– Zu Paul Celans Gedicht „WEGGEBEIZT vom…“. –
PAUL CELAN
WEGGEBEIZT vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten – das hundert-
züngige Mein-
gedicht, das Genicht.
Aus-
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaltigen Schnee,
den Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und -tischen.
Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.
die aber von ungleicher Verszahl sind. Es ist wie ein zweiter Akt des dramatischen Geschehens, das in „Wortaufschüttung“ evoziert worden war. Nach dem Ereignis, das das falsche Scheinen von Sprache zerstört hat, setzt dies Gedicht ein. Nur so bestimmt sich, was mit „der Strahlenwind deiner Sprache“ gemeint ist: ein Wind, der aus kosmischen Fernen hereinbricht und durch die Helle und Schärfe seiner elementaren Kraft das Gerede des Anerlebten wegbeizt wie einen trübenden Beschlag. Das aber sind all die Scheingedichte, die hier das „bunte Gerede“ heißen. Das Gerede ist bunt, weil die Sprache solcher Scheinschröpfungen beliebig ist, vom bloßen Bedürfnis der Schmuckwirkung, des Ornatus motiviert und daher ohne eigene Farbe und ohne eigene Zunge: Scheinschöpfungen der Sprache, die eben, weil sie so beliebig sind, in hundert Zungen reden, das heißt aber: in Wirklichkeit gar nichts bezeugen – sozusagen falsches Zeugnis ablegen. Das ist das „Meingedicht“, das falschen Eid leistet und ein „Genicht“ ist, das heißt nichtig trotz allem Anschein eines Gebildes.
Die Rede vom „Strahlenwind deiner Sprache“ spricht in der kosmischen Grundmetapher weiter, in der das Gedicht „Wortaufschüttung“ sich bewegte. „Deine“ Sprache ist die Sprache des den Wortmond hinausschleudernden Du, also nicht so sehr die eines Dichters, dieses Dichters als solchen, sondern die Erscheinung der Sprache selber, der wahren, leuchtenden und runden Sprache. Sie beizt alles falsche Zeugnis weg, das heißt, sie entfernt es so, daß keine Spur von ihm nachbleibt. Dabei mag „Strahlenwind“ die kosmischen Dimensionen dieses Ausbruchs heraufrufen, aber gewiß auch und vor allem die Reinheit und strahlende Helligkeit, die wahre Geistigkeit der Sprache, die nicht nachgemachte und nachempfundene Aussagen vortäuscht, sondern alle solchen entlarvt.
Aber nun erst, wenn der „Wind deiner Sprache“ in seiner strahlenden Reinheit hereingebraust ist, beginnt der Weg zum Gedicht, zum „Atemkristall“, das nichts als das reine, von strengster Geometrie strukturierte und aus dem leisen Nichts des Hauches ausfallende Gebilde ist. Der Weg ist jetzt frei. Das eine Wort „frei“ dehnt sich über die ganze Länge einer Verszeile, so wie die Silbe „aus“ eine ganze Verszeile einnahm. In der Tat, der Weg, der frei ist, ist als Weg sichtbar geworden, nachdem der Strahlenwind den alles verdeckenden und alles gleichmachenden Schnee „ausgewirbelt“ hat. Der Weg ist wie der eines Pilgers, der in eisige Höhen führt. Der Pilger durchschreitet den „Schnee“, das ist das Unwirtliche, Abweisende, Kalte, Entsagungfordernde und Eintönig-Gleiche, das der büßende Pilger sich zumutet zu überstehen. Ohne Zweifel muß man dies Visuelle in die Sphäre des Sprachlichen umsetzen: Denn es ist menschengestaltiger Schnee, was zu durchschreiten ist. Es sind die Menschen mit ihrem Gerede, das alles bedeckt. Aber wohin führt der Weg dieser Wanderung? Offenbar ist es kein Pilgerheiligtum, sondern die Gletscherwelt selber mit ihrer hellen, klaren Luft, die wie eine Gaststätte den ausdauernden Pilger aufnimmt. Gastlich heißt diese Welt des ewigen Eises, weil nur Anstrengung und Ausdauer hinführten und daher dort kein wahlloses menschliches Schneetreiben mehr herrscht. Der Weg dieser Wanderung ist so am Ende der Weg der Reinigung des Wortes, das sich allen vielfach sich andrängenden Aktualitäten und Sprachmustern versagt und im Schweigen und Wägen geübt hat. Es führt die Höhenwanderung irn winterlich unbetretenen Gebirge zu einer gastlichen Stätte. Wo man fern genug von den Aktualitäten des menschlichem Treibens ist, ist man dem Ziel nahe, dem Ziel, das das wahre Wort ist.
Das, was auf einen dort wartet, liegt auch jetzt noch tief verborgen: tief in der Zeitenschrunde. Es klingt wie eine Spalte, die sich im Gletschereis unauslotbar auftut. Aber es ist eine Zeitenschrunde, ein Riß im gleichmäßigen Fluß der Zeit, an einem Orte, da die Zeit nicht mehr fließt, weil auch sie, wie alles, in starrer Ewigkeit steht. Dort, „beim Wabeneis“ – auch das ist von bezwingender optischer und klanglicher Anschaulichkeit, Eis, das wie Waben in einem Bienenstock geschichtet und gebaut ist, ist von unveränderlichem Bau, das heißt von allen Einflüssen der „reißenden Zeit“ abgeschirmt – und dort „wartet“ das Gedicht, der Atem-Kristall. Gewiß soll man dabei den Kontrast empfinden, der zwischen den ringsum aufgebauten Wänden von Eis und dem winzigen Kristall des Atems besteht, diesem flüchtigsten Dasein eines geometrischen Wunders, wie es die feingezeichnete Schneeflocke ist, die an einem kalten Wintertage einsam durch die Luft wirbelt. Dies Einzelne, Kleine, dennoch, ist Zeugnis. Es heißt „unumstößliches Zeugnis“, offenbar im klaren Gegensatz zu den meineidigen Zeugenaussagen „gemachter“ Gedichte. Wofür es zeugt („Dein“ Zeugnis), bist „Du“, das vertraute, unbekannte Du, das dem Ich, das hier das Ich des Dichters wie des Lesers ist, sein Du ist, „ganz, ganz wirklich“.
Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019
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