Die dichterische Rede, in sich aporetisch, spricht so, dass sie, nicht in dem und durch das, was sie sagt, aber dadurch, dass sie, was sie sagt aus sich entlassend und zugleich an sich bindend, sich widerspricht. Weil alles, was man einem poetischen Text entnimmt, immer in ihn zurückgenommen und, anders, neu gewonnen werden muss, ist er auf keinen endgültigen Sinn festlegbar. Durch ihr Verhältnis, ihr selbst, obwohl vertraut, unbegreiflich, zu dem, was sie sagt, sich aus sich heraus auf es zu bewegend und es dennoch, es an den Sprachkörper bindend, zurückhaltend, ist die Poesie diejenige Rede, die am genauesten darstellt, was geschieht, wenn der Mensch, redend, wider alle zu erwartende Möglichkeit, seinen körpergebundenen Geist der Sprache übergebend und überlassend, ihn freizusetzen vermag.
seine Gedanken zur Literatur und Sprache auf ebenso klare wie konsequente Weise zu entwickeln. In seinem ersten Buch bei Urs Engeler war er mit der Innenseite der Sprache beschäftigt, mit dem „Lesen und Schreiben“ – in den „Wortstellungen“ nun fragt er nach ihrer Außenseite, nach dem, wie der Gebrauch von Sprache wirkt und was er bewirkt: „Warum sollte ein Gefühl, eingeredet und geglaubt, nicht echt sein, wenn das echte Gefühl in jedem Fall eines ist, an das man glaubt?“, „Was ist, wenn ich in einem Buch lese, Bücher seien nicht auf Wirkung hin geschrieben, die Wirkung?“, „Wenn es möglich ist, Fingiertes für wirklich zu halten, warum sollte nicht manches, was wirklich scheint, Fiktion sein?“. In schon fast aphoristischer Zuspitzung denkt Frey diesen Fragen entlang über Sprechen und Reden, das Ornament und die Wirklichkeit, den Raum der Poesie und der Zeit des Lesens nach:
Anstatt die fehlende Ruhe zum Lesen zu suchen, lesen, um die Ruhe zu finden.
Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2002
Kleines Memorandum für Hans-Jost Frey
Auf der Suche nach einer linguistischen Abhandlung von Anton Marty beziehungsweise nach einem Zitat daraus kam mir unlängst, direkt vom eingestaubten Bücherbrett, eine schmale unscheinbare Broschüre in die Hand, die hier, im Alphabet falsch eingereiht, seit vielen Jahren unangerührt steht. − Es handelt sich um Hans-Jost Freys Wortstellungen zur Stellung der Poesie, erschienen 2002 in Wien und Weil am Rhein, ein Text, an den ich kaum noch eine Erinnerung hatte, den ich aber damals – die zahlreichen Anstreichungen und Randkommentare bezeugen es – aufmerksam gelesen haben muss.
Dass ich die Frey’schen Wortstellungen während so langer Zeit so offenkundig vergessen oder auch verdrängt habe, erstaunt mich um so mehr, als ich nun beim Wiederlesen auf eine Vielzahl von Beobachtungen, Feststellungen, auch Behauptungen stosse, die, in anderer Formulierung, auch von mir sein könnten. Doch eben diese Nähe, wenn nicht Verwandtschaft des poetologischen Denkens dürfte der Grund für meine keineswegs willkürliche, wohl unbewusste Distanznahme gewesen sein. Im übrigen führte das vorübergehende Vergessen nicht zur Löschung des damals Gelesenen und Begriffenen, vielmehr ermöglichte es, wie sich jetzt herausstellt, eine produktive Latenz mit unterschwelliger Wirkkraft.
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Wortstellungen zur Stellung der Poesie – der zunächst preziös anmutende Werktitel macht deutlich, dass hier etwas anderes zu erwarten ist als ein Essay, ein Aufsatz, eine Abhandlung der üblichen Machart. Wörter (eher denn Worte) sollen eigens konstelliert werden, um die Poesie vorrangig als Sprachkunst auszuweisen und glaubhaft zu machen, statt sie, wie üblich, bloss nach Ideen, Bildern, Stimmungen zu beurteilen. Ein asketischer, kaum durchsetzbarer Anspruch, da der Gedichtleser, nicht anders als die Zeitungsleserin, gemeinhin bloss wissen will, was hinter dem Text steht beziehungsweise was der Text bedeutet. Das, was der Text allenfalls bedeutet, wird für seine Aussage gehalten – man konzentriert sich auf das Gesagte und vergisst (überliest, übersieht, überhört) dabei das Sagen, das von der Aussage, als deren Voraussetzung und Medium, nicht zu trennen und für alles Gesagte konstitutiv ist.
Es geht um die Synthetisierung dessen, was gesagt wird, mit der Art, wie es gesagt wird. Das poetische Sprachgeschehen ist, nach Frey, dadurch charakterisiert, dass es, „anstatt auf etwas ihm Äusserliches abzuzielen, sich selbst vermittelt“. So leicht dies alles einzusehen ist und so trivial man es finden mag – es zu vermitteln bleibt eine schwierige Daueraufgabe. Die dichterische Moderne – von Mallarmé über Chlebnikow bis hin zu Gottfried Benn − hat sich daran ebenso abgearbeitet wie die neuzeitliche Linguistik und Sprachphilosophie, und doch wird Poesie noch heute so gelesen, oft auch so geschrieben, als wäre sie bloss eine schöne (oder geschönte) Form schriftlicher Kommunikation, folglich ein Mittel der Verständigung, nicht anders als bei diskursiven, lediglich mitteilenden Textsorten.
Dass nun aber Kommunikation durch das Gedicht keineswegs erleichtert, viel eher erschwert oder gar verunmöglicht wird, und dass dies nicht abschreckend zu sein braucht, sondern zum Faszinosum dichterischer Rede gehört, habe ich selbst immer wieder darzutun versucht, und Hans-Jost Frey tut es seinerseits auf ganz besondere Weise in den Wortstellungen. Das Besondere besteht hier darin, dass über dichterische Rede in dichterischer Rede gesprochen wird, dass also, dem Titel gemäss, die „Stellung der Poesie“ (ihr Status, bei Frey auch: ihre „Statt“) in andern Worten nachgestellt und solcherart ein Modell, wenn nicht ein Ideal geschaffen wird, in das jedes Gedicht − gleich in welcher Sprache, von welchem Autor, aus welcher Epoche und in welcher Qualität – eingepasst werden kann und an dem es auch gemessen werden soll.
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Der Hang zur monologischen, ja apodiktischen Behauptung ist bei Hans-Jost Frey deutlich ausgeprägt, stört aber kaum, da er auf eingängige Slogans und argumentative Vereinfachungen durchweg verzichtet. Statt dessen präsentiert er – nach dem offenkundigen Vorbild von Stéphane Mallarmés Absonderlichkeiten (Divagations, 1897) − seine Thesen in hochkomplexen vielgliedrigen Sätzen, die sich dann erst erschliessen, wenn man sie bei engster Lektüre Wort für Wort durchnimmt und ihre zerstückelte Syntax auf einen Nenner der Verständigung bringt. Solche Verständigung kann durchaus auch scheitern; sie kann aber ebenso zur Einsicht führen, dass sich das Gesagte der Verständigung (oder jedenfalls eindeutigem Verstehen) entzieht.
Die von Mallarmé mit abgründiger Ironie oftmals evozierte „Schande des Verstandenwerdens“ kann sich unversehens in eine Chance verkehren – die Chance des Lesers, die Bedeutungsleere des dichterischen Texts zu kompensieren durch eigene Sinnbildung und damit über die Intentionen (oder die Möglichkeiten) des Dichters hinauszugreifen. Die Lektüre poetischer, auch hermetischer Texte wird unter solchen Prämissen zum „Abenteuer“. Hans-Jost Frey umschreibt und deutet den Akt solcher Lektüre mit diesen (und ähnlichen) Worten: „Zwischenräume, in denen die Richtung unsicher wird, sprengen, Seitenwege öffnend und den Horizont rundum erweiternd, die Enge der Strenge. Eingeladen, im Weitergehen Umschau zu halten, ist man, lesend wie schreibend, vom Zwang zu planen befreit, jederzeit für das Abenteuer des Einfalls bereit.“
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Die Wortstellungen richten sich gegen die – selbst unter Dichtern – weitverbreitete Sprachvergessenheit und tragen gleichzeitig zur Erneuerung eines weitgehend verlorenen Sprachvertrauens bei. Solches Sprachvertrauen stellt Frey seinerseits unter Beweis, indem er seine Thesen, statt sie logisch herzuleiten, aus Wortspielen entwickelt und somit – gewissermassen – die Sprache selbst zum Sprechen bringt und zum Anwalt seiner Poetik macht. Man beachte in der eben zitierten Passage, wie aus dem Gleichklang von Enge/Strenge/sprengen oder Seiten-/-weiternd/Weiter-/befreit/bereit ein virtuelles Sinngefüge entsteht, dessen Beglaubigung dem Leser überlassen bleibt.
„Ich bin so sprachgebildet“, notiert Frey an anderer Stelle, „wie ich, Sätze bildend, mich der Sprache aussetze.“ Auch das ist ein von der Sprache diktierter Satz insofern, als er sich über Assonanzen, mithin über seine Lautlichkeit, und nicht über begriffliche Fügung aufbaut: gebildet/bildend, Sätze/-setze. „Sprachgebildet“ – das verweist im gegebenen Kontext nicht auf sprachliche Kompetenz, gewonnen durch Ausbildung, vielmehr darauf, dass der Autor durch die Sprache selbst herausgebildet wird. − Assonanzen sind auf sinnliche Wahrnehmung angelegt, übernehmen aber (oder ersetzen) die Funktion rationaler Begriffe. So auch in vielen weitern „Wortstellungen“ (Kursivierungen von mir): „Das Gedicht behauptet sich, sich behauptend, als Hauptsache.“ − „Mitgeteiltes befreit sich, übermittelt, vom Mittel.“ − „Das Gedicht, hörend verstanden, verstört nicht, noch gehört es, vernommen, mir …“ Usf.
Man kennt diese wortspielerische, bisweilen auch wortquälerische Redeweise von manchen Vertretern der „dekonstruktiven“ Textexegese, und man mag sich fragen, ob und inwieweit solch klangbestimmtes Sprechen logische Argumentation einerseits, dichterische Metaphorik anderseits ersetzen oder gar überbieten kann. Bei Hans-Jost Frey ist das ingeniöse Sprachspiel allerdings nicht so dominant wie bei den französischen Wortführern des Dekonstruktivismus, es wird relativiert und zugleich ergänzt durch den Einsatz unterschiedlichster rhetorischer Figuren, die allesamt – vom Chiasmus über die doppelte Negation bis zum Paradoxon – ebenfalls über eine Eigengesetzlichkeit verfügen, die eher aus dem Sprachmaterial selbst denn aus dem Willen des Autors erwächst.
Stéphane Mallarmé hat diese gedrängte, dabei vielfach gebrochene Ausdrucksweise, die auch er selbst zu seinem Personalstil gemacht hat, als eine besondere Art des Stammelns charakterisiert: „Ein Stammeln“, so schreibt er in seinem Exkurs über Das Geheimnis in der Literatur (1896), „wie der Satz es zu sein scheint, aufgestaut hier in reichlich verwendeten Einschüben wird vielfältiger Einklang und entzieht sich in eine Art höheren Gleichgewichts, mit vorbestimmtem Sichwiegen von Gegenläufigkeiten.“
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Im Unterschied zu Stéphane Mallarmé, der vor etwas mehr als hundert Jahren mit seinen poetischen und poetologischen „Absonderlichkeiten“ nach einem öffentlichen Wahlverfahren zum Dichterfürsten Frankreichs werden konnte, bleibt Hans-Jost Freys beharrlicher Einsatz zur Etablierung eines neuen Sprachvertrauens am Leitfaden der Poesie weitgehend unbelohnt, obwohl doch gerade heute, bei zunehmender Sprachvergessenheit, umsichtige Autoren wie er und seinesgleichen dringend gefragt wären – gefragt sein müssten.
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Schlußakkord. – Reim endet immer
innen. Entert Sinn. Verrät
Tang an den Tag. Schmerz an den
Scherz. Verrät
was gewesen sein wird. Was
mehr ist
als Nacht. Verhält sich zum andern
wie Honig
zum Licht. Wie Laut zu
Leim. Wo’s außerdem um Leben
geht. Doch
nie beginnt er.
[für Hans-Jost Frey]
Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Endnoten. Versprengte Lebens- und Lesespäne, Ritter Verlag, 2019
HOMMAGE AN EINEN PFLUG . – Heute, am Rand eines herbstlich frisch gepflügten Feldes, begegne ich einem dort zurückgelassenen, vergessenen Pflug alten Stils, der noch von einem Pferd hätte gezogen werden können. Als hätte Karl Marx , der so sich den historisch ausgedienten ,Staat‘ im Freiluftmuseum der realisierten Utopie, als nutzlos gewordenen, harmlos vor sich hin rostenden Schrott , vorstellte, ihn eigens für mich dort arrangiert. Die Pflugschar funkelt in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, ohne jegliche Spur von der Arbeit des Wendens fett glänzender Schollen. Als ob sie mich auslacht oder anlacht , als ob sie mir etwas bedeuten möchte, was ich nicht verpassen darf hier und jetzt. Ich versuche mit der Hand sie zu verstehen. Ich streichle die doppelt in sich gebogene Fläche und merke: das ist, in schneidender Brillanz, der stahlgewordene Ausschnitt eines Möbiusbandes, welche die Gegensätze nicht auseinander- und einander gegenüber hält, sondern, kopfüber, ineinandersteckt, das ist, zum Anfassen: Realmetapher von Ironie. Das ist , Erde wie Rede wendend, von unten nach oben, von oben nach unten, Äußeres nach innen, Inneres nach außen , Früheres ins Spätere verkehrend Späteres ins Frühere, das ist – im Zeichen von Fruchtbarkeit – : eine archaische Schreib- und Denk- und Übersetzungsmaschine
Pflug – ich danke dir!
Christiaan Lucas Hart Nibbrig, Manuskripte, Heft 206, Dezember 2014
Schlußakkord. – Reim endet immer
innen. Entert Sinn. Verrät
Tang an den Tag. Schmerz an den
Scherz. Verrät
was gewesen sein wird. Was
mehr ist
als Nacht. Verhält sich zum andern
wie Honig
zum Licht. Wie Laut zu
Leim. Wo’s außerdem um Leben
geht. Doch nie beginnt
er.
(für Hans-Jost Frey)
Felix Philipp Ingold
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