– Zu Paul Celans Gedicht „IN DEN FLÜSSEN nördlich der Zukunft…“. –
PAUL CELAN
IN DEN FLÜSSEN nördlich der Zukunft
werf ich das Netz aus,1 das du
zögernd beschwerst
mit von Steinen geschriebenen
Schatten.
nicht nur genau lesen, man muß es so auch hören. Celans meist sehr kurzzeilige Gedichte nehmen es damit sehr genau. Bei breiter strömenden Versen, wie etwa den Duineser Elegien, die ohnehin viel technischen Zeilenbruch, insbesondere in den der Erstauflage folgenden Drucken, nicht vermeiden konnten, sind nur sehr deutliche Verszäsuren von so siegelhafter Prägnanz wie die Schlußzeilen dieser Gedichte Celans. In unserem Falle ist der Schlußvers ein einziges Wort: „Schatten“ – ein Wort, das so schwer sich senkt wie das, was es bedeutet. Indessen, es ist ein Schluß, und wie jeder Schluß rückt er die Maße des Ganzen fest. Auch der evozierten Bedeutung nach: „Schatten fallen“ heißt immer auch: sie werden geworfen. Wo Schatten fallen und verdunkeln, ist immer auch Licht mit da und das Lichte, und wirklich, es wird hell in diesem Gedicht. Was es evoziert, ist Klarheit und Kälte eisnahen Gewässers. Die Sonne durchscheint das Wasser bis auf den Grund. Die Steine, die das Netz beschweren, sind es, die die Schatten werfen. Das ist alles höchst sinnlich und konkret: Ein Fischer wirft das Netz aus, und ein anderer hilft ihm dabei, indem er das Netz beschwert. Wer bin ich? Und wer bist du?
Das Ich ist ein Fischer, der das Netz auswirft. Auswerfen des Netzes ist eine Handlung reiner Erwartung. Wer das Netz ausgeworfen hat, hat alles getan, was er tun konnte, und muß warten, ob etwas sich fängt. Es wird nicht gesagt, wann diese Handlung vollzogen wird. Es ist eine Art gnomischer Gegenwart, d.h., es geschieht immer wieder. Das wird durch das pluralische „in den Flüssen“ unterstrichen, das nicht wie das naheliegende „Gewässern“ eine unbestimmte Ortsangabe bedeutet, sondern sehr bestimmte Plätze, die man aufsucht, weil sie Fang verheißen. Diese Plätze liegen alle „nördlich der Zukunft“, d.h. noch weiter draußen, außerhalb der gewohnten Wege und Fahrten, dort, wo keiner sonst fischt. Es ist offenbar eine Aussage über das Ich, nämlich daß es ein Ich solcher besonderer Erwartung ist. Es erwartet das Zukünftige dort, wo keine Erwartung der Erfahrung hinreicht. Aber ist nicht jedes Ich ein Ich solcher Erwartung? Ist nicht in jedem Ich etwas, das in eine Zukunft ausgreift, die hinausliegt über das, womit man zukünftig rechnen kann? Das Ich, das so anders ist als die anderen, ist gerade das Ich eines jeden.
Nun beruht der kunstvoll gespannte Bogen dieses Gedichtes, das ein einziger schlichter Satz ist, darauf, daß das Ich nicht alleine ist und nicht allein den Fischfang durchführen kann. Es bedarf des Du. Betont steht das Du am Ende der zweiten Zeile, wie angehalten, wie eine unbestimmte Frage, die sich erst durch den Fortgang des dritten Verses oder besser der zweiten Hälfte des Gedichts mit ihrem Sinn erfüllt. Hier wird ein Tun sehr genau beschrieben. Zögernd beschweren meint nicht ein inneres Zögern der Unentschiedenheit oder des Zweifels, das das Du, wer es auch sei, die Zuversicht des fischenden Ich nicht ganz teilen läßt. Es wäre völlig mißverstanden, wenn man in das Zögern diesen Sinn legen würde. Was beschrieben wird, ist vielmehr das Beschweren des Netzes. Wer das Netz beschwert, darf nicht zuviel tun und nicht zuwenig, nicht zuviel, damit das Netz nicht absinkt, und nicht zuwenig, damit es nicht obenhin treibt. Das Netz muß, wie der Fischer sagt, „stehen“. Von hier bestimmt sich das Zögern des Beschwerens. Wer das Netz beschwert, der muß vorsichtig Stein auf Stein hinzutun wie auf eine Waagschale, in der man das Gewicht von etwas wägt. Denn es kommt darauf an, den richtigen Augenblick des Gleichgewichts zu treffen. Wer das beim Beschweren des Netzes tut, hilft, daß der Fang überhaupt möglich wird.
Die sinnliche Konkretion des Vorgangs ist aber kunstvoll ins Imaginäre und Spirituelle gehoben. Schon die erste Zeile nötigte durch die sinnlich uneinlösbare Fügung „nördlich der Zukunft“, die Aussage in ihrer Allgemeinheit zu verstehen. Die gleiche Funktion übt in der zweiten Hälfte die nicht minder uneinlösbare Fügung einer Beschwerung mit Schatten aus, und gar mit von Steinen geschriebenen Schatten. Wie dort der Mensch als das Wesen der Erwartung in der sinnlichen Gebärde des Fischers sichtbar wurde, so bestimmt sich hier, was Erwartung ist und möglich macht, näher. Denn offenbar sind hier zwei Handlungen in ihrem Zusammenspiel gezeigt: das Auswerfen und das Beschweren des Netzes. Zwischen ihnen ist eine geheime Spannung, und doch sind sie das einheitliche Tun, das allein Fang verheißt. Gerade der geheime Gegensatz zwischen Werfen und Beschweren ist es, auf den es ankommt. Man würde mißverstehen, wenn man die Beschwerung als eine Hemmung des reinen Wurfs in die Zukunft verstünde, als eine Trübung der reinen Erwartung durch die beschwerende Einsicht in das, was nach unten zieht. Der Sinn der Spannung ist vielmehr, daß nur durch sie die Leere des Erwartens und die Eitelkeit des Hoffens Bestimmtheit von Zukunft gewinnt. Die kühne Metapher der „geschriebenen Schatten“ läßt nicht nur das Imaginäre und Spirituelle der ganzen Handlung hervortreten, sondern bezeugt so etwas wie Sinn. Was geschrieben ist, läßt sich entziffern. Es bedeutet etwas und ist nicht einfach der dumpfe Widerstand des Schweren. Soll man übertragen: Wie der Akt des Fischers nur aussichtsreich ist durch Zusammenspiel von Wurf und Beschwerung, so ist auch alle Zukünftigkeit, in die das menschliche Leben hineinlebt, keine bloße unbestimmte Offenheit für das Kommende, sondern bestimmt sich durch das, was war und wie es aufbewahrt ist wie in einem von Erfahrungen und Enttäuschungen geschriebenen Buch.
Aber wer ist dieses Du? Es klingt fast, als wisse da einer: wieviel er dem Ich aufladen kann, wieviel das hoffende Herz des Menschen erträgt, ohne daß es die Hoffnung sinken läßt. Ein unbestimmtes Du, das vielleicht in dem Du des Nächsten, vielleicht in dem Du des Fernsten seine Konkretion findet, oder gar in dem Du, das ich mir selbst bin, wenn ich meiner eigenen Zuversichtlichkeit die Grenzen des Wirklichen fühlbar mache. In jedem Fall ist das Zusammenspiel von Ich und Du, das den Fang verheißt, das, was in diesen Versen eigentlich präsent ist und dem Ich seine Wirklichkeit verleiht.
Was ist es aber nun, was da Fang heißen soll? Der flutende Austausch zwischen dem Dichter und Ich erlaubt, es in einem besonderen wie in einem allgemeineren Sinne zu verstehen, oder besser: im besonderen den allgemeinen Sinn zu erkennen. Der Fang, der glücken soll, mag das Gedicht selbst sein. Der Dichter mag sich selbst darin meinen, daß er das Netz dort auswirft, wo Klarheit und Unberührtheit die Gewässer der Sprache ungetrübt findet und ihn erwarten läßt, daß das über alles Herkömmliche Hinausgehende seiner Kühnheit ihm einen Fang gewährt. Daß der Dichter sich selbst meint, wenn er in dieser Weise sich als ein fischendes Ich darstellt, läßt sich auch durch den Zusammenhang stützen – nicht nur den großen weltliterarischen Zusammenhang, der den dichterischen Fund gern aus dunkler Tiefe, eines Brunnens oder eines Sees, hervorholen läßt. Man denke an die bekannten Gedichte Stefan Georges: „Der Spiegel“ und „,Das Wort“. Auch der besondere Zusammenhang der vorliegenden Gedichtfolge läßt das wahre Gedicht, das kein „Meingedicht“, kein täuschender Schwur der Angeblichkeit ist, gegenüber dem eitlen Worttreiben, in dem die Sprache hin- und hergezerrt wird, zur Abhebung kommen. So ist es durchaus berechtigt, auch in unserem Gedicht das ganze Geschehen vom Dichter und seiner Erwartung des Wortes, das ihm gelingt, her zu verstehen. Und doch ist das, was hier beschrieben wird, so, daß es weit über das Besondere des Dichters hinausgeht. Und das nicht nur hier. Es ist eine der großen Grundmetaphern der gesamten Neuzeit, daß das Tun des Dichters wie ein Exempel des Menschseins selber ist. Das Wort, das dem Dichter gelingt und dem er Bestand verleiht, ist nicht sein spezielles artistisches Gelingen, sondern ein Inbegriff menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt, der dem Leser erlaubt, das Ich zu sein, das der Dichter ist. In unseren Versen sind Ich und Du in einer geheimen Solidarität des Gelingens beschrieben, die nicht nur die des Dichters und seines Genius oder Gottes ist. Da ist nicht ein beschwerendes Wesen, Mensch oder Gott, das da Wortschatten auflädt, die die Freiheit beengen. In diesem Gedicht, das ein eigenes Gelingen dichterischer Existenz meinen mag, kommt in Wahrheit zur Aussage, wer Ich ist, indem deutlich wird, wer Du ist. Wenn des Dichters Verse uns dieses Zueinander präsent machen, dann rückt ein jeder von uns in eben den Bezug ein, den der Dichter als den seinen aussagt. Wer bin ich und wer bist Du? Das ist eine Frage, auf die das Gedicht seine eigene Antwort dadurch gibt, daß es die Frage offenhält.
O. Pöggeler schlägt vor, das „nördlich der Zukunft“ als eine Todeslandschaft zu verstehen, da von dem „ungreifbaren Abgrund“ des Todes her jede auf uns zukommende Zukunft schon überholt sei – eine Radikalisierung der menschlichen Grunderfahrung, die es nötig machen würde, das Du als den Todesgedanken zu verstehen, der allem Dasein sein Gewicht gibt. Es ist wahr, daß so „nördlich der Zukunft“ präziser verstanden würde: dort, wo keine Zukunft mehr ist – und das hieße: auch keine Erwartung. Und dennoch: Fischzug. Es lohnt, darüber nachzudenken. Ist es das Einverständnis mit dem Tode, das neuen Fang verheißt?
Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019
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