– Zu Paul Celans Gedicht „FADENSONNEN…“. –
PAUL CELAN
FADENSONNEN
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.
die sich in der großen Gebärde dieses kurzen Gedichtes auftun. Ein meteorologischer Vorgang, den wir alle irgendwann einmal beobachtet haben, klingt an: wie über der grauschwarzen Ödnis einer von schweren Wolken verhangenen Landschaft an Lichtfäden sich Lichträume und Lichtfernen öffnen. Es scheint mir abstrakt und unanschaulich, wenn man, wie vorgeschlagen worden ist, unter „Fadensonnen“ fadendünn gewordene Sonnen, eine nicht mehr, wie in besseren Tagen, runde Sonne, verstünde. Gewiß ist es eine spirituelle Landschaft (und keine Wetterstimmung), deren grauschwarze Ödnis sich hier öffnet, „über“ der die Fadensonnen stehen. Aber soll man dabei nicht wirklich an die Fäden denken, die die von Wolken verdeckte Sonne an den Wolkenrändern zieht? Wir sagen von der Sonne ja auch, daß sie Wasser zieht. Und hat es nicht etwas für einen jeden Erhebendes, ist es nicht eine für einen jeden zugängliche Erfahrung von Erhabenheit, die „der Himmel Trauerspiel“ vermittelt? Es fällt auf, daß „Fadensonnen“ eine Pluralform ist – ein in die anonyme Weite unendlicher Welten weisender Plural. Auf seinem Hintergrunde profiliert sich die Einzahl, die Einmaligkeit des Gedankens, der sich erhebt. Denn das ist es offenbar, was das Gedicht sagt: die ungeheuren Räume, die sich bei solchem Himmelsschauspiel öffnen, können die trostlose Menschenlandschaft vergessen machen, in der wahrlich nichts Erhabenes mehr sichtbar ist. So ist es ein baumhoher Gedanke, der sich da erhebt, ein Gedanke, der nicht in der Ödnis der Menschenwelt vergeblich suchend herumirrt, sondern der den Maßen solchen Schauspiels gewachsen ist und wie ein Baum in den Himmel greift. Er greift den Lichtton. Der Lichtton, der so gegriffen wird, ist aber ein Lied-Ton. Der baumhohe Gedanke, der solchen Licht-Ton, wie ihn das Schauspiel der Fadensonnen rings verschwendet, „sich greift“, hat Maße, die alle menschlichen Maße und Nöte überwachsen, wie ein ins Riesige wachsender Baum.
So ist die eigentliche Aussage des Gedichtes vorbereitet:
Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.
Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019
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