– Zu Boris Pasternaks Gedicht „Es ist nicht gut, berühmt zu werden…“ aus dem Band Boris Pasternak: Initialen der Leidenschaft. –
BORIS PASTERNAK
Es ist nicht gut, berühmt zu werden.
Nein, das erhebt den Menschen nicht.
Auch ein Archiv ist nicht notwendig,
Bangsein um jegliches Gedicht.
Des Schaffens Ziel ist Selbsthingabe
Und nicht das Aufsehn, der Applaus.
Wie schändlich, wenn ein Mittelmäßger
In aller Munde ist zu Haus.
Das eigene Ich nur darf man leben,
So leben, daß man unverwehrt
Erringt des Universums Liebe,
Daß man den Ruf der Zukunft hört.
Im Schicksal mögen Lücken bleiben,
Doch Lücken niemals auf dem Blatt,
Vermerken muß man, was das Leben
Kapitelweis geschrieben hat.
Man muß ins Namenlose tauchen,
Das listig jeden Schritt verdeckt,
So; wie ein Dorf, bereits stockfinster,
In Nebelschwaden sich versteckt.
Die andern werden deinen Spuren
Bald folgen, suchend, Schritt für Schritt,
Doch du, du darfst nie unterscheiden
Die Niederlage von dem Sieg.
Du weiche nicht um Haaresbreite
Von deinem Ich im Herzen ab,
Du mußt lebendig bleiben, leben,
Mußt leben, leben bis ans Grab.
1956–1959
Nachdichtung: Günther Deicke
Wie ein Vermächtnis stehen die sieben Strophen dieses streng gearbeiteten Gedichts ziemlich am Ende von Boris Pasternaks lyrischem Werk. Drei Jahre lang behielt der Dichter sie in seiner Arbeitsmappe, bis er den Text den postumen Ausgaben überließ. Hoffte der Autor noch, das bittere Wort über den Ruhm brauchte sein letztes nicht zu sein? Oder waren ihm „das Aufsehn, der Applaus“ schon immer gleichgültig gewesen und er wollte nur noch das Grundgefühl am reinsten und klarsten ausdrücken?
„Mehr als für Ruhm und Qual hab ich / Für dieses dich geliebt, / Daß weiße Welt, die noch verblich, / Nur reiner uns umgibt“, schrieb Pasternak 1917 („Nicht berühren“, deutsch von Johannes Bobrowski). Wichtiger als die Anerkennung und auch die Schaffensqual, diese schmerzhafte Bestätigung der schöpferischen Kraft, war ihm – und dies bezeugen viele Liebesverse von ihm, bezeugt zudem sein autobiographischer „Schutzbrief“ aus den Jahren 1929 bis 1931 –, die Verschmelzung mit einem Du, eine irdische Ahnung von Vollkommenheit. Ausschließen wollte er den Ruhm, oder was eigentlich gemeint war, wohl nicht. Dem von Pasternak gewählen „udatscha“ entsprechen laut Wörterbuch besser „Gelingen, Erfolg“: der des literarischen Werkes natürlich. Und die Liebe soll, statt nur von Lippenpaar zu Lippenpaar zu reichen, die uns umgebende Welt reinigen, sie heller, machen. Die dritte Strophe beschwört das große Wirkungsziel der allerdings schon in die Erinnerung zurückgesunkenen Liebe ganz:
Ob auch im Dunkel, Lieb, ich schwör,
Noch weißer wird als Firn
Die Welt als Fieber, Lampe, hör:
Band, weiß, um eine Stirn.
Von einer Möglichkeit ist die Rede: der Verwandlung von Liebe in Helligkeit der Welt und Schutz für die Geliebte. Die Welt soll der Geliebten wie ein Lampenschirm sein (Helligkeit bringend und vor grellem Licht schützend), eine Fieberphantasie, die sie an etwas (noch) nicht Geschehenem, einem Traum, einer Wirklichkeit werdenden Welt teilhaben läßt. Die Dinge werden dem Menschen zugeordnet. Wir befinden uns im Jahre 1917.
Der Begriff „Ruhm“ im späten Gedicht trägt also eine, andere Bedeutung als der in „Nicht berühren“. Ende der fünfziger Jahre wurde Pasternak die Last des Dichteramtes unter unguten Bedingungen zwangsläufig zum Thema. Berühmtsein, höchste Anerkennungen haben nichts mit dem Wert und der tieferen Wirkung von Literatur zu tun, vergewisserte er sich. Die konstituieren und vollziehen sich eher im Geheimen, auf listenreichen Wegen, von Finsternis und Nebelschwaden gedeckt. Oder gilt die Sorge allein der Bewahrung des eigenen Ichs? Wörtlich bedeutet die erste Zeile der dritten Strophe: Leben muß man ohne falschen Titel (samoswanstwo). Zur Erklärung bietet das Wörterbuch das Beispiel „Dmitri Samoswanez – der falsche Demetrius“. Auch in der Literatur standen und stehen falsche Demetris auf, die sich Ruhm, Einfluß, Applaus zu organisieren verstehen. Nicht der Titel, nicht die einflußreiche Position, sondern „des Universums Liebe“ zu erringen (wörtlich: die Liebe des Universums zu sich herabzuziehen) und auf die Weise „den Ruf der Zukunft“ zu vernehmen (der offenbar auf den Straßen nicht gehört werden kann), darin liegt die innere Bestimmung des Dichters. „Des Universums Liebe“ aber ist der Widerschein der wirklichen Liebe zwischen den Menschen, jenes Untergrundes von Hoffnung, der zuweilen in einem glücklichen Lächeln, im friedlichen Ausdruck eines Schlafenden aufleuchtet, und der von Generation zu Generation weitergegebenen Sehnsucht nach menschlichen Verhältnissen. Nur die Menschheit selbst, die den Rahmen ihrer Geschichte ausschreitet, kann reale Liebe verströmen. Pasternaks Metapher erinnert entfernt an Schillers „schönen Götterfunken“ und den ahnungsvollen Ruf „Brüder – überm Sternenzelt“, ohne deren Überschwenglichkeit nachzuahmen. Das kosmische Bild drückt ein irdisches Universum von Hoffnungen aus. Im russischen Original läßt das Bild zudem die Sehnsucht nach Erlösung von der Isolation der eigenen Lebenspraxis durch einen übergreifenden, menschheitsgeschichtlichen Prozeß anklingen, der in einem neuen historischen Zustand mündet. Der „Ruf der Zukunft“ geleitet dazu hin.
Nicht immer bestimmte Pasternak das Wirkungsziel der Poesie derart kosmisch und allgemein. Gewiß, Fahnenträger wollte er nie sein, aber 1923, als revolutionäre Ideen Hunger und Not überwölbten, rief er emphatisch aus: „O Stadt! O mein Aufgabenbuch ohne Antwort, / O Weite voll Rätsel und nie dechiffriert!“ Und weiter hieß es in diesem Hymnus an den 1. Mai:
Die Bläue mag mit den Kiosken wettfrösteln
Und klirren, daß laut in den Kurven es schreit…
Sie weiß schließlich, daß diese Arbeiterklasse
Nicht absteigen mehr und zurückweichen kann,
Daß nie neue Zäune und trennende Maße
Es zwischen den Menschen mehr geben kann.
(„1. Mai“, deutsch von Günther Deicke).
Allerdings sprach Pasternak statt von „Arbeiterklasse“ vom „vierten Stand“, der nicht „zum fünften“ herabsinken, also, eine Deklassierung erfahren könne. Kein kommunistischer Dichter im Sinne Majakowskis erklärt hier sein Verhältnis zur Revolution. Ein Citoyen ergreift das Wort, der die Ideale von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit vertritt und deren praktische Realisierung im jungen Sozialismus zu erblicken glaubt. Die Stunde der Brüderlichkeit schien ihm gekommen. Was sollten da noch Wehmut und Liebesschmerz! Der vierte Stand, die Entrechteten von gestern, wie bei Block mehr mythisches Wesen denn genau bestimmte soziale Schicht, greift ins Leben ein. Nicht Liebe schlechthin dringt durch den bestirnten Himmel, nicht der „Ruf der Zukunft“ ermutigt den Dichter, die Gegenwart selbst erfüllt ihn mit maßloser Freude. (Man vergleiche den schnellen Rhythmus und die expressive Bilderflut des geradezu hingeworfenen 1. Mai-Gedichtes mit dem gleichmäßigen, fast monotonen Metrum und der vergrübelten Bildsprache der späten Verse!)
Als Citoyen, der seine Wahl getroffen hat, spricht Pasternak von seinem Verhältnis zu den Arbeitern, mit denen er nicht bloß schlecht und recht als „Weggefährte“ ein Ziel verfolgt, sondern eine Aufgabe zu erfüllen hat:
Daß bald wir die Menschheit zu Göttern erheben!
Das wird das entscheidende letzte Gefecht.
Unter „wir“ können der bewußteste Teil des Proletariats in Sowjetrußland und die mit ihnen verbündete Intelligenz verstanden werden, deren Ziel, in Pasternaks Verständnis die Vollendung des Individuums ist. Die Erringung der Menschenrechte, wovon das in der Schlußzeile zitierte Lied Pottiers spricht, wird in der Verwirklichung des klassischen Citoyen-Ideals menschlicher Göttergleichheit aufgehoben. Die knappe, fast agitatorische Forderung gibt der Bestimmung des Ideals keinen Raum, doch dürften Neid und Anmaßung, Titelusurpation und Triumphe der Mittelmäßigkeit gewiß nicht dazugehören. Welchen Sinn sollte die Revolution haben, wenn sie nicht die Menschheit auf dem Weg ihrer Selbstbefreiung voranbrachte? Nur als Erfüllung der großen, überkommenen Hoffnungen, vermag der Dichter – und darin lag ein Teil seiner Tragik – den Sinn der 1917 eingeleiteten grundlegenden Wende in der Geschichte Rußlands zu verstehen. Dieser Programmpunkt gehörte zur unabdingbaren Voraussetzung seines frei gewählten Bündnisses mit „den Arbeitern“, zum historischen Konsens eines Dichters und zugleich Repräsentanten traditionsbewußter Intelligenz mit dem Sowjetstaat.
„Du mir zur Seite, Sozialismusferne!“ (wörtlich: Ferne, Weite des Sozialismus), ruft Pasternak 1931 aus und hofft:
Du schimmerst durch der Theorien Nebel,
Land fern von Klatsch und der Verleumdung Chor.
(deutsch von Günther Deicke)
Seine wahre Funktion sieht der Dichter nun erst in ferner Zukunft erfüllt, wenn er „die verlaßnen Frauen“ (gewiß nicht nur sie) „mit der Wahrheit glücklich machen“ kann „und sie, die Wahrheit, braucht nicht fortzuschauen“, Vorerst gibt man ihm „… auf das Dasein / Nur dieses Alltagslebens kleinen Preis heraus“. Eine Vision, keine greifbare Realität ist jenes gesellschaftliche Leben, „wo, was ich aufwand, ich bedeute, / Und wo ich alles aufwend, was ich weiß“. Von baldiger Erhebung der „Menschheit zu Göttern“ konnte keine Rede mehr sein. (Die Sowjetunion durchlebte gerade die forcierte Industrialisierung. Die rigorose Kollektivierung der Landwirtschaft war abgeschlossen. Majakowskis wenig privater Selbstmord lag ein Jahr zurück.) Ungewiß bleibt, ob die eigene Stimme („auf der Spur des Neuen“) „Als frohes Lachen meines Kindes / Aus unserer Zukunft widerhallt“. Der emphatische Ton, der in „1. Mai“ dominierte, ist einer elegischen Stimmung gewichen. Das Ich, wenn auch noch einem kollektiven Wir verbunden, kämpft gegen die Resignation an.
Es sollte noch fünfzehn Jahre dauern, bis sich Pasternak mit der Enttäuschung abfand, doch auch dann stimmte er keine ohnmächtigen Klagetöne an. Vielmehr sicherte er die eigene Spur. Befreit von der Bürde des Verschweigens, ging er auf dem Herbstpfad seines Lebens manchem Jüngeren voraus.
Ich ließ die Hausgenossen fahren,
Die Freunde auch sind fort und weit,
Nun zieht ins Herz die sonderbare
Ununterbrochene Einsamkeit
beginnt das Gedicht „Herbst“, entworfen 1946, abgeschlossen 1953. Langsam, bedächtig ist die Arbeit und damit auch der Lebensrhythmus des Dichters geworden, der einst so impulsiv seine irdische und kosmische Liebe in Verse verwandelte – mit der Leidenschaft eines kaukasischen Goldschmieds, der eine Halskette für seine Geliebte fertigt. Pasternaks Gefühle hatten dem Universum des menschlichen Lebensraumes gegolten. Ein konkreter Mensch, eine Frau, bezeugt die Liebesfähigkeit des Alls an Gefühlen, und in der Liebe kann die noch nicht entdeckte Dimension des Universums (die Möglichkeiten ihrer Zukunft) vorweggeahnt werden. Einst glaubte er, die Liebe bringe mehr Helligkeit in die Welt („Nicht berühren“). Dann erwuchs aus dem Traum die Stadt mit ihren festen Konturen und zu lösenden Aufgaben. Der Dichter befahl den Dächern, auf denen sich der heiße Wind und das Blau über dem Alltag niederschlagen, „in das Gras, auf den Gehsteig“. Die universale Liebe war zur irdischen Aktion geworden, in der sich die Menschen bald zu Göttern erheben sollten („1. Mai“). Nun aber, 1946, wohnt der Dichter einsam in einem „Wächterhaus“:
Der Wald ist still und menschenleer,
Als ob ein jeder Pfad da draußen
Vom Dickicht überwuchert wär.
(„Herbst“, 1946–1953, deutsch von Günther Deicke)
Abgeschnitten scheinen die Kommunikationswege, und hinter der harmlosen Zeile „Die Freunde auch sind fort und weit“ verbergen sich schreckliche Tatsachen. (Mußte nicht schon Puschkin ohnmächtig zusehen, wie seine Dekabristen-Freunde nach Sibirien verbannt wurden.) „Wir wollen die Schranken nicht mehr nehmen, / Wir gehen aufrichtig zugrund“, heißt es in der etwas freien Nachdichtung der dritten Strophe. Eine ausweglose Resignation scheint alle Kräfte überwältigt zu haben. Die Zeit, einst heftig durchlebt, versinkt in gleichbleibender, fast gleichgültiger Beschäftigung:
Von ein Uhr bis zur dritten Stunde
Stickst du ein wenig, lese ich.
Die Leidenschaft hat sich abgekühlt:
Wir liegen nicht mehr Mund an Munde,
Wenn Morgendämmerung anbricht.
Gelähmt von der Einsamkeit im Wächterhaus, sehenden Auges wartet dieses Paar offenbar nur noch auf den Tod. (Außerhalb des Waldes jedoch reglementierte Shdanow die Literatur, und seine Worte hatten Gewicht.) Aber die Realität bildete ja für Pasternak stets nur die eine Seite des Seins. Wiederum kam ihm die Traumkraft zu Hilfe:
Doch tollet, übermütig lästernd,
So rauscht, ihr Blätter, wirbelt jäh,
Besiegt die Bitterkeit von gestern
Mit eurem heutgen wilden Weh.
Die Harmonie ist geschwunden, aber die Bitterkeit spricht nicht das letzte Wort. Lästernd, trotzig sollen die Blätter aufwirbeln. Noch einmal bekennt sich das Ich zur Liebe, zur Glut der Leidenschaft:
Verstrickung, Liebe, Anmut, Zauber!
Laßt scheiden uns im Herbstesglanz!
Vergrab dich in Septemberrauschen!
Vergehe oder rase ganz!
Und von allen Kräften ist die Kühnheit geblieben – „der Schönheit Wurzel“. Der Stolz des Citoyens, der seinem Vaterland stets treu blieb, lebt in der Datschen-Einsamkeit weiter. Rückzug und Schweigen konnten auch bedeuten, sich für die Zukunft bereitzuhalten.
Kehren wir zum Abschiedsgedicht zurück. Einzig vom Wesentlichen, vom Werk, spricht Pasternak hier noch. Nur dieses zieht des „Universums Liebe“ auf die Erde herab. Es war ein Irrtum, den Progreß der Jahrhunderte in ein kurzfristig zu erfüllendes Programm münden zu sehen und vom „letzten Gefecht“ zu reden, wo die Sorge noch dem Brot auf dem Tisch galt. Unabsehbare Schwierigkeiten, traten auf, bei denen Aufrechte und Lügner, freie Köpfe und Sklavenseelen, aber keine Götter am Werk waren. Der erhofften und begonnenen moralischen Erneuerung – nach der Befreiung von den knechtenden Verhältnissen – widersprachen die Zerstörung jahrhundertelang gewachsener Gemeinschaften, Entwurzelung, Mißtrauen und Denunziantentum. „Jetzt bin ich herzkrank, das ist nicht zu leugnen, ich habe mein Ziel nicht erreicht, stehe außerhalb, nicht in Ehren, alle Zeichen haben sich verkehrt, plus ist minus geworden, aber ich bin glücklich und frei, gesund und frisch und munter und setze mich leicht und unbeschwert an den niemandem nötigen, von mir nicht zu trennenden Schiwago“, schrieb Pasternak Anfang März 1953 in einem Brief.
„Alle Zeichen haben sich verkehrt…, aber… ich setze mich leicht und unbeschwert…“ Von nichts anderem redet dieses Gedicht. Mag Pasternak sich auch nicht immer so „glücklich und frei“ gefühlt haben, wie er gegenüber der ihn verehrenden Briefpartnerin betonte, das Schreiben blieb für ihn Hoffnung, Halt und Grund des Stolzes. Er flieht auch keineswegs vor den Konflikten in ein ästhetisches Reich weltferner Schönheit. Er fühlt sich zur Zeugenschaft verpflichtet, dem Auftrag des Schriftstellers, und ist bereit, jede List auf sich zu nehmen, um seiner Verantwortung zu entsprechen. Sogar das Untertauchen im Namenlosen und der Verzicht auf Ehren können notwendig sein, wenn nur dieses erfüllt wird:
Du mußt lebendig bleiben, leben,
Mußt leben, eben bis ans Grab.
1959 mochte er schon ahnen, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
Es liegt nahe, Pasternaks Text neben Puschkins „Ein Denkmal schuf ich mir“ zu legen (siehe auch NDL, Heft 2/1987), denn jeder dieser beiden Moskauer nannte einen „unbotmäßgen Kopf“ (Puschkin) sein eigen. Jeder wollte, um Puschkins Worte zu benutzen, nur den Geboten der Humanität folgen, keinen Lorbeer mehr erwarten, der Kränkung widerstehen, Verleumdung wie Lob gelassen ertragen und Streit mit Dummköpfen vermeiden. In dem einen Gedicht ist von einem Pfad, in dem anderen von Spuren die Rede. Bequeme Landstraßen. oder sogar Schnellstraßen kamen nicht in Betracht. Der Optimismus Puschkins mag übrigens stärker gewesen sein als der Pasternaks, der gleichsam Partisanenvorschläge zur Verbreitung der Wahrheit darlegt. Puschkin wurde von Höflingen in die Enge getrieben, Pasternak auch von Berufskollegen. Im Oktober 1956 erklärte eine Vollversammlung . der Moskauer Schriftsteller „die Handlungsweise des Literaten B. Pasternak“ – wegen der Veröffentlichung des „antisowjetischen, verleumderischen Romans Doktor Schiwago“ im Ausland – als „Verrat an der sowjetischen Literatur, am Sowjetstaat und an allen sowjetischen Menschen“, „Der selbstverliebte Ästhet und Dekadent B. Pasternak, der sich schon lange vom Leben und vom Volk abwandte, hat sich nun endgültig als Feind des Heiligsten eines jeden von uns… entlarvt.“
Der Dichter, der noch immer auf den „Ruf der Zukunft“ gestimmt war, überstand die Beschimpfungen mit erhobenem Kopf – wie das Gedicht zeigt. Es steht am Ende eines langen lyrischen Weges, mit dem wir – die Problematik der Nachdichtungen ist davon nur eine Seite – bisher wenig vertraut sind. In ihm spiegelt sich etwas Gleichnishaftes: Positionen werden aufgegeben, damit sie auf andere Weise neu wachsen können. Ein Dichter verrät seine Hoffnung nicht, er transportiert sie durch unbekanntes Gelände. Die Zukunft sieht anders aus, als sie geplant oder erhofft wurde, und manche – wie Pasternak – erleben nach einem glückhaften Aufflammen in der Jugend anscheinend ständig Katastrophen, von denen sie nicht wissen, wie sie ausgehen, aber erwarten, daß sie neue Entwicklungen vorbereiten. Je fester die Riegel, um so dröhnender zerspringen sie – wie beim eisernen Heinrich im Märchen. Pasternak gab im Festhalten an seinem Zukunftsglauben ein Beispiel moralischer Integrität. Es werden Jüngere kommen, die eine Spur in die Zukunft suchen, und sie, nicht die Nachlaßverwalter, werden ihr Urteil über das Werk sprechen. „Daß man den Ruf der Zukunft hört“ – allein schon dieses vermächtnishafte Verlangen sollte uns, zum bevorstehenden 100. Geburtstag des Autors im Jahre 1990, ein Anlaß sein, mit neuen Übertragungen und gemeinsamem Nachdenken die Welt dieses sozialistischen Citoyens zu erschließen.
neue deutsche literatur, Heft 439, Juli 1989
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