EINEN GALGEN FÜR DEN DICHTER
– Poesie in der permissiven Gesellschaft. –
Die Dichter früherer Zeiten lebten in einem mehr oder weniger prohibitiven Kulturmilieu. Es gab zahlreiche gesellschaftliche Gebote und Verbote, nach denen sie sich richten mußten. Und auch die ästhetischen Hüter der Kunst, die Sachwalter des lyrisch-geistigen Erbes, erteilten ganz bestimmte Auflagen. Es wurden die Respektierung festgelegter formaler Richtlinien verlangt, das Befolgen handwerklicher Normen, und ein Regelverstoß war für den Autor mit einem erheblichen Risiko verbunden.
Jede echte Erneuerung erforderte nicht nur Intuition und Können, sondern vor allem auch Mut. Die poetischen Umwälzungen waren stets vitale und intellektuelle Wagnisse – anders als heute, da wir, jedenfalls in der westlichen Welt, nicht mehr in einem prohibitiven, sondern in einem permissiven Kulturambiente leben, in einem System, in dem das Provokante und das Obszöne sehr wohl geduldet, ja geradezu erwünscht sind.
Nicht so sehr die künstlerische Leistung zählt, sondern das spektakuläre Ereignis: alles, was Aufsehen erregt, was Schlagzeilen macht… sowie jedwede Novität, wozu auch Juvenilität gehört, jugendliche Unverbrauchtheit, der Charme und Chic einer neuen Generation, die allerdings in der allgemeinen Geschichts- und Gedächtnislosigkeit ebenso rasch dem Vergessen anheimfällt wie die vorangegangenen Generationen.
Unsere permissive Gesellschaft läßt alles zu, doch dies nicht aus Liberalität, vielmehr aus Sensationshunger, Nervenkitzel und Innovationsstreben. Das Angebot soll groß und abwechslungsreich sein. Es soll unentwegt etwas passieren, etwas Überraschendes, Amüsantes, Frivoles, Gewalttätiges.
Der Preis dafür, daß manch einer gleichsam über Nacht und ohne besondere Qualifikation berühmt wird, ist die rasche Vergänglichkeit von Ruhm. So wie es keine Maßstäbe mehr gibt, an denen Kunstwerke gemessen werden können, gibt es keine moralische Verpflichtung mehr, etwas über den aktuellen Augenblick hinaus im kulturellen Repertoire zu halten.
Die Tradition, die früher erdrückend war und die die freiheitlichen Regungen des Einzelnen auf ein Minimum beschränkte, ist ersetzt durch eine allgemeine Zügellosigkeit. Scharen poetischer Aktivisten produzieren sich ganz nach eigenem Belieben, ungeachtet der Tatsache, daß es in dem orientierungslosen Bereich der Subkultur kaum noch jemanden gibt, der vom Tun der anderen Kenntnis nimmt.
Ein falsch verstandener Demokratismus hat nicht die Poesie, wohl aber den Dilettantismus gefördert, und überall tummeln sich Selbermacher und Pausenclowns, die, in völliger Unkenntnis von dem, was Poesie war und immer noch ist, lyrische Hongkong-Ware für den Grabbeltisch anfertigen. Der Typus des postmodernen Gelegenheitsdichters nimmt nichts so ernst wie seine eigenen hausgemachten Gedanken und Gefühle. Unter Berufung auf Begriffe wie Individuation und Selbstverwirklichung feiern süßer und saurer Kitsch ihr fröhliches Comeback.
Vergessen sind die Leistungen der klassischen Moderne, und so offerieren marginale Poeten oft noch die größte Trivialität als Beitrag von weitreichender Bedeutung. Was sich vielerorts darbietet, steht in krassestem Widerspruch zu dem, was einst Leo Trotzki geweissagt hatte, als er mit futuristisch-marxistischem Überschwang postulierte, Kunst und Technik würden eine neue schöpferische Verbindung eingehen, auf einem sehr hohen Bewußtseinsniveau, sobald erst einmal die fortschrittshemmenden Kräfte der rohen Naturgewalten gezügelt seien.
Die betrübliche Tatsache, daß der Faden der Überlieferung abgerissen und daß das Gespräch zwischen den Generationen so gut wie beendet ist, wird vom Kulturbetrieb – und also auch von den marktbeherrschenden Verlagen – dadurch überspielt, daß man sich immerfort an den jeweils letzten Jahrgang hält und, im Namen vermeintlicher Nachwuchspflege und Talentsuche, einen schamlosen Bambinokult betreibt.
Man nimmt, ähnlich wie in der Schlagerindustrie, aus einer bestimmten Altersgruppe ein paar geeignete junge Leute heraus und baut sie zu Stars, zu Idolen, auf. Das Leistungsniveau spielt hierbei keine besondere Rolle, ja es muß sogar vergleichsweise niedrig und populistisch sein. Nur so läßt sich erreichen, daß sich möglichst viele junge Menschen eine gewisse Zeit hindurch emotional identifizieren können – solange, bis wiederum eine Generationszäsur erfolgt und der nachdrängende Jahrgang auf ein anderes Idol und andere modische Attribute eingeschworen werden kann.
Natürlich gibt es neben solchen Erscheinungen und Tendenzen weiterhin sehr ernsthafte und individuell geartete Lyriker, auch unter den Nachwuchsautoren. Doch diese echten Künstler, die inneren Impulsen und nicht äußeren Verlockungen folgen, haben es in unserer Zeit kultureller Permissivität womöglich noch schwerer als ihre Vorgänger in früheren Epochen, die einem starken gesellschaftlichen Druck unterlagen.
Auch in einer Umwelt, in der (scheinbar) alles erlaubt ist, stellt sich für den Dichter die Frage nach den Impulsen seines Schaffens. Was erregt ihn? Was stimuliert ihn? Was setzt ihn in Gang?
Der Mensch, den es dazu drängt, Gedichte zu schreiben, wird weitgehend durch Unbewußtes oder Vorbewußtes produktiv. Poesie, wie alle Kunst, speist sich in einem sehr hohen Maße aus dem Reservoir des Affektiven. Sie hat mehr als mit dem Tagesbewußtsein mit Traum und Tagtraum zu tun, mit Inspiration und Imagination. Das erklärt ihre Bildhaftigkeit, ihre besondere Art von Logik, die metaphorisch-schweifend und nicht begrifflich-schlußfolgernd ist.
Die Apologeten der reinen Vernunft, die das Universum zu einer Rechenaufgabe und das Leben auf unserem Planeten zu einem soziologischen Fallbeispiel machen wollen, haben seit je in den Dichtern ihre natürlichen Widersacher gesehen. Platon wollte die Poeten aus seinem Idealstaat verbannt wissen. Und auch die Stifter der großen monotheistischen Religionen erblickten in den sinnlich-anschaulichen Inhalten der Poesie eine Bedrohung für ihre abstrahierenden Jenseitskonzepte. Später dann haben die illustren Geister der Aufklärung dem Emotionalen auf ihre Art den Krieg erklärt. Man denke nur an Voltaire der Rousseaus Naturliebe derart verabscheute, daß er, dem linken Pariser Wochenblatt Le Nouvel Observateur zufolge, den Kontrahenten anonym denunzierte, um ihn in Genf an den Galgen zu bringen… ein wahrhaft sprechendes Indiz dafür, welche Aversion die verabsolutierte Vernunft dem Triebhaften gegenüber verspürt.
Dichter sind offensichtlich, ihrer Art des Welterlebens wegen, mit den Angehörigen von Naturvölkern verwandt, denen Claude Lévi-Strauss die Fähigkeit des „wilden Denkens“ nachrühmt. Dieses wilde Denken ist nicht so sehr primitives Denken; es stellt vielmehr eine (in der modernen technischen Zivilisation freilich unerwünschte) Form von Lebendigkeit dar: kreative Anti-Raison. Etwas, das noch nicht gezähmt ist und über das sich deshalb auch nicht planend verfügen läßt, meldet sich zu Wort – nicht in der klärenden Sprache der Vernunft, sondern in einem Idiom halluzinatorischer Bilder.
Die Abneigung, die gewisse rigorose Progressisten der Poesie gegenüber verspüren, ist dieselbe, die einst die Religionsstifter zu ihren Verdikten greifen ließ. Man fürchtet – in allen Kulturen, und durch die Jahrtausende hindurch – die triebaufgeladene Dynamik, die sich in poetischen Bildern ausdrückt. Gedanken kann man begreifen, zergliedern, zensieren, bekämpfen, umwandeln, Gefühle nicht oder doch nur sehr viel schwerer.
Das poetische Bild ist gefährlich, weil es eine Vokabel des Gefühls ist. Es ist unwägbar, ambiguent – ein durchgepaustes Psychogramm verborgener Seelenregungen, in die nicht einmal die moderne Gedankenpolizei, verkörpert durch Sozialpsychologie, Motivforschung etc., hinreichend Einsicht besitzt.
Um das biologische Potential, das sich in poetischen Bildern artikuliert, zu neutralisieren, bedienen sich Rationalisten und Funktionalisten eines recht wirkungsvollen Tricks. Sie benutzen die Suggestivität der biblischen Sentenz: Am Anfang war das Wort.
Das Wort – nicht das Bild. Der Gedanke – nicht das Gefühl. Dem ist jedoch nicht so: Am Anfang stand und steht immer eine Anmutung, ein glück- oder schreckhaftes Erleben ein Gefühl oder – Steigerung von Gefühl – ein Affekt.
Die Eingebung, für Poetisches wie für Gedankliches, kommt aus der Anschauung, aus der Welt der Körper, nicht aus dem Reich der Ideen.
Newton sieht einen Apfel herabfallen, und erst das bringt ihn auf das Gesetz der Gravitation.
Der Mensch ist in erster Linie ein sinnliches Geschöpf, auf dessen Schultern jener Intellektuelle hockt, der sich ihm lediglich auf der letzten Wegstrecke seiner langen stammesgeschichtlichen Entwicklung hinzugesellt hat.
Es war paradoxerweise der homo novus der Aufklärung, der anfing, sich mit einem mythologischen Wesen zu verwechseln, nämlich mit der griechischen Göttin Pallas Athene die bekanntlich als reine Kopfgeburt dem Haupte ihres Vaters Zeus entschlüpfte. Doch der Preis für so viel intellektuelle Exklusivität war hoch, er bestand in steriler Jungfräulichkeit, in der Unfähigkeit zu sinnlichen Kontakten.
Die Überantwortung an das abstrakte Denken geht einher mit einem Schwund an vitaler Substanz. Das magische Erleben, die Phantasie, die schönen wie die schrecklichen Trugbilder – alles weicht unerbittlich der Erklärung, der Formel, dem definitorischen Begriff.
„Es gibt keine Größe, es gibt allein die Verwirrung der Sinne“: Dieses Postulat des Lateinamerikaners Miguel Angel Asturias hat keinen Platz mehr in einer Realität, in der man die Träume psychoanalytisch durchkämmt und alles unterm Zement logischer Zuordnungen erstickt.
Der zeitgenössische Mensch darf wohl eine Sprache haben, doch keine Bilder; Worte, doch keine Träume. Das ist eine der ungeschriebenen Verhaltensregeln des zivilisatorischen Fortschritts, der zwar (der Technik eng verbundene) Film- und Fernsehbilder zuläßt, aber keine in der Dunkelkammer eines unkontrollierten Unbewußten entstandenen Metapherngedichte.
Die klassische Empfehlung „Bilde, Künstler, rede nicht“ ist zu einem Imperativ geworden, mit dessen Hilfe man diejenigen niederzuhalten versucht, die eine Poesie der Affekte mit einer adäquaten Poetik versehen.
Soziologen, Politiker und Linguisten melden das Recht an, in Sachen Dichtung kompetenter zu sein als die Dichter selber. Schon Federico García Lorca hatte angesichts der zunehmenden Fremdbestimmung ausdrücklich hingewiesen auf seine „Pflicht als Propagandist des lyrischen Sinns, der heute nahezu verloren gegangen ist durch die Schuld jener Literaten und Intellektuellen, die mit den… mächtigen Waffen der Ironie und der Analyse fechten“.
Einerseits haben wir heute eine große pseudo-demokratische Bewegung, die das Schreiben von Gedichten zu einer folgenlosen Massenerscheinung werden läßt, zu einer Art lyrischer Flippertätigkeit für jedermann, andererseits haben wir, im vermeintlich seriösen Bereich, eine Kulturindustrie, die nach den Mechanismen eines sich selber steuernden Regelkreises alles oder doch fast alles auswirft und wegzensiert, was nicht den Vorstellungen von einer Poesie des Technizistisch-Herstellbaren entspricht.
Das Wissenschaftsdenken, gegen das so viele Künstler lauthals opponieren, bestimmt in Wahrheit die ästhetischen Vorstellungen.
Es ist Tatsache, daß Originalität nicht, wie einige annahmen, auf Impuls oder Intuition beruht. Meist muß man die Originalität, will man sie aufspüren, ganz zielbewußt ins Auge fassen…
Seit Edgar Allen Poe 1846 in seinem poetologischen Rechenschaftsbericht „The Philosophy of Composition“ zum erstenmal von der Lyrik als einem rational herstellbaren Produkt gesprochen hat, meinen alle, die das Verfassen von Versen als eine rein linguale Reißbrettarbeit darzustellen versuchen, einen grandiosen Kronzeugen zu besitzen.
Endlich war es möglich geworden, dem Dichter seine Seele abzusprechen und der Dichtung ihre Aura zu rauben. Und als man die Poeten schließlich noch nötigte, sich entweder diskursiv-politisch zu äußern oder aber die Sprache selber zum Gegenstand des schöpferischen Aktes zu machen, konnte man sie quasi hindern, sich weiterhin affektiv auszudrücken.
Gerade der aufgeklärte Mensch des technischen Zeitalters läßt sich auf kulturellem Gebiet leicht in einem Zustand verschleierter Unmündigkeit halten, einfach dadurch, daß man ihn seinem Selbst entzweit und ihn an die Kette gesellschaftlicher Außenleitung legt. Oder, anders gesagt: die Überbetonung sozialer und sprachkritischer Momente dient direkt oder indirekt der Unterdrückung psychischer Erlebnisinhalte, ureigenster menschlicher Verlautbarungen.
– EINEN GALGEN FÜR DEN DICHTER – Poesie in der permissiven Gesellschaft
– MANGEL AN SINNLICHER VORSTELLUNGSKRAFT – Im Würgegriff der Technik
– RÜTTELN AM KÄFIG DER EXISTENZ – Die metaphysische Rebellion
– WECHSELWIRKUNG VON WACHSEIN UND TRAUM – Dadaismus und Surrealismus
– DER MOND VERKAM ZUR NEONRÖHRE – Die Dominanz der großen Städte
– GRÜN, WIE ICH DICH LIEBE, GRÜN – Vom Naturgedicht zur Ökolyrik
– DAS HALKYONISCHE, DAS HEITERE – Der Süden als Utopie des Nordländers
– BEAT, POP, UNDERGROUND – Einflüsse aus den USA
– EISZEIT- UND ENDZEITGEDICHTE – Wie depressiv sind unsere Poeten?
– LYRIK ZWISCHEN SELBST- UND FREMDBESTIMMUNG – Die deutsche Dichtung nach 1945
– STÖRFAKTOR LITERATURBETRIEB – Das Treiben der Makler und Macher
– SPRACHBILDER – VOKABELN DES GEFÜHLS – Die Unentbehrlichkeit von Metaphern
– AUSDRUCKSMITTEL DES AUTONOMEN MENSCHEN – Über den freien Vers
– SEKUNDENGEDICHTE – Die erlebnismäßige Vertiefung des Augenblicks
– DIE FÜLLE NOCH NICHT ENTMISCHTER ERSCHEINUNGEN – Das Kindliche in der Dichtung
scheint alles erlaubt zu sein. Was sonst zur Grundausstattung jedes künstlerischen Handwerks gehört – die Kenntnis von Traditionen, Gesetzmäßigkeiten und der Umgang damit – ist in der Lyrik weitgehend einer dilettantischen Beliebigkeit gewichen. Jeder und jede darf dichten und meint es auch bald zu können; und sei das Thema nun der Weltfriede, die Naturzerstörung oder der jüngste Konflikt in der Wohngemeinschaft – alle noch so leichtfertig aufgeschriebene Gelegenheitspoesie schreit nach Veröffentlichung und literarischer Anerkennung …
Hans-Jürgen Heise, dessen Literaturkritiken regelmäßig in den großen deutschsprachigen Feuilletons erscheinen, ist seit Jahrzehnten ein unermüdlicher Leser in- und ausländischer Lyrik. Dieses Buch ist der Extrakt seiner Erfahrungen, Einsichten, Urteile.
Heise spürt vom Dadaismus und Surrealismus über die „klassische“ Moderne bis zur heutigen „Postmoderne“ den individuellen Motiven und den geschichtlichen Zusammenhängen poetischer Texte nach. Er untersucht Beispiele moderner Lyrik aus den verschiedensten Ländern nach poetologischen, psychologischen und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten und trennt mit provozierend kritischem Blick Modisches von Hintergründigem, Plattes von Inspiriertem.
Ein Buch, das in einer Zeit gelangweilter Orientierungslosigkeit unverhohlen Maßstäbe anlegt, zur Diskussion herausfordert und zum Weiterlesen über den engen mitteleuropäischen Horizont hinaus.
Hans-Jürgen Heise spürt vom Dadaismus und Surrealismus über die „klassische“ Moderne bis zur heutigen „Postmoderne“ den individuellen Motiven und den geschichtlichen Zusammenhängen poetischer Texte nach. Er untersucht Beispiele moderner Lyrik aus den verschiedensten Ländern nach psychologischen, gesellschaftspolitischen und poetologischen Gesichtspunkten und trennt mit provozierend kritischem Blick Modisches von Hintergründigem, Plattes von Inspiriertem. – Ein richtungsweisendes Buch für Lyrikleser und für jene, die es wieder werden möchten.
Drumlin Verlag, Klappentext, 1986
Hans-Jürgen Heise, 1930 in Pommern geboren und seit vielen Jahren in Kiel lebend, hat parallel zu seiner Lyrik immer wieder Aufsätze und Essays zur Dichtung veröffentlicht. Dabei hat er sich insbesondere als Liebhaber und Kenner der spanischen und iberoamerikanischen Literatur ausgewiesen. Eine dreibändige Aufsatzsammlung Heises ausschließlich zu diesem Themenkomplex wird im Neuen Malik Verlag erscheinen; der erste Band dieser „Hispanischen Trilogie“ liegt bereits unter dem Titel Bilder und Klänge aus al-Andalus vor.
Daß Dichtung aus Spanien und Lateinamerika für Reise mehr ist als bloß ein exotisches Gewürz, daß ihm Gedichte aus fremden Sprachen auch darum wichtig sind, weil sie einen frischen Wind bringen in die ihm oft muffig und provinziell erscheinende deutsche Lyrik, zeigt Heises neuer Band Einen Galgen für den Dichter mit dem Untertitel „Stichworte zur Lyrik“. Er enthält Aufsätze, deren didaktische Absicht unverkennbar ist.
Beispielsweise ärgert sich Heise – und das ganz zu Recht – über einen heute in unserer Poesie grassierenden Dilettantismus:
… überall tummeln sich Selbermacher und Pausenclowns, die, in völliger Unkenntnis von dem, was Poesie war und immer noch ist, lyrische Hongkong-Ware für den Grabbeltisch anfertigen.
Die Leistungen der klassischen Moderne seien von den „postmodernen Gelegenheitsdichtern“ vergessen, die sich „einer Art lyrischer Flippertätigkeit für jedermann“ hingeben.
Der Kulturbetrieb, die Verlage tragen – so Heise – höchst wenig dazu bei, den Faden der Überlieferung neu zu knüpfen und das Gespräch zwischen den Generationen zu fördern. Von ihnen wird die Misere „dadurch überspielt, daß man sich immerfort an den letzten Jahrgang hält und, im Namen vermeintlicher Nachwuchspflege und Talentsuche, einen schamlosen Bambinokult betreibt“.
Heise beläßt es aber nicht dabei, die Situation zu beklagen – er versucht, mit seinen Informationen und seinen Meinungen zur Verbesserung der Lage beizutragen. Junge Autoren (und solche, die es werden wollen) und alle, die sich für Lyrik interessieren, können viel von ihm lernen: über Dadaismus und Surrealismus etwa, über das deutsche Naturgedicht und über die Einflüsse der amerikanischen Poesie, über freie Verse und über Metaphern, über den Süden als Utopie der Dichter und über den Literaturbetrieb als Störfaktor.
Heise schreibt kein Fachchinesisch, er drückt sich so aus, daß jeder interessierte Laie ihn verstehen dürfte. Seine Arbeiten sind nicht wissenschaftliche Aufsätze mit Quellenangaben und Anmerkungen, sondern Essays, die desto anregender und erfrischender wirken, je deutlicher Reise seine ganz persönliche Meinung sagt – wenn er einmal nur darlegt und referiert, werden die Texte passagenweise ein wenig trocken.
Heise plädiert nicht für die Rückkehr zur Tradition, sondern dafür, daß man die Tradition kennt, ehe man sich von ihr entfernt: „Lyrische Spontis“ mit historischer Gedächtnislosigkeit schaffen nämlich keine besonders neue, schwungvolle Dichtung, vielmehr kehren bei ihnen ausgehöhlte Formen und klischierte Erlebnismuster „mit der Gewalt einer tückischen Unterströmung“ zurück. Und wie schon in früheren Essays tritt Heise auch jetzt wieder vehement ein für die Metapher als „Ausdruck unserer psychischen Natur“, für den Traum, für die Phantasie, für das Affektive und für das Dionysische – ohne freilich einem gefährlichen Irrationalismus das Wort zu reden.
Man muß Heises Ansichten zur Poesie durchaus nicht in allem zustimmen und sein Urteil über einzelne Autoren durchaus nicht immer teilen. Doch sind seine Aufsätze so reich an Material und Informationen und mit einem so spürbaren Engagement für die Poesie geschrieben, daß man sie allemal mit Gewinn liest.
Jürgen P. Wallmann, Neue Deutsche Hefte, Heft 194, 2/1987
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