– Zu Paul Celans Gedicht „STEHEN, im Schatten…“. –
PAUL CELAN
STEHEN, im Schatten
des Wundenmals in der Luft.
Für-niemand-und-nichts-Stehn.
Unerkannt.
für dich
allein.
Mit allem, was darin Raum hat,
auch ohne
Sprache.
ein Unerkanntes, das Wundenmal in der Luft. Es ist also nichts, was man greifen kann, nichts wie Jesu Male, die selbst den ungläubigen Thomas überzeugten. Dies Wundenmal ist vielmehr „in der Luft“ – doch von der Art, daß es einen Schatten wirft. Aber offenbar nur über mich, so daß niemand anderes dessen gewahr wird, daß ich in diesem Schatten stehe. Das ist deutlich gesagt: Wer steht, steht für sich allein. Für sich allein Stehen heißt Standhalten. Zugleich liegt darin auch, daß der Standhaltende dabei nicht eigentlich auf sich besteht. Er steht nicht für etwas oder für jemanden, er steht sozusagen für sich allein, und daher „unerkannt“. Aber das ist nicht wenig. Stehen und Standhalten heißt: etwas bezeugen. Wenn von dem, der da steht, gesagt wird, „auch ohne Sprache“, so sagt es gewiß, daß er so sehr allein ist, daß er sich nicht einmal mehr mitteilt. Aber es sagt auch umgekehrt, daß dieses Ich, das zu sich Du sagt, wenn es im Schatten des unsichtbaren Wundenmals steht, sich gerade ganz und gar mitteilt, „mit allem, was darin Raum hat“, daß es sich wie Sprache mitteilt. Ja, wenn der letzte Vers das eine Wort „Sprache“ ist, so wird damit „Sprache“ nicht nur nachdrücklich betont, sondern „gesetzt“. Daher meint das „auch ohne Sprache“ noch etwas Weiteres. Noch bevor es Sprache ist, noch im stummen Stehen und Sichhalten an das, woran selbst ein Thomas nicht zweifeln kann, ist es doch schon Sprache. Worin das Zeugnis des Stehens sich ganz kundtun wird und kundtun soll, soll sein. Es soll Sprache sein. Und diese Sprache wird, wie das unerkannte Stehen, das für niemanden und nichts steht, wahrhaft Zeugnis sein, gerade weil es nichts will:
für sich allein.
Es wäre müßig, sich um die konkrete Ausfüllung dessen Gedanken zu machen, was da bezeugt wird. Das kann vieles sein. Aber das „Stehen“ ist immer ein und dasselbe für einen jeden.
Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019
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