Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „WEGE IM SCHATTEN-GEBRÄCH…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „WEGE IM SCHATTEN-GEBRÄCH…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

WEGE IM SCHATTEN-GEBRÄCH
deiner Hand.

Aus der Vier-Finger-Furche
wühl1 ich mir den
versteinerten Segen.

 

Nach hermeneutischem Grundsatz

beginne ich mit der betonten Schlußzeile. Denn darin liegt offenbar der Kern dieses Kurzgedichtes. Es spricht von „versteinertem Segen“. Segen wird nicht mehr offen und strömend erteilt. Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so sehr entbehrt werden, daß Segen nur noch in Versteinerung gegenwärtig ist. Nun sagt das Gedicht: Dieser Segen der segnenden Hand wird mit der wühlenden, verzweifelnden Inbrunst eines Bedürftigen gesucht. Damit geschieht ein kühner Umschlag von der segnenden Hand zu der Hand, in der für das Handlesen eine segensreiche hoffende Botschaft verborgen ist. Was mit dem „Schatten-Gebräch“ gemeint ist, lehrt der Zusammenhang. Wenn die Hand sich etwas krümmt und die Falten Schatten werfen, dann werden in dem „Gebräch“ der Hand, das heißt in dem Geflecht von Brechungen und Faltungen, die Brüche als Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen die Sprache des Schicksals oder des Wesens heraus. Die „Vier-Finger-Furche“ nun ist die durchgehende Querfalte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem Daumen in einer Einheit zusammenfaßt.
Wie ist das alles seltsam! Das Ich, wer auch immer es sei, der Dichter oder wir, sucht den fernen und ungreifbar gewordenen Segen aus der Segenshand herauszu„wühlen“. Das geschieht aber nicht in einem kundig vertrauten Entziffern geheimnisvoller Linienspiele. Die Situation des Handlesers, die hier deutlich heraufbeschworen ist, bildet in Wahrheit und alles in allem eine Kontrastsituation. Man gestehe es sich ein: Handlesen, wo es im Ernst und nicht zum reinen Scherz geschieht, behält eine merkwürdige Berührungskraft. Die Unenthüllbarkeit der Zukunft erfüllt jede Aussage über solche Zeichen mit einem lockenden Geheimnis. Aber hier ist es alles ganz anders. Die Inbrunst und die verzweifelte Not des Suchenden ist so groß, daß er nicht etwa im kundigen Deuten über der Rätselschrift der Hand und der Zukunft halb scherzhaft und halb ernsthaft verweilt – im Gewirr der Handlinien sucht er wie ein Verdurstender nur die größte, tiefste, in Wahrheit geheimnislose Furche allein, in deren Schatten nichts geschrieben ist. Aber seine Not ist so groß, daß er selbst noch aus dieser nichts mehr spendenden Handfurche so etwas wie Segen erfleht.
Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segenshand, die nicht mehr segnet, etwas anderes als die Hand des verborgenen Gottes zu sehen, dessen Segensfülle unkenntlich wurde und uns nur noch wie in Versteinerungen überkommen ist, ob diese nun das erstarrte Zeremoniell der Religionen oder die erstarrte Glaubenskraft der Menschen sein mögen. Aber wieder wird es so sein, daß das Gedicht darüber nichts entscheidet, wer hier „Du“ ist. Seine alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der in „deiner“ Hand – wessen Hand es auch sei – nach Segen sucht. Was er findet, ist „versteinerter“ Segen. Ist das noch Segen? Ein letztes an Segen? Aus deiner Hand?

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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