänglichkeit, die in einem bitteren Oxymoron „singen“ genannt ist? Doch die semantische Gegebenheit scheint mir eindeutig: im großen Takt der Zeit, die wie der Pulsschlag ist, ist das Aufleuchteen des Bewußtseins wie ein Gegenverhängnis. Es sind Bilder, deren Wechselgehalt das Einerlei des Vergehens in unaufhörlicher Folge irrlichternd belebt. Wie nahe hier – wie überhaupt bei Celan – ein Wortspiel lauert, zeigt in der zweiten Strophe die Wendung „schlaflose Schläfe“. Wie alle Wortspiele verkörpert auch dieses einen Gedankenbruch, oder besser eine verborgene Harmonie, die, wie Heraklit wußte, stärker ist als eine offene. In der Tat ist es das Rätsel des Bewußtseins selbst, wie dies Ineins von Schlaf und Schlaflosigkeit, diese Schlaflosigkeit im Schlaf sein kann. Wenn man sich seiner selbst bewußt ist, ist man wach. Aber der, der sich da seiner selbst bewußt wird, ist stets wie ein aus dem Schlaf Erweckter. So sicher sind wir unserer Selbigkeit im Selbstbewußtsein, daß seine Wachheit auch seinen Schlaf, sein Dämmern und Vergessen, fraglos umfaßt. Nun ist der Hammer, der an die Schläfe pocht, im Einerlei des unerbittlichen Weitergehens der Zeit, Gesang – oder wie Gesang? – In jedem Falle meint das etwas, was da zustande und zum Stehen kommt. Das ist die eigentliche Aussage. Indem der Hammer nicht nur den Welttakt schlägt, sondern im Takt all das, was in der ganzen Greifbarkeit der Bilder auftaucht, besingt, wird das Einerlei aufgehoben. Die wechselnden Bilder treten in ein bleibendes Sein, das dem Vergehen ins Tonlose widersteht und in dem Zustimmung geschieht.
Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019
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