Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „MIT DEN VERFOLGTEN in spätem, un-…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „MIT DEN VERFOLGTEN in spätem, un-…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

MIT DEN VERFOLGTEN in spätem, un-
verschwiegenem,
strahlendem
Bund.

Das Morgen-Lot, übergoldet,1
heftet sich dir an die mit-
schwörende, mit-
schürfende, mit-
schreibende
Ferse.

 

Die erste Strophe spricht von den Verfolgten.

Das läßt sich bei diesem Dichter und in diesen Jahren kaum anders als in bezug auf die Judenverfolgungen Hitlers verstehen, und daß es ein Bekenntnis des Dichters ist, das hier „mit-schreibend“ zum Gedicht wurde, scheint deutlicher denn je. Immerhin, es wurde zum Gedicht. Auch wenn spätere Generationen diese Verfolgungen je vergessen sollten, die irgendwann irgendwo waren, wird das Gedicht seinen genauen Ort des Wissens und Mitwissens bewahren. Denn dieser sein eigener Ort läßt sich nicht vergessen. Er ist die menschliche Grundsituation als solche, daß da Verfolgte sind, zu denen man selber nicht mehr ganz gehört (in „spätem“ Bund), zu denen man sich jedoch ganz bekennt („un-verschwiegen“), so ganz und gar, daß der Bund mit ihnen „strahlend“ heißen kann, und das meint nicht nur rückhaltlos und überzeugend, sondern wahre Solidarität darstellend und ausstrahlend – wie Licht.
Von Licht spricht auch die zweite Strophe, wenn auch in seltsam verstellter Form. Unzweifelhaft soll man an Morgenrot denken, wenn es im Gedicht „Morgen-Lot“ heißt. Und warum heißt dies Morgen-Lot „übergoldet“ (und nicht golden)? Morgen-Lot meint offenkundig, daß das Morgenrot, mit dem stets Tag und Zukunft anheben, nur dann wahre Zukunft beginnt, wenn es wie ein Lot erfahren ist, das heißt als ein senkrechtes, untrügliches Maß für das Rechte. Dieses Lot wiegt schwer. Es heißt übergoldet, das will sagen, daß unter dem goldenen Schimmer von Tag und Zukunft, die der Morgen verheißt, das Schwere da ist, das Gewicht der Erfahrung und der Bund mit den Verfolgten, und dieses Gewicht ist selbst etwas, das einen verfolgt, einen zum Verfolgten werden läßt.
Das liegt unzweifelhaft in der Wendung der zweiten Strophe „sich an die Ferse heften“. Dies Morgen-Lot ist wie ein Verfolger. Was meint das? Ist es ein Vorwurf gegen einen selbst, daß man überhaupt den Morgen erlebt und, statt mitzusterben, Zukunft hat? Aber von Sterben steht nichts da, wenn man es auch gewiß nur allzu nahe weiß, und es wäre ja auch kaum angemessen, in jedem Falle im Überleben ein Unrecht zu sehen. Wohl aber könnte es eine ständige Mahnung sein, die einen verfolgt und die einen heißt, die Verfolgten nicht zu vergessen und für sie und die Zukunft des Menschen einzustehen.
Der Fortgang des Gedichts macht dies letztere zum beherrschenden Sinn. Denn von der Ferse, an die sich das Morgen-Lot heftet und die von dem Morgen-Lot als zur Flucht gewandte Ferse ständig verfolgt wird, heißt es, sie sei „mit-schwörend, mit-schürfend, mit-schreibend“. Eine genaue Klimax innerhalb einer einheitlichen Bedeutungsrichtung: Bezeugen, Aufdecken, Bestätigen. Aber die Frage ist: mit wem sollst „du“ mitschwören (statt davonzulaufen)? Gewiß meine es im letzten Bezug: mit den Verfolgten und ihren Leiden, zu denen sich das Du unverschwiegen bekennt. Das Schicksal ist wie ein Schwur und eine unüberhörbare Kunde, und so heißt „mit-schwörend“ nicht so sehr Bezeugen, daß es so war, es ist ja das Morgen-Lot, das Maß für die Zukunft, das sich an die Ferse heftet. Es meint also den Schwur auf die Zukunft: daß es nie wieder sein soll.
Nicht minder beziehungsvoll ist offenbar das zweite Attribut der Verse. Schürfen muß man da, wo etwas nicht offenliegt, sondern aufgedeckt oder aus viel Unedlem zur reinen Gewinnung aufgearbeitet werden soll. Das wäre etwa der bleibende Gewinn aus erlittenem Unrecht und Leid. Wenn nun das dritte Glied dieser Klimax das „mitschreibend“ ist, so wird jeder Leser vor allem an den Dichter denken, der sich zu dem Bund mit den Verfolgten bekannt und sich selbst als einen Verfolgten bekennt, der von seinem Bund mit ihnen nicht loskommen kann und darf. Die Ferse des Schreibenden möchten enteilen, in ein Reich freundlicherer Imagination dichterischer Welt vielleicht und er wird wie von einem Bleigewicht an seiner Aufgabe festgehalten, schreibend den Bund mit den Verfolgten zu bezeugen. Das könnte gemeint sein. So wäre die Klimax verständlich.
Aber einige Fragen bleiben offen. Zunächst: kann man so die Steigerung dieser Klimax, die es notwendigerweise geben muß, verstehen? Dann müßte „mit-schreiben“ gegenüber dem Schwören und Schürfen die am meisten unmittelbare Bezeugung und Fixierung der Botschaft meinen. Aber dem steht entgegen, daß die dreifache Worttrennung, die dreimal das „mit“ für sich stellt, doch in allen drei Fällen das gleiche meinen muß. Es gibt aber nicht ebenso ein Mitschwören oder Mitschürfen, wie etwa „Mitschreiben“ das unmittelbare Festhalten des genauen Wortlauts heißen kann. Man wird also die Klimax anders artikulieren müssen. Der Sprecher will so, wie er mit den anderen schwört und schürft, auch mit ihnen schreiben. Wenn man sich sträubt, die offene Steigerung, die im Bekenntnis zum Schreiben, im Bekenntnis des Dichtens liegen müßte, als den vollen Sinn des Ganzen anzuerkennen, so hilft vielleicht folgende Erwägung weiter: Mit wem sollst „du“ eigentlich schwören und schreiben? Mit den Verfolgten? Gewiß, das kann, wie oben gezeigt, den Sinn haben, daß deren Leiden selber wie ein Schwur war und wie eine ein für alle Mal fixierte Botschaft für alle. Aber nun frage ich: Muß man das alles ergänzen? Steht es nicht ganz unmittelbar im Text selber, nämlich als das Morgen-Lot? Es verkündet ja wirklich den Tag, und wenn es ihn allen verkündet und wenn es der Tag des Rechtes sein soll, des Lot-Rechten, der das geschehene Unrecht allen kündet – ist es dann nicht sehr genau gedacht, daß dieses Morgenrot – Morgen-Lot es ist, das sich dir an die Ferse heftet, und daß du mit ihm, mit seiner Kunde und seiner Verpflichtung, die es unabweisbar allen auferlegt hat, mit-schwörst, -schürfst, -schreibst? Dann aber ist das Schreiben des Dichters in der Tat ein Höchstes, auf das die sich steigernde Rede zielt, weil es nicht nur das Tun des Dichters meint: es ist ein Mit-tun mit dem, was wir alle zu tun haben, wenn Zukunft sein soll. Wer bin ich, und wer bist Du?

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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