– Zu Paul Celans Gedicht „VOR DEIN SPÄTES GESICHT,…“. –
PAUL CELAN
VOR DEIN SPÄTES GESICHT,
allein-
gängerisch zwischen
auch mich verwandelnden Nächten,
kam etwas zu stehn,
das schon einmal bei uns war, un-
berührt von Gedanken.
Denn bei aller Eindeutigkeit seiner Aussage läßt es einen besonders weiten Raum für die Ausfüllung. Ist es ein Liebesgedicht? Oder spricht es von Mensch und Gott? Sind es Liebesnächte oder die Nächte des Einsamen, die „mich“ verwandelt haben?
Es liegt, wie bei sehr kurzzeiligen Gedichten oft, gerade durch die Kürze und Knappheit seines Baues ein besonders starkes Gewicht auf der letzten Verszeile. „Berührt von Gedanken“ – das ist fast wie ein epigrammatisches Siegel. Von hier muß im Grunde das Ganze wie von seiner Verdichtung her begriffen werden. Die spannungsvolle Trennung „un-berührt von Gedanken“ stellt das Berührtsein von Gedanken für sich. Aber in welchem Sinne? Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu verstehen: als eine positive und durch die Zeilentrennung verstärkte Aussage über die Unberührtheit dessen, was da vor „dein Gesicht“ trat daß es nämlich nichts ausdrücklich Gewußtes und Gedachtes ist. Oder aber es ist eine Aussage darüber, daß das, was „schon einmal bei uns war“, nun anders, nämlich „berührt von Gedanken“, also verwandelt ist. Es hieße also gerade nicht:
nach wie vor unberührt.
Nun ist die Aussage des Gedichtes durchweg von der Spannung zwischen „nach“ und „vor“ beherrscht. Es ist von einem „späten“ Gesicht die Rede, das ein „früher“ heraufruft; es ist von einem „schon einmal“ die Rede und ausdrücklich von „verwandelnden“ Nächten. So muß auch in dem „un-berührt“, das nicht umsonst Zeilentrennung in sich austrägt, die Spannung zwischen Einst und Jetzt liegen.
Die Frage geht bis in die letzten Eigenheiten von Rhythmik, Versbau und Sinnfügung. Es handelt sich um eine Frage letzter Sinnkohärenz – und die scheint mir für die von mir vorgeschlagene Deutung zu sprechen, daß eine neue Bewußtheit eingetreten ist. Denn jenes „Etwas“, das da zu stehen kommt, bliebe allzusehr in der Unbestimmtheit, wenn über es überhaupt nichts ausgesagt würde. Wenn dagegen der Sinn ist, daß die Unberührtheit von Gedanken durch den Gedanken zerstört wird, dann versteht man immerhin, daß „etwas“ eingetreten ist, nämlich bei aller Unbestimmtheit eine neue, Alleinsein einschließende Bewußtheit. Wachsende Bewußtheit, Abstand, Alleinsein – das ist nicht die enttäuschte Feststellung eines verlorenen Zugangs – wie eine Entfremdung es wäre –, sondern es findet hier gegenseitige Anerkennung statt: „Auch mich“ – also auch dich – „verwandelnd“ heißen die Nächte. Der Abstand, der jetzt bewußt wird, war an sich immer da, als das, was man Diskretion nennt, bis hin zu jener „unendlichen Diskretion“, mit der Rilke sein Verhältnis zu Gott beschreibt.
Aber das ist nun die eigentliche Erfahrung, die aus diesen Versen spricht: Inzwischen ist es anders geworden. Was von Gedanken unberührt war, ist nicht länger so, und das ein für alle Mal. Eben die Endgültigkeit dessen, was nun eingetreten ist, spricht aus der epigrammatischen Schlußzeile „berührt von Gedanken“.
Hier scheint die Frage besonders dringlich, wer Ich ist und wer Du. Aber auch hier ist nicht so zu fragen. Das einzige, worauf es ankommt, ist, daß zwischen dem Ich, das hier spricht, und dem Du, das es anspricht, die Geschichte einer innigen Beziehung heraufgerufen wird, deren Beginn länger zurückliegt. Darauf deutet das Beiwort „spät“, das dem Gesicht zugesprochen wird, und weiter klingt es so, als ob dies Gesicht inzwischen in sich zurückging und sich stärker in sich verschlossen hat. Denn es heißt „allein-gängerisch“, und das meint nicht einfach allein-gehend, sondern ein bewußt gewähltes und festgehaltenes Alleinsein. Wieder ist es die Worttrennung, welche die Spannung dieses Alleinseins verleiblicht. Sie läßt beides anklingen, das Alleinsein und den Willen dazu. Das bestätigt sich von der andern Seite durch „mein“ Eingeständnis, daß auch ich verwandelt bin. Was da „vor dein spätes Gesicht“ tritt, ist aber ausdrücklich nicht als etwas Fremdes anzusehen, das früher nicht da war. Es war ja schon einmal „bei uns“. Was inzwischen anders geworden ist, hebt die Vertrautheit der gegenseitigen Bindung durchaus nicht auf. Es ist nicht etwas Fremdes. Man soll nicht fragen, was das ist. Offenbar weiß der Sprechende es selber nicht zu benennen. Es ist „nichts“.
Was das Gedicht darüber hergibt, liegt einzig in der Wendung „un-berührt von Gedanken“. Das besagt, daß man sich inzwischen Gedanken macht und daß gerade dadurch etwas zu stehen gekommen ist. Man achte darauf, daß es nicht heißt: etwas trat dazwischen. Es ist überhaupt keine besondere Begebenheit gemeint, die alles veränderte, sondern eher der Niederschlag der Zeit selbst, der nicht etwa etwas Neues enthüllt, sondern das, was an sich schon bekannt ist, weil es schon einmal bei uns war, nun für sich stehen läßt. Es heißt „bei uns“ und nicht „zwischen uns“. Was da zum Bewußtsein kommt, ist vielleicht nichts anderes als Alleinsein in wechselseitiger Vertrautheit.
So scheint es kaum nötig zu wissen, wer Ich und wer Du ist. Denn das, wovon die Rede ist, geschieht beiden. Ich und Du sind beide Verwandelte, sich Verwandelnde. Es ist die Zeit, die ihnen geschieht – ob nun dies Du das Gesicht des Nächsten trägt oder das ganz Andere des Göttlichen –, die Aussage ist, daß bei aller Vertrautheit zwischen beiden ihnen mehr und mehr der Abstand bewußt wird, der zwischen ihnen bleibt. In jenen Nächten, das heißt in der Nähe und Innigkeit des Beisammen, die alles andere auszulöschen und alles Trennende aufzulösen vermag, gerade da verwandelte sich etwas und kam etwas zu stehen. Ist das überhaupt etwas Trennendes? Es trat „vor“ dein Gesicht. Gewiß liegt darin auch, daß ich keinen so unmittelbaren Zugang mehr zu „dir“ habe, aber doch auch, daß ich nicht von „dir“ getrennt bin. Es war ja schon vorher „bei uns“. Eher scheint es, als würde in einem neuen Wissen der Abstand bejaht, der immer war, der Abstand zum verborgenen Gott oder die Ferne des Allernächsten.
Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019
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