Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „IM SCHLANGENWAGEN, an…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „IM SCHLANGENWAGEN, an…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

IM SCHLANGENWAGEN, an
der weißen Zypresse vorbei,
durch die Flut
fuhren sie dich.

Doch in dir, von
Geburt,
schäumte die andre Quelle,
am schwarzen
Strahl Gedächtnis
klommst du zutag.

 

Das Gedicht zerfällt in zwei Sätze.

Sie bilden zwei Strophen. Wieder ist es, wie so oft in diesen kurzen Gedichten, eine fast epigrammatische Antithese, die mit einem „Doch“ einsetzt und beide Strophen zur Einheit verbindet.
Die erste Strophe beschreibt die Lebenstrunkenheit. Denn was hier mit dem Schlangenwagen evoziert wird, ist Dionysos, der Gott des Rausches. Es ist die Lebensfahrt, die so beginnt, in der Hingabe an alles, was die Sinne bieten. Die weiße Zypresse – immerhin steht sie, dank der Verstrennung, für sich da. Wenn die Lebensfahrt – zunächst – an der weißen Zypresse vorbeiführt, so heißt das vielleicht, daß die Trunkenheit des Lebens auch den Tod noch umfärbt. Das schwarze Todessymbol der Zypresse ragt wie eine weiße leuchtende Säule, an der man, ganz von Leben umspült, sorglos vorbeikommt. Die Fahrt führt durch die Flut, die unaufhörlich anbrandenden Wogen sinnlicher Erfahrung. Wer der Führer ist, der durch diese Flut führt, bleibt unbestimmt. Der Plural „sie“ macht immerhin eines klar: daß es nicht „ich“ bin, was die Fahrt lenkt. Der Nominativ „ich“ kommt in dem ganzen Gedicht nicht vor – obwohl ganz gewiß von niemand anderem die Rede ist als von mir, von jedem Ich. Aber zunächst ist ein jeder eben nicht Ich, sondern ein Dahingetragenes, und die Erfahrung, die das Gedicht beschreibt, ist genau diese, wie „Ich“ ich wird. Daher der Nachdruck, der in diesem Gedicht auf dem Ein-Wortvers „Geburt“ liegt, diesem ersten Beginn der Ich-Werdung.
Mit der adversativen Wendung „Doch“ wird die Wendung nach innen genommen. Was geschildert wird, ist, wie das durch die Flut des Lebens dahingetragene sinnliche Wesen sich zum menschlichen Ich heraufbildet. Das ist wie eine Gegenbewegung, die gegen die Überflutung durch die Sinne einsetzt, und daher ist die Rede von der „andre[n] Quelle“. Sie „schäumt“ von Geburt an. Das will sagen, daß es auch, wo wir es nicht wissen, aus dieser unergründlichen Quelle schäumt, und zwar unaufhörlich. Aber sie ist wahrhaft als Quelle erfahren und nicht wie die glitzernden und schimmernden Wellen der sinnlichen Erfahrung als eine blendende Flut, die einen rings umgibt. Diese „andere Quelle“ ist vielmehr etwas, das aus dem Dunkel kommt. Sie heißt ein „schwarzer Strahl“. Erstaunlich, wie die sinnliche Kraft dieser Verse es dem Dichter erlaubt, ein so stark begrifflich belastetes Wort wie „Gedächtnis“ einzubringen, ohne dadurch im geringsten lehrhaft zu werden. Gedächtnis ist der schwarze ansteigende Strahl, es ist nicht die breite Flut des geistigen Besitzes, die sich angesammelt hat. Und in der Tat ist es nicht angesammeltes Wissen, sondern dieser aus dem Dunkel des Unbewußten kommende Strahl, in dem sich wIch“ bildet. »Ich“, das sich selbst anredet, klimmt an ihm zu Tage, das heißt, das Gedächtnis, das innere Wissen von sich selbst, steigt nicht einfach an wie die aus der ersten anderen Lebensquelle breit strömende Flut der Sinne, sondern „Ich“ arbeitet sich mühsam, Schritt vor Schritt, in die Helle des seiner selbst bewußten „Ich“ empor. Am Ende wird es sich selbst zum Du. Das ist der Anfang des Selbstbewußtseins. Aber das geschieht nicht, ohne daß der schwarze Strahl Gedächtnis ebenso weiter schäumt, wie die reißende Flut der Sinne weiter dahinströmt.
Man wird wohl beachten dürfen, wie das Weiß des zweiten Verses und das Schwarz des drittletzten Verses aufeinander antworten. Auch die Zypresse wird in dem schwarzen Strahl Gedächtnis ihre natürliche Farbe, ihren wahren Symbolsinn wiedergewinnen. Von sich wissen heißt: wissen, was der Tod ist.

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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