Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „SCHLÄFENZANGE,…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „SCHLÄFENZANGE,…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

SCHLÄFENZANGE,
von deinem Jochbein beäugt.
Ihr Silberglanz da,
wo sie sich festbiß:
du und der Rest deines Schlafs –
bald
habt ihr Geburtstag.

 

Es ist klar,

daß es sich hier um den Anruf des Alters handelt, auf den der Dichter antwortet. Die „Schläfenzange“ meint die ergrauende Schläfe, die das herannahende Alter anzeigt, unerbittlich zugreifend wie eine Zange. Der zweite Vers „von deinem Jochbein beäugt“ drückt sich zwar fast anatomisch nüchtern aus, und doch kommt durch das „beäugt“ ein Ton beobachtender Bangigkeit hinein, und der Fortgang spricht es vollends deutlich aus, wie das Denken an den Tod an Stärke gewinnt. Denn dort heißt es: „du und der Rest deines Schlafs“ – ein kühnes Oxymoron, denn es steht ja für den Rest eines Lebens. Und was meint die zugespitzte Wendung „bald habt ihr Geburtstag“? Natürlich meint es nicht: bald werdet ihr geboren. Geburtstag haben ist nicht Geborenwerden, sondern es ist die Feier der Wiederkehr des Geborenwerdens, und gewiß bedeutet die Wiederkehr des Geburtstages für den, der an den Schläfen bereits grau wird, ein steigendes Bewußtsein von der Neigung des Lebens und der Kürze des Lebens. Gleichwohl ist in den Versen nicht eigentlich ein Klageton vernehmbar.
Man fragt sich, wer hier eigentlich angeredet wird. Redet das Ich zu sich selbst? Aber es klingt sonderbar, daß „du und der Rest deines Schlafs“ als ein „ihr“ zusammengefaßt wird, die zusammen Geburtstag haben. So muß man die Deutung eben dort ansetzen, wo es sonderbar klingt, das heißt an diesem Schluß. In ihm sind zwei Antithesen verborgen: Die eine ist die Antithese zwischen dem Du, das sich hier anredet und das sich selber die Wache hält, und dem Schlaf, wie sein Leben hier genannt wird – mit Heraklit, Pindar, Euripides, Calderon und vielen anderen. Die zweite Antithese liegt in dem Widerspruch des erwartungsvoll freudigen Geburtstagsfestes zu dem Vorgefühl von Alter und Tod. Die Erwartungsfreude wird hervorgehoben durch den Einwortvers „bald“, und sie bricht um in den Erwartungsverzicht des Sprechers, dem das Alterwerden bewußt wird. So sind es zwei Antithesen der Bitternis, in die sich hier die Erwartungsfreude verkehrt. Ein wunderbares Beispiel, wie ironische Verkehrung und die schillernde Ungreifbarkeit, die ihr eigen ist, zur dichterischen Evidenz erhoben wird. Denn was ist das für ein Geburtstag? Was wird da erinnert und gefeiert? Der Tag der Existentialfreudigkeit (wie Graf Yorck von Wartenburg einmal den Geburtstag genannt hat)? Aber von wessen Existenz? Man wird richtig hören, wenn man versteht: der sich wissenden, der sich annehmenden, der Existenz, die ihrer Endlichkeit inne ist. Reif sein ist alles.

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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