– Zu Theodor Kramers Gedicht „Die Gaunerzinke“ aus Theodor Kramer: Die Gaunerzinke. –
THEODOR KRAMER
Die Gaunerzinke
Die stillste Straße komm’ ich her,
im Schluchtenfluß die Otter schreit.
Mein Schnappsack ist dem Bund zu leer,
Gehöfte stehen Meilen weit.
Im Kotter saß ich gestern noch
und tret ins Tor im Abendrot
und weiß im Janker Loch um Loch
und bitte nur ganz still um Brot.
Und dem, der hart mich weist ins Land,
dem mal ich an die Wand ein Haus –
und vor das Haus steil eine Hand;
die Hand wächst übers Haus hinaus.
Hier, seht, hier bat – und bat nur stumm,
– nach mir, ihr Brüder, – eine Hand.
Und Einer geht ums Haus herum
und Einer setzt’s einst nachts in Brand.
Diese Verse des 1958 – nach seiner Rückkehr aus zehnjährigem Londoner Exil – in einem Wiener Spital gestorbenen Theodor Kramer stehen in seinem 1929 veröffentlichten ersten Gedichtbuch Die Gaunerzinke. 36 Gedichte von Tagelöhnern, Häuslern, Ziegelbrennern, von Menschen am Rande der Sozietät. Zuckmayer, der ebenfalls Gedichte geschrieben hat, nannte Kramer „den stärksten Lyriker Österreichs seit Georg Trakl“, Beim Lesen des balladenhaften „Bericht vom Zimmerhändler Elias Spatz“ oder der Moritat vom Selbstmörder Aron Lumpenspitz wird man eher an Brechts Hauspostille erinnert.
Das nebenstehende Gedicht hat zwei Doppelstrophen zu je acht Zeilen. Diese kontrahierende Notation anstelle der üblichen von vier Vierzeilern ist, wie man bald erkennt, strukturell wie inhaltlich bedingt.
Der hier monologisiert, ist ein aus dem „Kotter“ (Dorfarrest) entweder Entlassener oder Geflohener, der sich auf Schleichwegen den „Meilen weit“ voneinander entfernt liegenden Gehöften nähert, um (so erfährt man aus der ersten Strophe) „ganz still um Brot“ zu bitten. Wer ihm diese Bitte abschlägt, dem wird er (droht er in der zweiten Strophe) eine Gaunerzinke an die Wand malen damit sich unter den nachfolgenden „Brüdern“ einer finde, der dem Geizhals, das Haus anzündet.
Den zwei Wünschen (dem nach Brot und – wird ihm dies verweigert – dem nach Rache) entspricht die Zweiteiligkeit des Gedichts, wobei das in der zweiten Strophe beibehaltene Erzähltempus nur grammatisch ein Präsens ist. Die vermiedene Futur-Form legt nahe, das ganze Gedicht als Wunschvorstellung eines noch Inhaftierten zu deuten.
Charakteristisch für Kramer ist der parataktische Satzbau. In der ersten Strophe besteht jede Zeile aus einem einfachen, nur durch Interpunktion oder ein „und“ vom vorangehenden getrennten Aussagesatz, und jeder dieser Sätze bildet eine Station. In der zweiten Strophe, wo Reflexion oder Imagination in den Vordergrund treten, geraten die (gedachte) Bewegung und damit die Sätze ins Stocken, veranschaulicht durch Relativsätze, Parenthesen, vokativische und imperativische Einschübe. Wie in fast jedem Kramer-Gedicht, bestimmt den formalen Aufbau auch in diesem der Reim. Vom Metrum abgesehen, ist die klassische Kreuzung (a b a b) indes das einzige traditionelle lyrische Element in diesem Gedicht, das im übrigen auf alle artistischen Raffinements verzichtet. Aber auch diese Reimpaare sind von beinahe ausgesuchter Kunstlosigkeit. Es sind Gebrauchsreime, abgewetzte und durch häufige Benützung handlich gewordene Wörter. Sie wollen nicht Harmonie und Einverständnis in der Sprache herstellen, wo diese realiter nicht vorhanden sind. In ihrer klappernden Einsilbigkeit (her-leer, wodurch die Leere noch potenziert wird, noch-Loch, Hand-Brand) dienen sie der leichteren Memorabilität und können zugleich auf Widersprüche (Haus-hinaus) aufmerksam machen.
Mehr als bei einem Prosatext stellt sich bei einem Gedicht die Frage: Was ist neu daran? – Auch die herben Fügungen, auch die knappen, metaphernfreien Sätze, auch die Verwendung von Rotwelsch und Regionalsprache (statt des lyrischen Formelvorrats). Vor allem aber ist es Kramers bevorzugtes „Milieu“, seine Motive und Themen: das Leben der Ausgesteuerten, denen er – sein eigenes Schicksal (das eines zur Flucht gezwungenen Sozialisten und Juden) gleichsam antizipierend – Stimme gab.
Hans J. Fröhlich, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977
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