Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „MIT ERDWÄRTS GESUNGENEN MASTEN…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „MIT ERDWÄRTS GESUNGENEN MASTEN…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

MIT ERDWÄRTS GESUNGENEN MASTEN
fahren die Himmelwracks.

In dieses Holzlied
beißt du dich fest mit den Zähnen.

Du bist der liedfeste
Wimpel.

 

In drei kurzen Strophen

wird die Szene eines Schiffsbruchs geschildert, der freilich von vornherein ins Unwirkliche verkehrt ist. Es ist ein Schiffbruch am Himmel. Auch dort bedeutet Schiffbruch jedenfalls, was wir immer in der Metapher des Schiffbruchs denken und wobei wir vielleicht zu allererst an Kaspar David Friedrichs berühmtes Bild von dem Schiffbruch im Eis der Ostsee denken: das Scheitern aller Hoffnungen. Die Topik ist altbekannt. Auch hier sind es die gescheiterten Hoffnungen, die der Dichter heraufbeschwört. Aber es ist ein Schiffbruch am Himmel, ein Unglück ganz anderen Ausmaßes. Die Masten der Wracks weisen auf die Erde hin und nicht nach oben. Man denkt an das tiefsinnige Wort Celans in der Meridian-Rede „Wer auf dem Kopfe steht, sieht den Himmel als Abgrund unter sich“.
Nun ist aber deutlich: diese Masten sind „gesungen“. Es sind Lieder, aber solche, die nicht nach einem Oben und Jenseits tröstend hindeuten. Man denkt an die Umkehrung in „Tenebrae“:

Bete zu uns, Herr.

Es ist nicht länger die Hilfe des Himmels, auf die man hofft, sondern die der Erde. Die Schiffe sind alle gescheitert, aber der Gesang wird weiter gesungen. Das Lebenslied klingt noch immer, wenn die Masten jetzt auch erdwärts winken. Es ist also der Dichter, der sich an dies „Holzlied“ festklammert, „mit den Zähnen“, das heißt, mit letzter und äußerster Anstrengung, um nicht ganz unterzugehen. Was ihn über dem Wasser hält, ist das Lied. So heißt es „Holzlied“. Wie ein Untergehender die schwimmende Rettungsplanke als seinen letzten Halt nicht losläßt und sich wie mit den Zähnen daran festbeißt, so hält sich das Ich an das Lied. Und in einer vollendeten Umkehrung der gescheiterten Wirklichkeit, nach dem Schiffbruch des Himmels und aller seiner Verheißungen, nennt sich der Dichter selbst einen „Wimpel“. Er ist am Liedmast fest, das heißt, er ist von ihm nicht zu trennen. Wie der Wimpel eines untergehenden Schiffes als letztes noch aus dem Wasser ragt, so ist der Dichter mit seinem Lied als letzter eine Verkündung und eine Verheißung von Leben, ein letztes Hochhalten des Hoffens. Er heißt mit Pointierung „liedfest“. Denn nichts als das Lied ist es, das dauern wird, das nicht untergeht, an das man sich allein nach dem Schiffbruch aller himmelwärts gerichteten Hoffnungen festhält.
Auf solche Weise spricht der Dichter hier von seinem Werk. Aber wie die Metapher des „Lebenslieds“, die sich dem Leser hier aufdrängt das Leben selbst meint, so meint gewiß auch der „liedfeste Wimpel“ nicht nur den Dichter und seine Beharrlichkeit im Hoffen, sondern das letzte Hoffen aller Kreatur. Wieder ist keine Grenze zwischen dem Dichter und dem Menschen, der mit letzter Kraft sein Hoffen hochhält.

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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