– Zu Paul Celans Gedicht „IN DIE RILLEN…“. –
PAUL CELAN
IN DIE RILLEN
der Himmelsmünze1 im Türspalt
preßt du das Wort,
dem ich entrollte,
als ich mit betenden Fäusten
das Dach über uns
abtrug, Schiefer um Schiefer,
Silbe um Silbe, dem Kupfer-
schimmer der Bettel-
schale dort oben
zulieb.
In den Ausgaben liest man statt „Himmelsmünze“ „Himmelssäure“. Dies wird zu berichtigen sein. Aber die Frage bleibt, wie die Lesart der Ausgaben zu verstehen war. Denn ohne Zweifel hat man es in gewissem Umfang verstehen können. Dafür spricht nicht nur das Verhalten des Dichters als solches, der – nach Berichten – beim Bemerken des Druckfehlers höchst gleichmütig blieb. Die Sinnkohärenz des Ganzen ist im ganzen stark genug, damit Einzelteile austauschbar sein können. Das hat seinerzeit schon Walter Benjamin unter dem Begriff „das Gedichtete“ beschrieben. Wäre es nicht so, dann wäre alle Auslegung, die mit unsicheren Vermutungen arbeiten muß, ohne Wert. Wir erörtern die beiden Lesarten nebeneinander, um eine jede von beiden im Ganzen des Gedichtes zu orten. –
Zwischen der ätzenden Schärfe der Himmelssäure, von der wir offenbar durch eine niemals sich öffnende Tür geschieden sind und die für uns gewiß auch unerträglich wäre, und der kupfernen Bettelschale „dort oben“ spannt sich der Bogen eines einzigen Satzes. Eine Theologie des sich verweigernden Himmels liegt zugrunde. Doch die Tür ist undicht. Die Himmelssäure, gegen die wir durch die Tür abgedichtet sind, hat Rillen in den Türspalt geätzt, und so kommt etwas hindurch. Was hindurchkommt, ist das Wort. Offenbar wird die Metapher der ätzenden Säure deshalb vom Himmel gesagt, weil er sich verweigert. Als der sich verweigernde hat er seine verzehrende Schärfe – und doch sucht man jeden Tropfen dessen, was da zu uns gelangt – eben das Wort.
Doch nun hat man zur Kenntnis zu nehmen, daß es im Text nicht „Himmelssäure“, sondern „Himmelsmünze“ heißt. Damit ist die Bildvorstellung eine gänzlich andere. Der Genetiv der „Himmelsmünze“ ist auf „Rillen“ natürlich nicht mehr kausativ bezogen, sondern als ein subjektiver Genetiv zu verstehen: Die Münze hat Rillen. Wenn man fragt: wie kommt die Münze in den Türspalt?, so hat man keine Antwort. Genug, daß sie darinsteckt. Man stellt sich vor, daß sie dazu dienen sollte, die Tür zu öffnen, aber diese öffnet sich nicht, gibt keinen wirklichen Eintritt. Statt dessen dringt durch die Tür etwas heraus. Nun ist es offenbar so, daß die Rillen der Münze die Tür undicht machen. Worauf es anzukommen scheint, das ist, daß nicht die Münze selbst, die legitime Einlaßgebühr für den Himmel (oder die Ausgangs- und Durchlaßgebühr aus dem Himmel?), die kleine Durchlässigkeit schafft, sondern etwas, das an ihr ist und das zwar auf ein blankes, neugeprägtes Geldstück weist, aber nichts mit seinem Münzwert zu tun hat. Das ist recht dunkel. Handelt es sich um ein raffiniertes Symbol für Gnade? Jedenfalls hatte der Versuch, die Einlaßgebühr zu entrichten, keinen Erfolg. Was aus diesem sich verweigernden Himmel allein bei uns ist, ist das Wort. Ist das so gemeint? so lutherisch?
Gewiß ist freilich, daß die Himmelsmünze der Bettelschale dort oben entspricht. Beides hat auf ein unerreichbar Jenseitiges Bezug. In der Bettelschale werden Münzen gesammelt (Himmelsmünzen? Münzen für den Himmel?), und zu diesem ärmlichen Schatz scheint der hinzustreben, der seine Bestimmung aus dem „Wort“ herleitet, dem einzigen, das aus dem ganzen Reichtum des Himmels bei uns ist.
In der Tat, es sind bittre Zeilen, welche der beiden Lesarten man auch zugrunde legt. Das jedenfalls stehe fest, daß nichts aus jenem Himmel verlautet als das, was du – wieder dieses unbekannte Du – durch die Undichte der versperrenden Tür preßt. Es ist keine strömende Heilsbotschaft, sondern ein mühsam erpreßtes Wort, und obendrein scheint es wie eine seltsam verkehrte Mühe. Denn offenbar sind nicht wir es, die sich mühen, da hineinzukommen oder da herauszukommen, sondern das Wort soll offenbar heraus. So will es das Du. Meint das, daß wir gegen die Wahrheit versperrt sind und die Wahrheit uns gar nicht verweigert wird? Halten wir sozusagen die Tür zu oder finden den Schlüssel nicht, weil wir an die Gültigkeit unserer Münze glauben? Ich stellte alle diese Fragen in dem Bewußtsein, daß jedenfalls die Theologie des Deus absconditus anklingt.
Eine weitere Schwierigkeit: Wenn das Wort heraus und da ist, bin ich es, der ihm „entrollt“. Wer „ich“? Bin „ich“ aus dem Wort? Bin ich das Wort, wie alle Kreatur ein Schöpfungswort ist? Ist es das Wort, aus dem ich komme, zu dem ich nun und immerzu zurückstrebe? Das gäbe auch bei der äußersten Gottesferne Sinn. Denn unter dem Dach der Sprache leben wir alle. Vielleicht gilt auch von uns allen, daß ein jeder von uns das Dach, das uns allen gemeinsamen Schutz gewährt, weil es den Durchlaß und Ausblick nimmt, gleichwohl abtragen möchte, um nach oben, ins Freie zu blicken. Vor allen anderen ist es gewiß der Dichter, der hier von sich sagt, was vielleicht für uns alle gilt. Die Decke der Worte ist wie ein Dach über uns. Sie versichern das Vertraute. Indem sie aber uns ganz mit Vertrautheit umschließen, verhindern sie jeden Ausblick in das Unvertraute. Der Dichter – oder wir alle? – sucht Silbe um Silbe, das heißt mühsam und unermüdlich, abzutragen, was verdeckt. Offenbar entspricht dieses Abtragen „Silbe um Silbe“ dem, was im vorigen Gedicht als das Abtasten der Namen und das Heranwachen begegnete. Hier wie dort scheint eine verzweifelte Anstrengung dessen, der ins Helle, nach oben strebt, beschrieben.
Aber gelangt man je zum Ziele? Die Antwort des Gedichtes ist niederschmetternd. Was hier durch die Arbeit der betenden Fäuste allenfalls erreicht wurde, wäre in Wahrheit nichts als die kupferne Bettelschale mit ihrem jenseitigen Schimmer. Daß eine ganz gewöhnliche Bettelschale auf einer Pariser Straße den Dichter inspiriert hat, wie mir Bollack erzählt hat, ändert nichts daran, daß hier von einer „Bettelschale dort oben“ die Rede ist und damit eine bestimmte Transposition von uns verlangt wird. Das Gedicht versetzt die Bettelschale in den Zusammenhang von Heiligkeit und Heilsverlangen. Freilich, mit welcher Tönung? Der Erwartung? Kaum. Eher so: wir reichen nicht weiter mit unserer Vorstellung von Heil als noch gerade an die Bettelschale, in der die Opfergaben gesammelt werden – im Kirchenraum das profanste aller Geräte. Oder auch: wir reichen nur bis an die dürftige Mildtätigkeit einer „Sammlung“, in der weder Wärme noch Liebe ist. Jedenfalls ist es nicht einmal etwas von wahrhaft Heiligem, das auf mich wartet, wenn ich das schützende Dach abzutragen suche. Es ist kaum der Abglanz des Heiligen. Oder ist es überhaupt nichts Heiliges, sondern etwas, das vielleicht wie Heiliges, aber in falschem Schimmer glänzt? Jedenfalls ist der verzweifelt sich Anstrengende voll von Bitterkeit und sich der Enttäuschung bewußt, die auf ihn wartet.
Doch lassen wir einmal alle Theologie beiseite und prüfen die einzelnen Wendungen. Was heißt es, daß „ich“ dem Wort entrollte? Bei der Wendung „entrollte“ und im Abtragen „Silbe um Silbe“ denkt man zunächst an die Tätigkeit des Entrollens einer Schriftrolle und des Entzifferns eines Urtextes, wie er etwa das dichterische Wort sein könnte. Hier ist aber das Wort „entrollte“ intransitiv gebraucht. „Ich“ entrollte dem von oben durchsickernden Wort, diesem geringsten Tropfen einer jenseitigen himmlischen Substanz. Das klingt paradox. Nicht „ich“ bin es, der Silbe um Silbe das Wort – wie eine Schriftrolle – entrollt, sondern das Wort ist es, dem ich selber entrolle. Es ist offenbar so, daß der Dichter selber aus dem Worte kommt und daß seine ganze Anstrengung darauf geht, dies Wort wieder zu erreichen, aus dem er kommt und das er als das Seine weiß. Kein Zweifel, daß dies atemlos verzweifelte Suchen nach dem Wort über all den Silben und Wörtern dem gilt, was das Wort – das wahre Wort – ist, – das Wort, in dem der, der das Wort sucht, selber darin ist. Das scheint in der Tat so, daß es der Dichter ist, der hier von sich „ich“ sagt und der ganz im Wort lebt. Die Aufgabe des Dichters besteht eben darin, daß er nach dem wahren Wort, das nicht das übliche schützende Dach aller Tage ist, sondern das von jenseits her ist, wie nach seiner wahren Heimat strebt und deshalb Silbe um Silbe das Gefüge der alltäglichen Worte abtragen muß. Er muß gegen die verbrauchte, gewöhnliche, verdeckende und alles einebnende Funktion der Sprache ankämpfen, um den Blick in den Schimmer dort oben freizulegen. Das ist Dichtung.
Aber es ist noch etwas anderes darin. Es heißt ja, der Dichter entrollte dem Wort, als er in seinem Dichten, Wort um Wort, nach seiner Herkunft aus dem wahren Wort aufschaut, und kann doch von dem Heiligen nie mehr gewahren als seinen profansten, ärmlichsten Schimmer, vielleicht sogar : seinen falschen, durch das Betteln entstellten Glanz. Damit gewinnt das Entrollen eine noch andere, negative Tönung: mit dem Abtragen des Daches, dem Suchen der rechten Worte („als ich abtrug“) kehrt er nicht heim, sondern verliert sich der Dichter gerade. Er „entrollt“ dem Worte, das er eigentlich ist, wird hoffnungslos von ihm geschieden und ist vergeblich – mit bebenden Fäusten – bemüht, zu ihm zurückzugelangen.
Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben (G. Eich).
Und wieder fragt man sich: Ist es wirklich nur der Dichter, dem dies widerfährt, daß das eigentliche Wort unerreichbar bleibt, obwohl es sein eigenstes ist? Oder ist es vielmehr unser aller Erfahrung, von dem eigentlichen Wort und seiner Wahrheit geschieden zu sein gerade dadurch, daß man Worte macht und daß man „mit bebenden Fäusten“ auf etwas hin tätig ist, das man haben möchte, das nicht erreichbar ist, und das am Ende gar nicht einmal so ist, daß es die Mühe lohnt?
Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019
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