Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „VON UNGETRÄUMTEM geätzt,…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „VON UNGETRÄUMTEM geätzt,…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

VON UNGETRÄUMTEM geätzt,
wirft das schlaflos durchwanderte Brotland
den Lebensberg auf.

Aus seiner Krume
knetest du neu unsre Namen,
die ich, ein deinem
gleichendes
Aug an jedem der Finger,1
abtaste nach
einer Stelle, durch die ich
mich zu dir heranwachen kann,
die helle
Hungerkerze im Mund.

 

Ein Maulwurf ist tätig.

Man sollte dies als durch primäre semantische Gegebenheit Evozierte nicht abstreiten. „Aufwerfen“ ist eindeutig. Daß das Subjekt dieses „Aufwerfens“ das Brotland ist, kann nicht beirren, sondern nur die erste Transposition einleiten – vom „Maulwurf“ auf die blinde Lebensbewegung hin, die wie eine schlaflose Wanderung erscheint, die durch das „Brotland“ geht. Das evoziert Brotarbeit und Broterwerb und alles, was mit dieser Lebenshypothek impliziert ist. Nun sagt das Gedicht: Was das rastlos wühlende Wesen treibt, das wir Leben nennen, ist ungeträumter Traum. Es ist also ein Versäumtes oder ein Verwehrtes, das durch seine beständige Schärfe immer weitertreibt: es ätzt. Ätzende Säure, die von dem ausgeht, das durch seine Verweigerung versehrt, ist eine der Leitmetaphern des Zyklus, den wir betrachten, und wohl des Menschenschicksals, wie es der Dichter sieht. Was durchwandert wird, ist das Brotland, das einen zwar satt zu machen verspricht, aber das Wandern führt nirgends hin. Dies Wandern und Wühlen geschieht schlaflos, d.h. es gibt keine Einkehr in Schlaf und Traum, und so wird der Hügel mehr und mehr aufgeworfen. Er wird ein ganzer Lebensberg. Aber hier klingt das so, als ob das Leben unter seinem immer lastenden Gewicht begraben wird. Es zieht seine Spur, so wie der Maulwurf seine Gänge durch sein Aufwerfen der Hügel erkennen läßt.
In der Tat, der Lebensberg sind wir, mit dem Ganzen unserer sich auftürmenden Erfahrung. Das zeigt die Fortsetzung:

Aus seiner Krume knetest du neu unsre Namen.

Möglich, daß hier bestimmte biblische oder jüdisch-mystische Anspielungen darinstecken. Aber auch wenn man sie nicht kennt, sondern nur die Verse der Genesis im Ohr hat und sie zugleich hinter sich läßt, gewinnt der Celansche Vers einen Sinn. Wenn es die schwere Fracht des Lebens ist, woraus unsre Namen neu geknetet werden, so muß es doch wohl das Ganze unserer Welterfahrung sein, was sich aus diesem Erfahrungsstoff aufbaut. Das heißt hier „unsre Namen“. Der Name ist ja das, was uns anfänglich gegeben wird und das wir noch gar nicht sind. Niemand kann in der Namensgebung wissen, was der sein wird, den er so tauft. So ist es mit allen Namen. Sie alle werden erst im Laufe des Lebens das, was sie sind: So wie wir werden, was wir sind, wird auch erst, was die Welt für uns ist. Das besagt, daß die „Namen“ beständig neu geknetet werden, oder sie sind mindestens in einer fortdauernden Formung begriffen. Von wem, wird nicht gesagt. Aber es ist ein „Du“. Die Alliteration von „neu“ und „Namen“ schließt die zweite Vershälfte so zusammen, daß auf die Mitte der Akzent eines leichten Hiats fällt, der in der nächsten Zeile nachwirkt. Da vereinzelt sich das allen Gemeinsame – unsere „Namen“ – plötzlich zu einem Ich: „die ich…“ Mit dem plötzlichen „ich“ erst gewinnt die Bewegung des Lebens ihre eigentliche heimliche Richtung, sofern das „Ich“ gegen die beständig wachsende Verdeckung anstrebt und Durchlaß ins Freie sucht. Nicht erstickt unter dem wachsenden Lebenshügel oder Lebensberg, der hier aufgeworfen wird, ist das Ich immer noch tätig und auf der Suche – nach Sehen und Helle, wenn auch blind wie der Maulwurf. Nur das Nächste kann „ich“ wahrnehmen mit tastender Hand. Aber immerhin ist es Wahrnehmen: Unser blindes Auge ist „deinem“ gleichend. Vielleicht spielt der Dichter hier auf die Maulwurfshand an, diese eigentümlich geformten hellen Flächen der Grabehand des Maulwurfs, mit der er seine Gänge gräbt, die ihn im Dunkeln weiterführen bis hin zu dem Hellen des Ausgangs. In jedem Falle besteht die Spannung zwischen dem Graben im Dunkeln und dem Streben nach dem Licht. Der Weg im Dunkeln ist aber nicht nur der Weg, der ins Helle führt, sondern ist selbst ein Weg der Helle, selbst ein Hellsein. Man beachte, wie sich in der vorletzten Zeile „die Helle“ durch das Fürsichstehen dieses Attributs förmlich ausbreitet. Es ist eine besondere Helle. Denn es ist die Tätigkeit des Ich, das hier am Werke ist, und sie ist nichts als Wachen (heranwächst). Wachen aber nimmt den Verzicht auf Schlaf und Traum auf, von dem eingangs die Rede war, und ebenso ist in „Hungerkerze“ Hungern gemeint, d.h. das Verschmähen des sättigenden Brotes, das den Lebensberg beschwert. So ist dies Beharren auf der Helle und dem Drang nach Helle wie eine Leistung des Fastens. Das Schlußbild von der „Hungerkerze im Mund“ legt das durch ein bestimmtes religiöses Ritual aus, und damit wird das „Du“, das Gesuchte, als kultisch Verehrtes gekennzeichnet. Wie mir Tschizewsky erzählt hat, gibt es auf dem Balkan einen Brauch der Hungerkerze, der das fromme Fasten vor allen sichtbar macht (an der Kirchentür) – eine Art Gebets- und Bittfasten, das die Eltern, die auf die Rückkehr des Sohnes hoffen, auf sich nehmen. Analog ist es ein „Fasten“, das hier das Streben nach der Helle begleitet. Aber das Besondere dieses Fastens ist offenbar, daß das ins Helle Strebende die Hungerkerze im Munde hält. Das soll doch wohl heißen, daß es sich nicht um Fasten handelt, sondern daß das Ich sich all die reichlich sättigenden Worte verbietet, mit denen man sich im Leben abfindet – um selber für das wahre, erleuchtete Wort fähig zu werden. So wird das Ritual sprechend für eine Glaubensleistung ganz anderer Art. Es gibt offenbar kein Ritual der Hungerkerze im Mund! Mit dieser paradoxen Verbindung bricht das Gedicht vielmehr den evozierten Fastenbrauch um. Es ist ein anderes Fasten, und das, wofür es geschieht, ist auch ein anderes. Wie mir Milojcic erzählt, kennt er den Brauch der Hungerkerze anders: wenn jemand verarmt war und ihm seine frühere gesellschaftliche Stellung verbot, betteln zu gehen, legte er sich verhüllt mit der „Hungerkerze“ an die Kirchentür, um ungesehen und ohne zu sehen Gaben zu empfangen. Danach wäre es nicht freiwilliges Fasten, sondern die Not des Hungerns selber, was durch die Kerze angezeigt wird. In jedem Fall heißt es „im Mund“ – es geht um das wahre Wort, nach dem ich hungere oder das ich herbeihungere. Das kann man, meine ich, auch ohne folkloristische Information erraten, wenn man nur über die Spannung zwischen ritueller Hungerkerze und dem „im Mund“ nachdenkt. Spielt die Hungerkerze wie alle Kerzen obendrein darauf an, daß unserem hungernden Streben in die Helle eine Frist gesetzt ist? Vielleicht. Jedenfalls aber: man läßt nicht ab, nach der Helle zu streben, indem man die „Namen“ abtastet. Die Bewegung des Gedichts ist deutlich eine zweigeteilte: Die eine Bewegung vollführen alle, indem ungeträumte Träume sie treiben und eine immer längere Lebensspur zeichnen und einen immer schwerer lastenden Berg aufwerfen. Die andere Bewegung ist die unterirdische des „Ich“, das wie ein blinder Maulwurf ins Helle drängt. Man denkt an Jacob Burckhardt:

Der Geist ist ein Wühler.

Folgen wir der Transpositionsbewegung, in die wir gerieten, noch einmal: Wer ist hier „du“? Der die Namen neu knetet, der ein wahrhaft sehendes Auge besitzt, der wahrhafte Sättigung und Erhellung verspricht? Wer ist ich und wer ist du? Der Übergang zum Ich ist plötzlich und stark akzentuiert. Es hebt sich aus dem allen gemeinsamen Geschick heraus. Der Lebensberg aller wird beständig aufgeworfen und aus ihm bildet sich Sinn und Sinnlosigkeit eines jeden Lebens. So werden unser aller „Namen“ geknetet. Aber es sind nicht alle, es ist das eine Ich, das hier „ich“ ist, das diese Namen abtastet. Das Tun des Dichters klingt an, der es mit den Namen, mit allen Namen, versucht. Es bestätigt sich also: „Name“ meint nicht nur die Namen der Menschen. Es meint sicherlich den ganzen Berg der Worte, es meint die Sprache, die über alle Erfahrung des Lebens gelagert ist wie eine deckende Last. Sie ist es, die abgetastet, d.h. auf ihre Durchlässigkeit geprüft wird, ob sie nicht doch irgendwo den Durchbruch ins Helle gewährt. Mir scheint, es ist die Entbehrung und die Auszeichnung des Dichters, was hier beschrieben wird. Aber ist es nur die des Dichters?

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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