– Zu Georg Trakls Gedicht „Im Herbst“ aus Georg Trakl: Das dichterische Werk. –
GEORG TRAKL
Im Herbst
Die Sonnenblumen leuchten am Zaun,
Still sitzen Kranke im Sonnenschein.
Im Acker mühn sich singend die Frau’n,
Die Klosterglocken läuten darein.
Die Vögel sagen dir ferne Mär’,
Die Klosterglocken läuten darein.
Vom Hof tönt sanft die Geige her.
Heut keltern sie den braunen Wein.
Da zeigt der Mensch sich froh und lind.
Heut keltern sie den braunen Wein.
Weit offen die Totenkammern sind
Und schön bemalt vom Sonnenschein.
Es gibt viele Herbstgedichte. Dies ist das meine. Weil es das Leben leuchten und klingen läßt, beseelt, wie es ist, von Vergänglichkeit und mit dem Tod befreundet. Und weil wir vor lauter Einfachheit der Bilder und Sätze nicht bemerken, wie kunstvoll, ja artistisch sie gemacht und gefügt sind.
Drei schlichte vierzeilige Volksliedstrophen verbinden Leben und Vergehen durch Bild und Klang im Herbstgefühl des Dichters. Alle Verse beginnen regelmäßig mit einsilbigem Auftakt und enden ebenso regelmäßig mit einsilbig vollem Kreuzreim. Der gleichförmige viermalige Wechsel von betonten und unbetonten Silben wird nur gelegentlich rhythmisch variiert durch zweisilbige Senkungen („leuchten am Zaun“, „lauten darein“). Auch der Auftakt macht behutsame Variationen hörbar durch wenige angehobene Senkungssilben, die sich gegen Ende häufen (Still, Heut, Da, Heut, Weit), auf solche Weise Dasein und Gegenwart betonend.
Jede Zeile ruht in sich selbst, parataktisch der benachbarten nebengeordnet. Vers für Vers und Satz für Satz folgt ein abgeschlossenes, belebtes Bild dem anderen. Allein die beiden letzten Zeilen machen eine Ausnahme: dort greift die Syntax vom einen in den nächsten Vers hinüber.
Das Gedicht als Ganzes jedoch ist kunstvoll verknüpft. Nicht nur durch den Reim der geraden Verse, der in allen Strophen der gleiche bleibt (Sonnenschein, darein, Wein), sondern auch durch wörtlich wiederholte Zeilen, die sich wie Kettenglieder durch den Text ziehen und den Strophen ihre Selbständigkeit nehmen: der jeweils letzte Vers kehrt als der zweite der folgenden Strophe zurück, ein Reigen der Verse, von denen der allerletzte sich wieder in den zweiten des Anfangs einhakt.
Was sich in diesem streng gebauten Gefüge als gegenwärtig verkettet und vereinigt, das sind Leben und Tod, Ernten und Sterben, Dasein und Vergänglichkeit. Aber nicht zu einem Memento mori, nicht als Widerstreit von Tod und Leben und auch nicht, wie in Hofmannsthals berühmten Terzinen „Über Vergänglichkeit“, melancholisch hadernd, weil „viel zu grauenvoll, als daß man klage: Daß alles gleitet und vorüberrinnt“.
Hier ist nichts, was gleitet und vorüberrinnt. Alles drückt vielmehr sinnliche, lebensvolle Gegenwart aus. Es ist ein Todesreigen, der dem Leben aufspielt. Dasein und Vergehen erscheinen partnerschaftlich verbunden und im Einverständnis, wie Geschwister, die einander zugeneigt sind und sich gegenseitig halten und geleiten. Paarweise binden die Verse sie zusammen, und paarweise leuchten (Sonnenblumen, Sonnenschein, schön bemalt), handeln (müh’n, keltern) und klingen sie (singend, läutend, tönend) im gleichmäßigen und gleichberechtigten Wechsel: die ungeraden Zeilen machen das Leben geltend, die geraden Vergänglichkeit und Tod (die braune Farbe des Weins verweist auf Überreife und Verwesung).
Nur die Schlußverse kehren das Verhältnis um, indem sie beides in einem einzigen Satz zusammenfassen:
Weit offen die Totenkammern sind
Und schön bemalt vom Sonnenschein.
In ihnen klingt, leuchtet das Gedicht aus und gelangt zu seinem paradoxen Ziel. Auf die reine Gegenwart der „Totenkammern“, in der sein lyrisches Präsens gipfelt, reimt sich „froh und lind“. Und aus der Düsterkeit der Todespforte wird die Heiterkeit der offenstehenden Tür.
Hans Joachim Schrimpf, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983
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