ANWEISUNG AN SISYPHOS
was du tust, ist aussichtslos. gut:
du hast es begriffen, gib es zu,
aber finde dich nicht damit ab,
mann mit dem stein, niemand
dankt dir; kreidestriche,
der regen leckt sie gelangweilt auf,
markieren den tod. freu dich nicht
zu früh, das aussichtslose
ist keine karriere. mit eigner
tragik duzen sich wechselbälge,
vogelscheuchen, auguren. schweig,
sprich mit der sonne ein wort,
während der stein rollt, aber
lab dich an deiner ohnmacht nicht,
sondern vermehre um einen zentner
den zorn in der welt, um ein gran.
es herrscht ein mangel an männern,
das aussichtslose tuend stumm,
ausraufend wie gras die hoffnung,
ihr gelächter, die zukunft, rollend,
rollend ihren zorn auf die berge.
Hans Magnus Enzensberger liest Gedichte aus verteidigung der wölfe.
1929 geboren, ist man 1945 gerade so alt, daß man das Ende des Krieges ins Bewußtsein hat nehmen können. Jetzt nur schnell weg von der Familie, auch wenn die Mama wunderbar ist, der kleinbürgerliche Hintergrund ist nicht zu ertragen. Die kleinbürgerliche Familie wird im Bewußtsein mit dem Anlaß und dem Ende des Krieges synchronisiert; die Formel lautet: Bankerott. Fast alle großen Begabungen entstehen aus kleinbourgeoisen Zusammenbrüchen, sie entstehen nicht aus einer hypothetisch fortschreitenden zweiten Generation von Metalldrehern und Lokomotivführern, nicht aus der finanziellen ambiance von Generalvertretern und Galeriedirektoren, sondern aus der Trauer, aus der Langeweile, aus der Dekadenz, die in den Wohnungen fallierender Buchprüfer, resignierender Studienräte, erfolgloser Schauspieler herrscht. Wenn man Brüder hat, so übt man mit ihnen Geheimsprachen ein, Snobs-Diktion, die nicht einmal von der Mama verstanden werden darf. Aber dann läuft man auch schnell davon, ins Studium, in europäische Trampfahrten, „auf den lippen versäumte gedichte“, wie man später schreiben wird, obwohl man sie gar nicht sehr lange versäumt, man findet sie plötzlich in seinen Taschen vor, zusammen „mit morgensternen, mit drachen aus grünem papier, mit netten tiraden, säuglingen, kronen und trommeln“, mit Erinnerungen an Pablo Neruda, den man übersetzt, mit Einflüssen, Abhängigkeiten, Anregungen, die man wegwirft oder behält, denn man ist nicht naiv, man ist sehr bewußt, mit 25 Jahren baut man schnell und summa cum laude seinen Doktor, um frei zu sein.
Mit 25 Jahren ist Enzensberger frei. Frei ist man jedoch immer nur für Augenblicke. Frei ist man, solange man für ein Taschengeld Jazz-Platten in Funkstudios trägt, solange man Abende hindurch in Paris zu Füßen von Marisa Casares sitzt oder mit Roger Pillaudin, mit Bernard Dort und den anderen Brüdern im Geiste die Nächte durch diskutiert. Es ist die Zeit, in der Enzensberger noch Zeit hat, in seinem „koffer ist viel bekritzeltes papier für meinen winzigen vetter: / der soll luftschiffe falten daraus, schön von der brücke segelnde“, und das Papier wird zu nichts weiter benutzt als zum Notieren einfacher Feststellungen, allerdings überraschender, morgenfrischer Feststellungen, „für geringes geld ist feil eine nördliche insel / mit zweimal fünf zähnen küßt man einander in jerez / ein karussell heißt pferdemühle in holland / in spanien hurtiger vetter / länder gibts ohne türklinkeri andere ohne trauben“, ja, es ist die Zeit der freundlichen Gedichte, die Zeit, in der Enzensberger noch in einem herrlichen Gedicht mit dem Titel hótel fraternité seinen Feind in sein Inneres übernimmt und als seinen Bruder anspricht.
Der Augenblick geht vorüber. Eine Entscheidung ist immer eine Entscheidung gegen das Frei-Sein. Enzensberger wählt einen Beruf, denn ein Dichter muß einen Beruf haben, „um leben zu können“, – dies ist die von der Gesellschaft akzeptierte Bedingung. Im Jargon der Verleger, der Funkleute, der Kulturfunktionäre wird noch eine andere Formel benutzt. Sie lautet: der Autor wird eingekauft. Das ist noch nicht einmal Zynismus. Seit mehr als hundert Jahren wird in der kapitalistischen wie in der kommunistischen Produktionsgesellschaft das Gedicht aus einem Tabu in eine Ware verwandelt. Der Dichter kann sich verkaufen oder nicht verkaufen; in letzterem Falle wird er nicht produziert und infolgedessen nicht konsumiert, es gibt ihn praktisch nicht, die „Stillen im Lande“ mögen ehrwürdige Leute sein, aber sie sind keine Schweigenden, sondern Stumme; ihre Lautlosigkeit erfüllt keine dialektische Funktion. Enzensberger ist zu klug, um die Lage nicht einzusehen, natürlich verkauft er sich, aber was ihn mit Entsetzen erfüllt, ist die Erkenntnis, daß er sich in der Welt wiederfindet, aus der er geflohen ist. Die Welt der Funkhäuser, Redaktionen und Verlage ist die Welt des geistigen Kleinbürgertums, „vom bildschirm lächeln / die zinken des wuchers / die kontinente verhören einander / über den totschlag verhandeln / atome und prokuristen“, dies stürzt ihn in maßlose Trauer und später in Verachtung; eine eminente Begabung, in zehn Minuten hervorschüttelnd, worüber andere, die sich schwerer tun, lange brüten, bedient er verächtlich die Apparate und die Funktionäre, wirft ihnen Modell-Manuskripte hin oder routinierte Mache, greift in einer blendenden Analyse den Machtapparat in seiner Schein-Opposition, dem allmächtigen Spiegel, an und verkauft eben jenem „Nachrichten-Magazin“ das Recht, den Angriff, aller wirksamen Stellen beraubt, in der Öffentlichkeit zu kastrieren. Nur in seinen Gedichten ist er ganz er selbst, da wird er sich klar über „die harte poetik fester tarife“, der ennui überwältigt ihn, der Ekel über die Weiber, „ich habe den scheckigen ritus satt / den sudelzauber mit laich, die blinde / besamung im süßen schlamm“, über die Metzger, denn „seufzend verbergen die metzger sich / vor dem wilden auge der unschuld“, über die Fahnen, „tut mir doch die fahne aus dem gesicht, sie kitzelt“, kurz der Ekel über alles und jedes, jener Ekel, der dem kalten Haß vorausgeht.
Ehe er angreift, prüft er noch einmal seine Mittel. Er gehört der Generation an, die mit der Evolution der Poesie bereits aufgewachsen ist, die sich nicht, wie die der Vierzigjährigen, das große europäische Sprachereignis, den Surrealismus, erst mühsam nachvollziehend aneignen muß. Diese jungen Männer und Mädchen bedienen sich der Identifikation, Genitivumkehrung, Abstraktion und Konkretisierung der Abstraktion so, wie ihre Altersgenossen sich der Zündkerzen, der Integralrechnung und der elektronischen Musik bedienen, Autos und Gedichte werden montiert, Gedichte heißen „telegrammschalter null uhr zwölf“ oder „bitte einsteigen türen schließen“, und wer es nicht glaubt, daß sie trotzdem Gedichte bleiben, mag sie bei Enzensberger nachlesen. Gerade er hat die neue Ästhetik völlig intus, souverän schaltet er mit ihr, das Paradox der Identifikationen schmiegt sich ihm in die Hand, „manitypistin stenoküre“ etwa, und manchmal gelingen ihm wunderbare rhythmische Inventionen, wie dieser Gedichtschluß:
nachts im fluß schwimmst
und schwarz violett
fisch klinglos
fisch mondlos
fisch
Sie gelingen ihm, denn er, Enzensberger, hat etwas, was die wenigsten besitzen: die mozartisch schwerelose, die leichte Hand.
Mit der leichten Hand begabt, hätte er sich in der Rolle des Zauberers, des Lieblings einrichten können, des ungezogenen sogar, des süßen kleinen Snobs, der Frechheiten sagt, die Gesellschaft liebt solche Künstler, fast ist sie bereit, auf ihre Erich Kästners und Kurt Tucholskys zu hören. „Nie hat man in einer ungemütlichen Situation sich’s gemütlicher eingerichtet“, urteilt Walter Benjamin lange vor 1933 über diese, und:
Ihre Funktion ist, literarisch betrachtet, nicht Schulen, sondern Moden, ökonomisch betrachtet, nicht Produzenten, sondern Agenten hervorzubringen.
Enzensbergers Intelligenz ist zu hoch entwickelt, um sich mit einer solchen Rolle zu begnügen. Sein Bewußtsein gestattet es seiner leichten Hand nicht, sich zu emanzipieren. Die Eleganz genießt bei ihm nicht das Recht der Autonomie. Was ihn beherrscht, ist ein Gefühl, das zwischen wildem Haß und hellem Zorn, zwischen hochmütiger Verachtung und Empörung pendelt. Eleganz, Leichtigkeit und souveräne Begabung dienen ihm nur dazu, seinen Haß sprühend zu machen. In dieser Stimmung und mit solchen Mitteln schreibt er seine bösen gedichte, 18 an der Zahl. Es sind 18 Demaskierungen sondergleichen, 18 zischende Infamien gegen das Infame, 18 eiskalt ausgeführte Schläge in die Fresse der Unmenschlichkeit.
„ein anblick zum zähneknirschen sind / die fetten eber auf den terrassen / teurer hotels, auf den golfplätzen / sich erholend von mast und diebstahl / die lieblinge gottes“, so schreibt er, und „sorgt euch nicht! gutes gedächtnis / ziert die angler, alte erfahrung. / sie tragen zu euch die liebe / des metzgers zu seiner sau“, und „bekanntlich / wächst, wo gefahr ist, das rettende auch schon / stecken sie auf den sinnreichen karten ab / neue felder der ehre, / auf denen ihr euch preiswert sterbend unsterblichkeit / reißen könnt unter die blauen, / blutigen nägel.“
(Die spezielle Richtung von Enzensberger Kritik richtet sich übrigens ebenso gegen die Opfer der Macht wie gegen die Mächtigen selbst. Er wirft den Mißbrauchten ihre Lethargie vor. Fast haßt er die Hinnahme des Mißbrauchs mehr als den Mißbrauch selbst. Dennoch kann der Titel verteidigung der wölfe gegen die lämmer nur ironisch verstanden werden. Enzensberger stellt sich nicht auf die Seite der Macht, nur weil er die sich ihr Beugenden verachtet: Gerade dieses Element seines Denkens verleiht seinen Gedichten den Ton revolutionärer Aufrufe.)
Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen, der junge Mann, der seine Worte nicht auf die Waagschale legt, es sei denn auf die der poetischen Qualität. Es gibt glückliche Länder, in denen er in Rudeln auftritt, in England vor allem gibt eine ganze Equipe denkbar schlecht aufgelegter junger Herren denkbar gut abgefaßte „declarations“ ab. Bei uns gibt es nur einen. Immerhin: dieser eine hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht. Eine Begabung wie diejenige Enzensbergers wird immer gefährdet sein. Was wird mit ihm geschehen, wenn der Zorn einmal nachläßt, wenn nicht mehr Empörung die leichte Hand regiert? Gleichviel, – mit diesen 18 Gedichten hat er einer Generation Sprache verliehen, die, sprachlos vor Zorn, unter uns lebt.
Alfred Andersch, Frankfurter Hefte, Heft 2, Februar 1958
Als einer der wenigen zornigen jungen Männer der deutschen Literatur zeigt sich Hans Magnus Enzensberger, Jahrgang 1929, in seinem ersten Lyrik-Band. Seine poetischen Mitteilungen, die er in „freundliche“, „traurige“ und „böse“ Gedichte eingeteilt hat, will er als „Inschriften, Plakate, Flugblätter“ verstanden wissen. Indem Enzensberger trotzig die „Wölfe“ – die Machthaber und Gewalttäter – zu verteidigen vorgibt, klagt er die Dummen, Trägen, im Denken Faulen, im Gefühl Leichtfertigen an. Mit aufgeklärtem Elan und mutwilliger Sprachkraft geht er daran, das Bewußtsein seiner Leser zu schärfen und ihr Welterlebnis auf die Höhe der Zeit zu bringen. Doch gedeiht ihm – wie vor ihm anderen – dieses Vorhaben am besten, wo er es vergißt. Seine oft mit Ironie fermentierten Strophen erreichen ihre größte Tiefenwirkung nicht, wo die Wahrheit auf Schlagzeilen gezogen ist, sondern eher dort, wo sie sich als eine Art gelassener, unauffälliger Lyrik geben.
Da man meinem „Lyrikschlachthof“, dieser durch das Negativ einkreisenden und durch das Gegenbild konturierenden Poetik gerade wieder in jüngster Zeit den Vorwurflinker Experimentalfeindlichkeit gemacht hat, da man mich überdies der Sedlmayrschaft verdächtigte und grundsätzlichen Antimodernismus’, möchte ich heute einmal auf eine Publikation verweisen, der ich meine Anerkennung zolle, ich meine das Lyrikbuch „Verteidigung der Wölfe“ von Hans Magnus Enzensberger.
Verteidigung der Wölfe: Solch schönen und markanten Titel hatten wir lange nicht gehört (Ausnahmen waren die Weyrauch-Etiketts An die Wand geschrieben und Mein Gedicht ist mein Messer), sonst kam es immer nur unter der Devise, Lorbeer über bestirntem Haupt zu pflücken, Unter den Brunnen daheim zu sein oder auf Abgelegenen Gehöften, Lineaturen zu verfolgen oder Konstellationen zu arrangieren, kam auf jeden Fall rückbezüglich oder nesthockerisch, immer Distanz haltend zu Gegenwart, Wirklichkeit, Gesellschaftlichkeit – hier aber verweist endlich(!) einer von vornherein auf sein Gebiß und darauf, daß, auch im Gedicht, anderes als Flucht und Abseitsstellung möglich sei.
Und wenn es sonst die Leier schlug, hier tritt einer auf als Mann des Manifests und Plakatankleber; es gibt kaum eine Position, die sich in der zeitgenössischen Debatte größerer Verfemtheit erfreute.
Das zieht die Frage nach engagierter Kunst wieder einmal ans Tageslicht, das rührt an Probleme, die als gelöst galten, da Tendenzmänner sich nicht mehr fanden, und da die Diskussion über Lyrik sich nur mithilfe des Katalogs: Mosaik, Muster, Linie, Arabeske, Teppich, Gewirke und Gewebe zurechtfädelte, als ob der Begriff Ornament für die bis ins Ausdruckslose geschwächte Dichtkunst Heil und Alles bedeutete.
Enzensberger ist eine Ausnahme unter Altersgenossen. Eines Jahrganges mit Johannes Poethen und Cyrus Atabay, ein Jahr älter als Herbert Heckmann und um eines jünger als, meinetwegen, Astrid Claes, stellt er den Sonderfall und die echte Ausnahme dar, daß er die Zwangsfixierungen durchbrach, die das Gedicht auf recht unfruchtbare Art immer mehr vereisen und vereinsamen ließen, daß er die Lyrik radikal in Frontlinie zur Gesellschaft ansiedelte, daß er heraustrat aus der Quarantäne literarischer Inzüchtigkeit und dem Mitlebenden sich mitteilte als humanes Wesen seiner Zeit- und Weltgenossenschaft:
nichts ist gewaltiger als der mensch;
d.h.
spiralnebel, kulturkrisen, weltkriege
sind ephemere belanglosigkeiten,
stroh der zeit,
kindereien.
Das klingt nach Plakat und soll Plakat sein. Das bekennt sich trocken und in munterer Souveränität zum bislang Verpönten, zur Zweckform: Flugblatt, Manifest, Plakat; aber gerade dadurch, daß diese Form der Mitteilung gewählt wird, bilden sich keine Zwitterdinge aus Gesangsform und Leitartikel, aus Missionarismus und Trallala, aus Funktion und Gejodel, sondern zur Poesie gesteigerte und sublimierte Sprechformen.
ANWEISUNG AN SISYPHOS
was du tust, ist aussichtslos. Gut:
du hast es begriffen, gib es zu,
aber finde dich nicht damit ab,
mann mit dem stein. niemand
dankt dir; kreidestriche,
der regen leckt sie gelangweilt auf,
markieren den tod. freu dich nicht
zu früh. das aussichtslose
ist keine karriere, mit eigner
tragik duzen sich wechselbälge,
vogelscheuchen, auguren. Schweig,
sprich mit der sonne ein wort,
während der stein rollt, aber
lab dich an deiner ohnmacht nicht,
sondern vermehre um einen zentner
den zorn in der welt, um ein gran.
es herrscht ein mangel an männern,
das aussichtslose tuend stumm,
ausraufend wie gras die hoffnung,
ihr gelächter, die zukunft, rollend,
rollend ihren zorn auf die berge.
Ich möchte den Unterschied noch einmal verdeutlichen, der die zwei Methoden, im Gedicht zu wirken und vom Gedicht aus proklamierend mitzuteilen, gegeneinander abgrenzt. Typus I, dessen unheilvolle Neigung, gleichzeitig zu singen und zu bekehren zuwarte oder zugedichte drängt, füllt all seine gute Absicht auf die herkömmliche Liedstrophe ab. Das gibt dann im Resultat jenen unausstehlichen Qualster aus Singsang und Gesinnung, der weder die Kunst profitieren läßt, noch auch der Menschheit, und sei es einer Auslese, zunutze kommt. Typus II, und es ist der Typ Enzensberger, legt aber gerade dem Wirkenwollen Formales zugrunde. Will der den Anruf, so wählt er den Plakatstil – von dieser Basis kann man das Gebiet der Poesie dann zurückerobern, die Aufrufeform ins Dichterische transponieren. So vermeidet er von vornherein die ungewollt dissonanten oder rührend verquetschten Mißtöne, die uns das Gros der anfallenden Ziel- und Zweckgedichte so unleidlich und – gerade im schlimmsten Verstande „plakaten“ erscheinen lassen.
Wir kennen derartige Verklemmungen aus dem deutschen Expressionismus. Hier paarten sich vielfach soziales und humanes Prediger- und Überzeugertum mit Pathos vom Faß und der bewundernswerte sittliche Elan einer Jugend glitt in eine Art von Dichterei, die als „Oh-Mensch-Dichtung“ nicht ganz zu Unrecht schon von Zeitgenossen verlästert und belächelt wurde. Entgleisungen am Rande, sicher, aber das meiste war so uneben und unartikuliert keineswegs, als man es uns heut, da die Restauration ihren Typus vorschickt – ich meine den verspielten und allseitig verantwortungslosen Quietisten – schwarzmachen möchte. Lassen Sie uns gelegentlich dieser Besprechung kurz einige Strophen jener Zeit und ihrer bestimmenden Figuren memorieren, nur um noch einmal zu überprüfen, wie das aussah, das zu mahnen, zu proklamieren und einreißend einzugreifen sich nicht für zu fein und zu erlesen hielt; nur um noch einmal zu testen, was in jener Zeit Geistigkeit hieß und was unsere produktive Verpleitung glaubt in Bausch und Bogen verdammen oder verdrängen zu dürfen.
aaaaaAlbert Ehrenstein
Umtost vom vaterländischen Geheul
Der westlichen Wilden auf ihrem Kriegspfad,
Hager wie einer, der die Norne umarmt hat,
Erbleicht der Held, ihn bedrängt
Im unauslöffelbaren Kessel die Blutsuppe.
aaaaaPaul Zech
Der Morgen treibt uns in den Kot zurück.
Die Straßen strecken sich beruhigt breit.
Die Sonne malt darauf ein Kringel Glück
Die Sonne malt darauf ein Kringel glück
Und fälscht die Zeit.
aaaaaKarl Otten
Den Vater fraß die Granate
Die Mutter erschlug der Schreck
Man hat euch am Morgen gefunden
Auf der Straße in Stroh und Dreck
Eure Väter kommen nicht wieder
Eure Mütter sind hin und tot
Viel tausend Väter gehn bieder
Und würdige Mütter zum Abendbrot.
Man sieht, wie es vom letzten Beispiel kaum noch eines Fußes Breite zu anderen und gültigeren Lösungen bedurfte, zu den Antikriegsgedichten Brechts („Und als der Krieg im fünften Lenz“). Ich habe aber diese Proben nicht nur angeführt, um die Entwicklung moderner politischer Lyrik aufzuweisen, die dann eben über Brecht auch zu Enzensberger führte, sondern um zu verdeutlichen, wo unsere Gegenwartslyrik eigentlich ganz und gar nicht anknüpfte und weiterführte. Einige vereinzelte Versuche wurden vielleicht gemacht, aber das war in der sogenannten „schlimmen Zeit“, danach wurden fast nur noch die sonderbarsten Anregungen aufgegriffen, dichterische Fehl- und Nachgeburten hochgepäppelt und alles, was Zeitlyrik hieß, von Grund auf diskreditiert. Die Währungsreform erwies sich als geistige Wasserscheide. Der grobe Hunger und die Verelendung entfielen; dahin die Zeit, da man das grobporige Maisbrot gemampft hatte und mit scharfem Aluminiumkamm den Skalp gekratzt, als die Holzsohlen klapperten und man den letzten Chic der Saison, die Wolldeckenhose mit aufgesteppter Bügelfalte trug – ein neues Säkulum schlug jetzt die Augen auf, eine neue Zeit strich sich das Kinn, zog Bilanz und bündelte ihre Perspektiven und die Lyrik richtete sich ein im Rahmen der gegebenen Gesellschaft. Eher vorsichtig als vorausschauend, lieber etwas prüd als sich bloßstellend und lieber närrisch als gefährlich, bezog sie ihr Plätzchen Plüsch im Sog des Konformismus. „Nachsintflutlich“ hieß es jetzt, sei die Situation, und bescheiden – bescheiden nannte man sich „postrevolutionär“. Aufruhr wurde ganz generell als „vorgestrig“ abgetan, als Aufguß von Vergangenem, Vernunft wurde abgewertet, Aufklärungsepochen begrient: was Wunder, wenn es nun lautete, daß der „Geist nicht mehr links“ stehe. Tatsächlich stand denn auch das, was diese Parole ausgab und in die Breite trat in dem Lager, wo Geistigkeit in den zwanziger Jahren nicht gewagt hätte, sich blicken zu lassen: nämlich rechts.
Und bitte, wogegen sollte auch revoltiert werden? Kein zwingender Hunger, geschickt gemacht, eine aufblühende Wirtschaft, was sollte man dawider sagen? Eine mäßige aber regelmäßige Wiederaufrüstung, so durchgezogen, daß alle Opposition sich von vornherein als zum Scheitern verurteilt glauben mußte – wie, und ach wo sollte da Lyrik in den Affront gehen? Also streckte sich die lyrische Kunst nach der Decke. Genoß seine verbliebene geistige Freiheit in einer Art Neodadaismus, verfeinerte sich bis zur Profillosigkeit in der Naturlyrik, kapselte sich ein und zog sich zurück von Zeit, Mensch, Wirklichkeit und Gesellschaft.
Dieser Exodus bekam der Kunst aber nun überhaupt nicht. Es war eine Emigration in die Dürre, und, wo noch gewisse Energien von jugendlicher Aufsässigkeit sich fanden, ein Sichverlieren in die interessante Selbstzerstückelung: was denn sollte man auch anderes angreifen, da der Sparringspartner fehlte. Heißt das nun, daß die Lyrik um jeden Preis hätte ins Politische, gar Parteipolitische einsteigen sollen? Keineswegs, aber diesen neuen Menschen hätte sie sehr wohl angehen können, diese neuen Lebensformen aus Besitzgier und Sicherheitsbedürfnis, aus wiedererwachender Wehrfreudigkeit und Irrationalismus, und sie hätte nicht zu befürchten brauchen, sich damit ihres Eigentlichen zu begeben. Der Weg, den Enzensberger jetzt gegangen ist, bedeutet natürlich nur eine Möglichkeit unter anderen, immerhin sind moderne Gedichte denkbar, die das direkt Politische oder gesellschaftlich Verbindliche ausgeklammert erscheinen lassen, nichts aber an Gedichtetem erlangte in unserer Zeit Rang und übertemporäres Format, das das Humane aus seiner ästhetischen Provinz auszuschließen sich bemühte.
Wie ordnet Enzensberger seine Verssammlung? 1. „freundliche gedichte“, 2. „traurige gedichte“, 3. „böse gedichte“ – Freude, Trauer, Zorn, das gibt simple und sinnenfällige Gliederung dessen, was den Menschen ausmacht als Menschen.
Und um noch einmal beim Titel einzuhaken: Verteidigung der Wölfe –: endlich, nach soviel Windstille in der Stillebenpönerei, daß einer das Hohelied des Ungehorsams singt! Dabei: welch zuchtvoller, gutdurchlüfteter Zorn, welche wohltrainierte und elastische Intelligenz geht hier in die Opposition?! Keiner vom Clan der muffligen jungen Männer, kein Miesmacher und Teppichbeißer. Wie rowdyhaft-verroht macht sich daneben das, was uns jüngst aus England an sogenanntem Zorn serviert wurde:
Ich habe eine Idee. Wir rösten Cliff über unserem Gasherd. Haben wir noch genug Schillinge für unseren Gasometer? Eine wunderbare Beschäftigung für einsame Herbstabende wie diesen.
Aber das ist doch ungerichtete und amorphe Flegelei, das entbehrt doch jeden Deuts an Geistigkeit und charaktervollem Rebellentum, wie es uns jetzt von Enzensberger demonstriert wird: klar, anständig und erfrischend rücksichtslos.
Die Sprache Enzensbergers ist eher sehnig als lapidar, weniger hymnisch als didaktisch, sie bezieht ihre etwas luftige Musikalität ganz aus der Syntax und kaum aus den klanglichen Valenzen der Worte.
Herkünfte, Ableitungen? Nicht unmittelbar aus dem deutschen Expressionismus und seiner vorwiegend pathetischen Ausdruckshaltung, jedoch ist der Einfluß Brechts nicht zu bestreiten. Darin liegt Enzensbergers vorläufige Schwäche, aber wer nach Klopstock konnte Klopstock aus sich herausleugnen und wer die Veränderungen der Sprache, die auf ihn zurückgehen. Es ist immer die Schwierigkeit, bedeutende Anregungen, die eben über die Anregung hinaus auch Suggestion darstellen, nicht nur zu erleiden, sondern ins Eigne zu verwandeln und ein fruchtbares Prinzip sich einzuverleiben, ohne die Erscheinungsformen zu kopieren. Es ist auch Enzensberger nicht immer gelungen, soweit vom Vorbild sich abzusetzen, daß man es nicht von ferne und hier und dort durchschimmern sähe – hätte er sich entschlossen, einige Details zu merzen, einige Wendungen über Bord gehen zu heißen, die unlösbar mit Brecht verknüpft sind, hätte er nur um ein Weniges noch Verzicht geleistet auf Liebgewonnenes, aber Fremdgeprägtes, er hätte einen new sound der Lyrik in Vollkommenheit geprägt.
Leslie Meier (das ist Peter Rühmkorf), Konkret, Heft 13, 1958
Das Buch mit dem Titel verteidigung der wölfe, erschienen 1957, ist der erste veröffentlichte Gedichtband von Hans Magnus Enzensberger. Die Gedichte sind in drei Abteilungen gegliedert: in freundliche, traurige und böse Gedichte. Auffällig beim ersten Durchblättern ist, dass alles in diesem Band klein geschrieben ist. Eine sogenannte gebrauchsanweisung liegt dem Buch als loses Blatt bei. Darin wird beschrieben, wie man als Leser mit dem Buch umgehen kann, aber auch, wie der Autor seine Gedichte verstanden wissen möchte. Vielleicht steht diese gebrauchsanweisung anstelle eines Vorworts.
Formal fällt der starke Einsatz der poetischen Mitteln auf. Insbesondere die „Einbeziehung sämtlicher Sprachbereiche“1. Die Gedichte wirken streng komponiert und strukturiert. Inhaltlich sind die Gedichte in verteidigung der wölfe politische Gedichte. Die freundlichen zeigen die „Sehnsucht nach dem einfachen und erfüllten Leben“ (Grimm, S. 15), die traurigen führen „Klage über Sinn- und Ausweglosigkeiten“ (ebd.), die bösen Gedichte behandeln „Anklagen konkreter, zeitgebundener Mißstände“ (ebd.). Im Nachkriegsdeutschland, in dem man versuchte, die Vergangenheit zu verdrängen und zu tabuisieren, erregte diese Art politischen Schreibens und direkter Kritik Aufmerksamkeit. Die zeitgenössische Nachkriegslyrik zeichnete sich dadurch aus, dass sie vorwiegend „Naturmagie und Landschaftsidylle“2 thematisierte. Alfred Andersch meinte:
Enzensberger hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht.
Es gab aber auch Stimmen, die nicht so positiv waren. Ein Vorwurf lautete etwa, dass „Metaphorik und Rhetorik des Gedichtbandes […] die Unschärfe seiner politischen Analyse“ (KLG, S. 3) verdeckten.
Insgesamt wurde Enzensberger als junger Autor zunächst nicht ganz ernst genommen. Man sah ihn zwar als drängenden, jugendlichen Wortkünstler mit viel Talent und großer Zukunft (Grimm, S. 20) und man übersah „großzügig“ das Politisch-Polemische in seinen Gedichten, das den meisten Kritikern eher wie ein Versehen vorkam. Erst nach weiteren Werken, aus denen ersichtlich wurde, dass die Zeit- und Gesellschaftskritik nicht zufällig Gegenstand der Lyrik Enzensbergers war, ist die verteidigung der wölfe zu einem ernstgenommenen, anerkannten und wegweisenden Werk geworden. Dies wird unterstrichen durch das Erscheinen einer Neuauflage 1981, der ein Nachwort von Reinhold Grimm angefügt ist. In dieser Neuauflage ist die Kleinschreibung der ersten Auflage normalisiert.
Gott, war das aufregend damals 1957. Überall neue, junge Leute in der Kultur: Yves Klein, Jewgeni Jewtuschenko, Glenn Gould, Van Cliburn. Und nun noch hans magnus enzensberger. Schrieb alles klein, ein Nachfahre von e.e. cummings. Sein kleiner Gedichtband (keine 90 Seiten Text) verteidigung der wölfe war für die Adenauerjahre revolutionär. Und er stieß auch nicht überall auf Begeisterung. Deutschlands Naturdichter Nummer Eins, Wilhelm Lehmann in Eckernförde, reagierte leicht angewidert. Und sah die Kultur zusammenbrechen, weil der Band auch noch bei Suhrkamp erschienen war. Er glaubte damals auch, dass dieser junge Dichter ein ganz kurzzeitiges Phänomen sei, dass in einem Jahr niemand mehr darüber reden würde. Wie man sich doch täuschen kann. Jetzt ist Enzensberger achtzig (Happy Birthday!), und er ist noch immer berühmt. Was Lehmann vielleicht geahnt aber nicht ausgesprochen hat: in diesen Gedichten, so täuschend unscheinbar sie daherkamen, steckte ein revolutionäres Potential. Die spätere 68er Revolution hatte dem nicht mehr viel hinzuzufügen. Außer vielleicht Rolf Dieter Brinkmann. Selbst Enzensbergers „freundliche gedichte“ sind manchmal so böse wie die „bösen gedichte“ in diesem Band. Wenige Jahre später legte Enzensberger mit seinem museum der modernen poesie eine ebenso persönliche wie revolutionäre Anthologie der modernen Lyrik vor, die konsequent von allen Deutschlehrern der damaligen Zeit gemieden wurde. Enzensberger erster Gedichtband und seine Anthologie haben in einem halben Jahrhundert kaum Staub angesetzt. Eine Erstausgabe von die verteidigung der wölfe kostet heute schon richtiges Geld, aber glücklicherweise gibt es Neuauflagen. Und das museum der modernen poesie ist noch in vielerlei Ausgaben erhältlich. So gibt es eigentlich keinen Grund, Hans Magnus Enzensberger nicht zu lesen.
Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:
sie sind genauer.
Hans Magnus Enzensberger, eine Institution, ein literarische Halbgott, mit scharfer Zunge, eine lebende, wandelnde, doch gemäßigte Kontroverse, ein brillanter Geist, ein fröhlicher Anarchist. Das und noch viel mehr könnte man (zu recht oder zu unrecht) über diese ultimative Figur deutscher Intelligenz sagen; alles stimmt irgendwann und irgendwo, trifft aber doch selten den Kern oder auch nur auf ein einzelnes Werk oder dessen Idee zu. Enzensberger ist nämlich weder wahrhaft radikal noch elitär. Er ist einfach Enzensberger, er selbst, sein ganz eigener Duktus und Stil.
Alkibiades mein Spießgeselle
du bist lange fort
Ich muss dich, Lieber, wohl zu End vergessen.
Zuweilen schlaflos fällt noch ein vertropftes Wort
ein Streich ein Schlips ein Heisersein ein Essen
ein Angstruf mit von weißen Vögeln ein
Sonst bin ich alt und lächelnd wie ein Kieselstein
und warte gern auf die uns forttut
auf die sanfte Welle
Alkibiades
Alkibiades mein Spießgeselle
Mittlerweile sind elf Gedichtbände von Enzensberger erschienen und neben dem Literatur- und Gesellschaftsfeuilleton/essay (Wunderbar übrigens der erst kürzlich erschiene Quartoband: Scharmützel und Scholien) ist diese Gattung der zweitwichtigste Bestandteil seines facettenreichen Werkes und auch der, mit dem er zuerst hervorgetreten ist (1957).
Es ist (wie schon mein Vorrezensent bemerkte) erstaunlich wie wenig dieser Band sprachlich gealtert ist. Noch immer kann man ihn in solcherlei Hinsicht als filigran und modern bezeichnen.
Wohlgemerkt: Sprachlich. Thematisch da ist es etwas komplizierter.
Der Band ist in drei Teile unterteilt: „Freundliche Gedichte“, „Traurige Gedichte“ und „Böse Gedichte“.
Das Gro der freundlichen Gedichte besticht vor allem durch eine bildhafte Schönheit und Weichheit, die Stich auf Stich gesetzt ist, mit schauderhafter Klarheit:
lass mich heute nacht in der gitarre schlafen
in der verwunderten gitarre der nacht
lass mich ruhn
aaaaaaaaaaaim zerbrochenen holz
lass meine hände schlafen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf ihren saiten
meine verwunderten hände
wie ein unbewohnter stern
riecht die erde. von den bergen
strömt ein dickes, trübes wasser
kies und distel blitzbeschienen
weißer himmel.
Enzensberger bemüht sich in diesen Gedichten wenig um Sprachakrobatik oder Metaphernrotation, was sehr nachvollziehbare und vertiefte Stimmungen entstehen lässt. Dieser Teil des Bandes enthält wirkliche Poesie, und damit schon so etwas wie eine andere Seite von Enzensbergers Lyrik. Die meisten der Texte verhalten sich homogen zueinander in Form und Inhalt.
Ganz anders bei den traurigen und bösen Gedichten – hier hat Enzensberger eine Vielfalt von Nuancen, Dichten und Akzenten verwendet (auch wenn der sprachliche Ansatz nicht groß variiert), nicht immer mit Erfolg. Es fallen so neben der starken Sprache und den brillanten Eigenheiten, auch allzu oft die lose Symbolik und Metaphorik auf, so wie eine hermetische Verspielung der Tatsachen zugunsten von poetischen Tiefgrabungen und Schneeverwehungen.
abschußrampen, armeebischöfe, security risks,
leider: vokabeln ohne aroma, keineswegs holzfrei,
kaum zum goldschaum der kantilene zu schlagen,
kaum für trobadore geeignet.
Gewiss, Enzensberger war schon immer und ist auch hier schon ein intelligibler Agiator und Dichter; aber das Subtile schließt ja nicht das subtil Einfache oder subtil Bewanderte aus; dies Subtile fehlt dann doch an manch Ecken und Enden. Ich hätte mir mehr Stellen wie diese gewünscht:
freilich
versprechen dir viele, abschzuschaffen
den mord. gegen ihn zu feld zu ziehn
fordern dich auf die mörder.
nicht die untat wird die partie
verlieren: du: sie wechselt nur
die farben im schminktopf:
das blut der opfer bleibt schwarz.
oder diese:
die weisheit, im windschatten
sich eine hütte errichtend, hinter
den schultern der täter verborgen,
ist wie diese mörderisch.
Vielleicht muss man noch mehr auf die Zwischentöne hören, aber wenn man sich in so mancher Dichtung verirrt, ist das nicht ganz einfach.
Sprachlich hat dieser Band wie gesagt immer noch viel zu bieten. Es reichen manchmal schon einzelne Zeilen, wie z.B. „ein dunkles riff wird in unseren lungen gezüchtet“, um zu erkennen wie vortrefflich Enzensbergers Lyrik sein kann. Vielleicht ist das große Spektrum, ihre breit gefächerte Dynamik das Problem, vielleicht ist gerade ihre Vielfalt ihr Fluch.
Doch trotz all dem: Auch heute noch kann man diesen Gedichtband als Gedichtband lesen und genießen, als Dokument einiger Bilder, Geistesblitze und Ansichten. Wenn in einem Gedichtband noch solcherlei steckt, dann ist er noch immer lesenswert.
Wie wichtig der personale Aspekt der Autorschaft ist, wird im Verlauf des Briefwechsels deutlich, wenn es um den Titel des Gedichtbandes geht. Der erste Vorschlag stammte von Enzensberger und lautete: „Mehrere Gedichte“. Peter Suhrkamp brachte stattdessen „Freundliche, traurige und böse Gedichte“3 ins Spiel. Beide Titel rekurrieren auf die Kapiteleinteilung des Manuskripts: „freundliche gedichte“, „traurige gedichte“, „böse gedichte“. Nachdem er seine Idee selbst verworfen hatte, schlug Enzensberger vor, den Titel des neu eingefügten Gedichts „niemand singt“ für den gesamten Band zu verwenden und erteilte damit der Vorstellung eines starken Autors eine Absage.4 Dieses Gedicht, das den Mittelteil des Bandes abschließt und somit eine Art Gravitationszentrum bildet, antwortet auf das gegenüberliegende Gedicht „jemands lied“. In „jemands lied“ wird ein Zustand des Schweigens, der Hoffnungs-, Rat- und Aussichtslosigkeit beschrieben, der nur durch ein „lied wie eine sintflut“5 erlöst werden kann, aber diesem Lied leiht ,niemand‘ seine Stimme:
es kann keiner singen von dem was nicht singt
von uns.6
Das andere Gedicht spielt mit der Pointe, dass „niemand singt“ und macht diesen Niemand zur kraftvollen Figur, die „aus der flut“7 singt, ohne dafür Gehör zu finden.
Die Evokation des Schweigens, die Vorstellung, dass der Einzelne sprachlos ist, erscheint im Rückblick als durchaus zeittypisch. Sie ist wohl nicht zu verstehen ohne die Traumata, die der Nationalsozialismus verursacht hat. Im selben Jahr erschien Fritz Usingers Lyrikband Niemandsgesang,8 der allen früheren Verheißungen klassischer Kultur eine Absage erteilt. Nelly Sachs veröffentlichte 1957 einen Band mit dem Titel Und niemand weiß weiter.9 Paul Celan ließ seinen „Psalm“ mit den Worten beginnen:
Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.10
Und an Walter A. Berendsohn schrieb Sachs:
Du wirst… meine wiederholt ausgesprochene Bitte verstanden haben, daß ich hinter meinem Werk verschwinden will, daß ich anonym bleiben will… [Ich] will, daß man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen.11
Enzensberger war bei Kriegsende 15 Jahre alt. Er wuchs ab 1931 in Nürnberg auf. In der Familie wurde ihm ein großes Unbehagen und eine reservierte Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus vermittelt, der Nürnberg als „Stadt der Reichsparteitage“ inszenierte.12 An der Hitlerjugend nahm das Kind nur unwillig teil.13Aufgewachsen mit solcher Distanz zur umgebenden Welt, kann Enzensberger als typischer Vertreter der „skeptischen Generation“14 gelten.
Aus dem Titel niemand singt spricht die Skepsis des Autors gegenüber einer fundamental verunsicherten Nachkriegsgesellschaft, könnte biographisch folgern. Aber der Autor geht noch weiter und stellt qua Titelwahl seine eigene Sprecherposition überhaupt infrage:
Er drückt eben doch eines sehr deutlich aus: daß Verse, paradox gesagt, das Schwächste auf der Welt sind und gleichwohl, so hoffe ich, etwas vermögen; wie Flugsamen; und daß sie der oder jener gemacht hat, spielt keine Rolle.15
Ein solches dichterisches Selbstverständnis speist sich nicht nur aus subjektiver Welterfahrung, sondern entspricht einer Charakterisierung des ,modernen Gedichts‘, wie sie einige Jahre zuvor von Gottfried Benn oder Hugo Friedrich artikuliert wurde:
Es sieht ab von der Humanität im herkömmlichen Sinne, vom ,Erlebnis‘, vom Sentiment, ja vielfach sogar vom persönlichen Ich des Dichters. Dieser ist an seinem Gebilde nicht als private Person beteiligt, sondern als dichtende Intelligenz, als Operateur der Sprache, als Künstler, der die Verwandlungsakte seiner gebieterischen Phantasie oder seiner irrealen Sehweise an einem beliebigen, in sich selbst bedeutungsarmen Stoff erprobt.16
Für Enzensberger bedeutet dies keineswegs, dass ,Gefühle‘ keine Rolle spielen würden – im Gegenteil. Die affektive Orientierung der einzelnen Gedichte wird durch die Einteilung in „freundliche“, ,,traurige“ und „böse“ Gedichte offensiv benannt, dadurch aber auch verobjektiviert. Sein Buch erscheint als Etude auf verschiedene Stimmungslagen, nicht als Ausdruck der privaten Person Enzensberger, vielmehr einer barocken ars combinatoria als der Genieästhetik des Sturm und Drang verwandt. Entsprechend schlug der Autor vor, seinen Namen auf dem Umschlag nicht zu nennen:
Aus dem selben Grund sähe ich es […] gern, wenn der Autorenname nicht auf dem Einband erschiene, oder nur auf dem Rücken.17
Peter Suhrkamp gab Enzensberger die Möglichkeit eigene Vorstellungen zur Gestaltung zu äußern, obwohl die Ausstattung laut Vertrag eigentlich „Sache des Verlages“ sei.18 Gerade die Herstellung zählte der Verleger zu seinen zentralen Aufgaben und in ihr sah er seine besonderen Fähigkeiten:
Ich glaube nur, daß es eine Begabung bei mir gibt, die mich doch bestimmt hat, Verleger zu werden, […] das, was auf Blättern geschrieben da ist, auf einem ganzen Konvolut von Blättern, in eine plastische Gestalt zu übersetzen, in die Buchgestalt.19
Enzensberger nutzte die Freiheiten, die Peter Suhrkamp ihm zuerkannte, und äußerte umfassende Vorstellungen zur Gestaltung, die der Verleger aufgriff und kreativ weiterdachte. Dazu gehörten der Wunsch nach Minuskelsatz aller Gedichte – eine „neuartige Aufgabe“,20 die Suhrkamp besonders interessierte – sowie die Gestaltung des Einbandes:
Schließlich möchte ich […] ein paar Worte zur äußern Erscheinung des Buchs sagen. Mein Traum ist immer ein Buch gewesen, das ganz weiß wäre: schneeweiß. Praktische Leute wenden ein, das sei unmöglich, lade den Schmutz geradezu ein. Ist das eine zwingende Einrede? Liefert die Technik keinen Umschlag, der uns von den pseudo-abstrakten Ärgernissen befreit, deren es von Messe zu Messe mehr werden – Kandinsky würde sich für die Buntpapiergraphik seiner Nachahmer bedanken! Ein schneeweißes Buch würde der ganzen Unfug entlarven.21
Die Buchproduktion der 1950er-Jahre war nicht zuletzt von Ernst Rowohlts Maxime zum Taschenbuch beeinflusst. Das Taschenbuch, so Rowohlt, werde nicht gekauft, sondern mitgenommen und müsse deshalb über ein reißerisches Titelbild verfügen. In dieser Masse der bunter werdenden Umschläge und der sich rapide verbreitenden Buntpapiereinbände der Taschenbücher sollte Enzensbergers weißes Buch gerade durch seine Schlichtheit herausstechen. Sein Buch sollte nicht reißerisch, sondern zurückhaltend auftreten – und dennoch war der junge Schriftsteller mit seinen klaren Vorstellungen zur Buchgestaltung höchst präsent.
Früh deutete sich die Ambivalenz von Verschwinden und Auftauchen an, die später zum Kern der Marke Enzensberger gehören sollte: Der Autor scheint überall zu sein und inszeniert sich gleichzeitig als gänzlich ungreifbar. Dabei ist die Selbstfiguration als Niemand, literaturgeschichtlich betrachtet, ambivalent. Als Niemand bezeichnete sich schließlich kein Geringerer als der listenreiche Odysseus, der dem menschenfressenden Zyklopen Polyphem allein dadurch entkam, dass er sich als „Niemand“ ausgab.22 Den Bezug auf Homer benennt der Autor selbst, wenn er an Peter Suhrkamp schreibt:
Die Pointe ist nicht gerade neu, wohl vielmehr von Homer in die Welt gesetzt[.]23
So anspielungsreich Enzensbergers Überlegungen im Hinblick auf eine Poetologie erscheinen, so problematisch sind sie aus der Perspektive eines Verlags, der stets die Erfordernisse des Buchmarkts im Auge behalten muss. „Der Autor“, schrieb Unseld später an seinen Gestalter Willy Fleckhaus, „muß lesbar sein, in aller Regel mindestens so wie der Titel eines Buches. Meistens verlangt sogar der Autor nach dem größeren Schriftgrad, dies von der Sache wie von der Eitelkeit der Autoren her.“24 Die emphatische Negation des ,Autors‘, die sich Enzensberger wünscht, löst sich schon dort auf, wo der Text zu seiner gedruckten Buchform findet, wo er Warencharakter annimmt und wesentlich über den Namen seines Autors vermarktet wird. Ein ,Niemand‘ ist im Verlagsprogramm hochproblematisch und muss schnellstens zu einem ,Jemand‘ gemacht werden. Der Verlag war gegen Enzensbergers Titelvorschlag „niemand singt“. Stattdessen plädierte Unseld dafür, einen Kurztitel des Gedichts „verteidigung der wölfe gegen die lämmer“ zu verwenden. Enzensberger widerstrebte dieser Vorschlag zunächst, er billigte dem Verlag aber die letzte Entscheidung zu. Seinem poetologischen Ideal des autorlosen Textes standen die Anforderungen des Buchmarktes gegenüber. Deutlich wird dies auch, wenn Enzensberger seinen Lektor und späteren Verleger fragt:
Muß eigentlich ein Klappentext sein? Man könnte das Papier weiß lassen. Oder kauft das niemand?25
Zwar hielt Enzensberger eine Autorenbiographie im Klappentext nicht für relevant, andererseits war er bereit, sich den Markterwartungen anzupassen.
Schließlich ließ sich Enzensberger überzeugen und stimmte Unseld per Telegramm zu. Gleichzeitig äußerte er weitere Überlegungen zur Gestaltung. Er schlug vor, dass auf dem weißen Umschlag sieben rote Tropfen zu sehen sein sollten. Die Assoziation von Blutstropfen, die sich dabei unweigerlich einstellt, lässt sich zum einen auf das wütende, titelgebende Gedicht „verteidigung der wölfe gegen die lämmer“ beziehen. Zum anderen korrespondiert die Zahl Sieben mit den Bezügen auf Märchen, die sich im Gedichtband finden lassen. So setzt das das erst Gedicht „lock lied“ mit folgenden Versen ein:
meine weisheit ist eine binse
schneide dich in den finger damit
um ein rotes ideogramm zu pinseln
auf meine schulter
ki wit ki wit26
Zitiert wird das Märchen „Von dem Machandelboom“, in dem ein Vogel das folgende Lied singt:
mein Mutter der mich schlacht,
mein Vater der mich aß,
mein Schwester der Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt’s unter den Machandelbaum.
Kywitt, kywitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!27
Im ,schönen Vogel‘ („schöön Vagel“), der von Ort zu Ort fliegt, mag man bereits das Motiv erkennen, das Enzensbergers Selbstfiguration über Jahrzehnte prägen wird: den ständigen Wechsel der Orte und Standpunkte. Das eigentümliche Spiel des Märchens mit den Motive Enthauptung, Kochen, Verbrennung, Wiederauferstehung in anderer Gestalt und Zurückverwandlung lässt sich aber nicht zuletzt auf Enzensbergers Poetologie beziehen. Der starke Autor wird negiert (enthauptet); stattdessen werden die Gedichte aus unterschiedliche Textquellen montiert (zusammengesammelt wie die Knochen im Märchen); Text und Autor figurieren in immer neuer Gestalt.
Wenn im Lied des Märchens der Sohn in Vogelgestalt spricht, so spricht in „lock lied“ nicht der Autor, sondern der Text selbst. Denn wessen „schulter“ ist eigentlich gemeint? Könnte es nicht das Buch selbst sein, das, wenn es einen (Buch-)Rücken besitzt, auch zwei Schultern haben muss (dessen Vorder- und die Rückseite), auf die jenes blutige Ideogramm gepinselt wird? Von hier aus ergäbe sich eine Interpretationsmöglichkeit, die die einzelnen Texte eben nicht an den Autor (oder ein ,lyrisches Ich‘) koppelt, sondern an das Buch selbst.
Nach verschiedenen Experimenten mit weiteren Gestaltungsideen wurde in der schließlich gedruckten Erstausgabe jedoch nicht die Farbe Weiß, sondern Schwarz verwendet, und man verzichtete auf die Abbildung der Blutstropfen. Der Name des Autors erschien tatsächlich nicht auf dem Vorderdeckel, wohl aber auf dem Buchrücken. Allerdings wurde der Titel des Buches auf der Vorderseite in Enzensbergers Handschrift gedruckt, und mit der Handschrift wird häufig die Vorstellung von Individualität verbunden. Offenbar hatte Suhrkamp auch mit Enzensbergers Unterschrift experimentiert, denn diese wurde aus einem Brief herausgeschnitten. So erscheint das Ergebnis als Kompromiss zwischen den Wünschen des Autors und des Verlags.
Später, im Jahr 1966, als der von Enzensberger geförderte Volker Braun Autor des Suhrkamp Verlags wurde, orientierte sich der Berliner Dichter in seinen Gestaltungswünschen an diesem Buch und wünschte sich ebenfalls, dass der Name nicht auf dem Einband erscheine.28 Ausgerechnet Enzensberger selbst sah sich veranlasst, ihn von diesem Wunsch abzubringen:
Der Verfasser muß auf dem Einbanddeckel stehen. Von dieser Regel ist nur in einem Fall abgewichen worden, ausgerechnet in meinem. Ich wünsche mir Nachbarschaft mit Ihnen, aber sie sollte sich nicht in Äußerlichkeiten ausdrücken.29
Rund neun Jahre nach Erscheinen seines eigenen Debüts riet Enzensberger Volker Braun, nicht von der Konvention des Autornamens auf dem Einband abzuweichen. Es ist es möglich, dass Enzensberger – auf Grund seiner nun mehrjährigen Publikationserfahrung – die Konvention eines deutlich sichtbaren Autornamens inzwischen akzeptierte. Andererseits lässt sich das Zitat auch im Hinblick auf eine werkpolitische Strategie interpretieren: Enzensberger wünscht, sein Alleinstellungsmerkmal – den Einband ohne Autor – zu behalten. Die Pointe liegt darin, dass gerade aus der Negation des Autornamens eine besonders prägnante Autorschaft resultiert.
Dabei hatte Enzensberger seine eigenen Gedichte in einem Brief an Unseld noch als „Flugsamen“ ohne klaren Ursprung bezeichnet. Auf dem Waschzettel, der dem Buch verteidigung der wölfe beilag, heißt es außerdem, der Autor wolle „seine Gedichte verstanden wissen als Inschriften, Plakate, Flugblätter, in eine Mauer geritzt“. Dieser Zettel, der nicht als Klappentext aufgedruckt ist, sondern aus dem Buch herausgenommen werden kann und sich deshalb bis heute nur in wenigen antiquarischen Exemplaren erhalten haben dürfte, besitzt durchaus ephemeren Charakter. Das Statement des Autors steht hingegen in einer eigenartigen Spannung zum Abdruck der Gedichte in geradezu klassischer Buchgestalt. In dem Augenblick, in dem diese im dreiteiligen, streng komponierten Buch versammelt werden, verlieren sie ja gerade den Charakter des Flüchtigen, den sie als Drucke in Zeitschriften und Anthologien zuvor besessen haben.
Nicht ohne Grund bezeichnet man solche Veröffentlichungen als ,verstreute Publikationen‘. Sie erscheinen meist in Periodika, in einer Nummer unter vielen. Eine Anthologie wie Höllerers Transit, die ganz auf die Nennung der Autornamen im Textteil verzichtet, macht ihren flüchtigen Charakter besonders augenfällig. Aber auch Höllerer nennt im Anhang die Verfassernamen und kann sich damit nicht völlig dem Begehren nach Autorschaft entziehen.
Dass verstreute Publikationen häufig als bloße Ouverture auf das erste Buch gelten können, deutet sich in der biographischen Notiz zu Enzensbergers Beitrag in der Anthologie Jahresring an, in der auf die nicht näher bezeichneten Zeitschriften und Anthologien die Nennung des Verlags folgt:
HANS MAGNUS ENZENSBERGER, geb. 1929 in Kaufbeuren, studierte an den Universitäten Erlangen, Freiburg i.Br., Hamburg und Paris und lebt zur Zeit in Stranda (Norwegen). – Gedichte, Essays und Übertragungen in Zeitschriften und Anthologien. Demnächst erscheint ein erster Gedichtband bei Suhrkamp, Frankfurt a. Main.30
Verstreute Publikationen können dem Buch aber nicht nur voraus-, sondern auch aus diesem hervorgehen. Sobald es gedruckt wurde, kann es zitiert werden, und beim Wiederabdruck einzelner Textteile wird in der Regel auf das Buch verweisen. So erschien im Jahr 1958 in der Zeitschrift Konkret ein Abdruck von vier Gedichten, eingebettet in eine Art Agitationsgraphik von Hermann Landefeld, die tatsächlich Flugblattcharakter besitzt, aber nichtsdestoweniger den Verfasser nennt und in der Quellenangabe direkt auf das Buch verteidigung der wölfe bei Suhrkamp verweist.
Solche Auskopplungen aus seinem Buch plante Enzensberger in ganz unterschiedlicher Form. Schon vor der Unterzeichnung des Verlagsvertrags hatte er mit dem Südwestfunk „eine halbstündige Sendung vereinbart, die eine Reihe von Gedichten enthält“.31 Der Lyriker nutzte geschickt die Verbreitungskanäle des ehemaligen Rundfunkassistenten. Zudem griff er auf seine internationalen Verbindungen zurück: „Freunde in Frankreich und in Südamerika“32 seien bereits mit der Übersetzung seiner Gedichte beschäftigt.
Die multimediale und internationale Zerstreuung der Texte wird durch den Namen des Autors stabilisiert. Auf ihn und auf sein erstes Buch führt alles zurück. Die unveränderliche Buchform schreibt die Anordnung der Texte und ihren Ursprung fest. Zu dieser Stabilisierung trägt auch der Name des Verlags bei. Wie aus den Korrekturfahnen hervorgeht, hatte Enzensberger vorgeschlagen, diesen Verlagsnamen auf dem Titelblatt zu streichen – worauf sich der Verlag naturgemäß nicht einließ.
Enzensberger versuchte später immer wieder, aus dem Korsett der Verlagsautorschaft zu entkommen, und das heißt teilweise auch: die Buchform zu verlassen. Er wählte Pseudonyme, wechselte die Verlage und erfand poetische Objekte wie den Landsberger Poesieautomaten, der nach dem Zufallsprinzip neue Gedichte generiert.33 Und in seinem eigenen Beitrag zu der oben erwähnten Anthologie Das erste Buch von Renatus Deckert zeigte er sich keineswegs mit der Autorenrolle einverstanden, die er in seinem Debüt eingenommen hatte: in dieser sieht er sogar ein moralisches Problem.34 Aber das ändert nichts daran, dass mit dem ersten Buch seine Verlagsautorschaft und seine eigentliche Autorschaft begann. Seine zuvor flüchtigen Texte wurden in einem Buch arretiert und in drei Kapiteln angeordnet. Das Debüt erscheint damit als Anfangs- und Endpunkt zugleich: Es schließt das Frühwerk ab, das vor der Verlagsautorschaft liegt, und lässt als erstes Buch eine Reihe von weiteren Werken folgen. Das Debüt ist die erste ,eigenständige‘ Publikation, die sich allein auf seinen Autornamen stützen kann und nicht mehr die Prothese eines fremden Herausgebers benötigt.
Tobias Amslinger: Verlagsautorschaft – Enzensberger und Suhrkamp, Wallstein Verlag, 2018
Joachim Kaiser: Sardinen und Haie
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.12.1957
Curt Hohoff: Lyrische Saturnalien
Süddeutsche Zeitung, 15.3.1958
Dieter E. Zimmer: Wessen Schamgefühl wird verletzt?
Die Zeit, 27.1.1961
Reinhold Grimm: Montierte Lyrik
Germanisch-Romanische Monatsschrift, Heft 8, 1958
Auch in: Über H.M. Enzensberger (1970)
Reinhold Grimm: Option für einen Klassiker
[Nachwort zur Neuausgabe.] 1981
Peter Hacks: Brief an H.M. Enzensberger
Junge Kunst, Heft 12, 1958
Hans Egon Holthusen: Die Zornigen, die Gesellschaft und das Glück
Jahresring, Heft 58/59, 1958,
Auch in: Über H.M. Enzensberger (1970)
Elvis RROJI: Enzensbergers frühe politische Lyrik
Masterarbeit, Karl-Franzens-Universität Graz, 2010
– Zur Lyrik Hans Magnus Enzensbergers. –
„Sein wahres Wesen kennen wir nicht“, schrieb Enzensberger 1955 in seiner Dissertation über Clemens Brentano, um dann ein gleichwohl äußerst vielversprechendes Porträt Brentanos zu entwerfen: Es reicht vom „träumerischen Kind“, vom „Kobold und Bürgerschreck“, vom „Komödiant, Tagedieb und Gitarrenspieler“, vom „strahlenden Jüngling“, der „rücksichtslos zu spotten und bezaubernd zu erzählen verstand“, bis zum „erotischen Genie“ und „leidenschaftlichen, unsteten Mann“, der „zur Hingabe, zum gefährlichen Spiel“ aber auch „zum Unglück fähig war bis zur Selbstzerstörung“. Darüber hinaus zeichnet Enzensberger den Autor als „sorgfältigen und genialen Sammler wunderbarer alter Geistesschätze“, aber auch „als einen radikalen Artisten“, der „scheinbar mühelos“ und „in begeisterter Laune“ nicht nur „Schnurren“ und „Feuerzeilen“ ausstreute, sondern auch „jeden Kanon verwarf und Verse ohne Vorbild schrieb“.
Auch wenn es eine willkommene Pointe wäre, kann und will ich nicht behaupten, daß alles, was Enzensberger hier über Brentano sagt, auch auf ihn selber zutrifft. Daß er sich also mit Brentano eine Projektionsfigur gesucht hat, an der er stellvertretend Eigenes verarbeitet und ausformuliert. Diese These läßt sich nicht halten. Wohl aber fällt auf, daß Enzensbergers Kurzporträt des romantischen Dichters nicht nur in sachlicher Hinsicht – der Spötter und Komödiant, der Sammler und Artist, der Kobold und Bürgerschreck, der einstmals am Dichterhimmel aufgegangene strahlende Jüngling usw. –, sondern auch vom Verfahren her in vielem dem entspricht, was man heute immer wieder über Enzensberger lesen kann. Nicht wenige der Artikel und Aufsätze über Enzensberger beginnen mit einer Aufzählung seiner besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten. Da ist vom „politischen Artisten“ und „artistischen Politiker“ die Rede, vom „Trendsetter“ und „Chamäleon“, ein „Harlekin“ wird er genannt, oder auch „ein Heinrich Heine im Alfa Romeo“, seine „treffsicheren Urteile“ werden gepriesen, seine „Sensibilität“, sein „Spürsinn“ sowie seine „seismographischen“ Fähigkeiten, welche es ihm ermöglichen, „die Trends der historischen Zeitläufte stets als einer der ersten wahr- und sogar vorwegzunehmen“.
Enzensberger also wird vieles und viel Gutes nachgesagt. Das ist erfreulich und ja auch nicht falsch. Auch nicht falsch, aber auffällig ist, daß Enzensberger neben allem anderen vor allem eines immer wieder bescheinigt wird: seine Intelligenz. Es gibt keinen zweiten deutschen Schriftsteller, dem so oft bescheinigt wurde und weiterhin bescheinigt wird, daß er intelligent ist. Dabei sind, so behaupte ich einmal, wohl die meisten unserer Schriftsteller eher intelligent als daß sie nicht intelligent sind. Aber Enzensberger ist der einzige, dem seine Intelligenz fortlaufend testiert wird. Und wenn es nicht seine Intelligenz ist, die ihm testiert wird, dann ist es wenigstens sein Verstand. „Hans Magnus Enzensberger“, schreibt Stephan Speicher, „hat einen guten Verstand“.
Eine Zeitlang wurde auch Martin Walser, speziell dem Essayisten Walser, seine Intelligenz noch fortlaufend bescheinigt, aber das hat sich, obwohl Walser gewiß nicht dümmer geworden ist, mit den Jahren verloren. Darüber hinaus aber wurde und wird eigentlich keinem unserer zeitgenössischen Autoren ihre Intelligenz explizit bescheinigt. Nicht Botho Strauß und Peter Handke, nicht Günther Grass und Siegfried Lenz, nicht Christa Wolf und Heiner Müller und auch nicht Thomas Bernhard (einzig im Falle Durs Grünbein scheint sich hier etwas anzubahnen). Und selbst dort, wo man der deutschen Gegenwartsliteratur vor allem ihre Kopflastigkeit nachsagt und aufs spannende Erzählen der nichtdeutschen Autoren setzt, ist von der Intelligenz der Autoren dieser kopflastigen Literatur nicht eigens die Rede. Aber Kopflastigkeit ist eben nicht Intelligenz.
Da auch die Kritiker wissen, daß Intelligenz für einen Schriftsteller so etwas Ungewöhnliches nicht ist und in Wahrheit zur Minimalausstattung einer jeden Schriftstellertätigkeit gehört, muß es sich bei der Enzensbergerschen Intelligenz um eine ganz besondere Fähigkeit handeln. Martin Lüdke hat sie auf seine Weise zu beschreiben versucht:
Hans Magnus Enzensberger besaß seit jeher die Fähigkeit, auch das Gewicht der winzigen Nuancen sorgfältig abzuwägen. („zwischen fast nichts und nichts / wehrt sich und blüht weiß die kirsche.“) Er verstand es, Zwischentöne hörbar zu machen. Und er schaffte es immer wieder, sich in den Faltungen der feinen Unterschiede kleine Nischen des Rückzugs zu sichern… Wie Brecht gab er sich, listig, als unsicherer Kantonist. Stets vermied er die endgültigen Festlegungen. Er hat immer weitergedacht. Er schwamm, scheinbar, immer gegen den Strom, verteidigte die Wölfe sogar noch „gegen die Lämmer“. Er verabschiedete, hierzulande als erster, die Avantgarde und stand stets doch an der Spitze. (Frankfurter Rundschau, 19. März 1997)
Doch dies alles gehört in Wahrheit zum festen Repertoire des seit Jahren erklingenden gelegentlich dialektisch und manchmal auch paradoxal formulierten Enzensbergerlobs. Und ist darum wohl auch nur eine weitere Variante dessen, was wir in Sachen Enzensberger schon immer zu hören bekommen haben. Diese Art der Auskunft bleibt – alles in allem – unbefriedigend, und wir spüren sofort, daß Enzensberger seinen Beschreibern noch immer um eine etliche Strecke voraus ist. Wir würden ihn aber gern einmal einholen, auch wenn er „in dem Wettlauf von Hase und Igel“ den Igel spielt, in Wahrheit aber der Hase ist. Denn, so Lüdke:
Er ist mit allen Wassern gewaschen.
Und wir, die wir auch einmal schlau sein und Enzensbergers Intelligenz hinter die Schliche kommen wollen, können immer nur den Hut ziehen.
Doch der Leser, der seinen Autor liebt und nicht nur bewundert, will nicht immer nur den Hut ziehen. Er möchte den Autor auch in seinen schwachen Stunden erleben. Er möchte Freud und Leid mit ihm teilen; er möchte hinter den Stand der Moderne zurückfallen und im Autor den Menschen entdecken. (Wobei dieser „Mensch“ nicht einmal mit der empirischen Person des Autors identisch sein muß.) Er würde gern das über Enzensberger lesen, was Enzensberger uns auch über Brentano zu lesen gegeben hat, ohne daß wir dies dem Autor – der empirischen Person Enzensberger wohlgemerkt zugleich wünschen würden: denn Brentano war nicht nur ein schillerndes Talent und, so Enzensberger, „Gebieter über ein phantastisches Fürstentum zwischen Himmel und Erde“, er wurde auch „von persönlichen Katastrophen gehetzt, von Täuschungen und Enttäuschungen getrieben“ und war „in allen Plänen gescheitert“. Darüber hinaus wurde er „auf der Höhe seines Lebens von einer Bekehrung ereilt, die sein Leben in zwei Stücke gespalten hat; jahrelang an der Seite einer kranken Nonne wachend“, wurde er zu einem „starren frommen Eiferer; endlich abgerissen, vereinsamt, eine gespenstische Figur aus einer gespenstischen Epoche“.
Wie gesagt: Wir wünschen dem Autor nur Gutes. Aber ich möchte dennoch fragen: Wo ist die kranke Nonne Enzensbergers? Würde er uns nicht näherrücken, wenn wir von seiner plötzlichen Konversion erführen, dem Eintritt ins Kloster beispielsweise oder in eine Sekte? Man kann schließlich nicht sein Leben lang kritisch, man muß auch einmal Fundamentalist sein. Man hat seinen Verstand auch, um ihn gelegentlich zu verlieren.
Und wenn nicht im wirklichen Leben, dann wenigstens in der Literatur. Im Gedicht oder der Erzählung kann auch der kritischste Geist einmal hinter sich zurückfallen, mit dem Strom schwimmen, hingerissen werden, sich entblößen, den Igel wirklich Igel sein lassen, langsam werden und träge, vielleicht sogar erstarren, was der Literatur wohl schlecht, aber auch sehr gut bekommen kann. Das hängt vom Einzelfall, dem jeweiligen Text ab. Und in der Literatur ließe sich auch derjenige herstellen, den wir so oft suchen, wenn wir Bücher lesen, und den ich oben den Menschen im Autor genannt habe und der doch nicht identisch sein muß mit der empirischen Person dessen, der schreibt. Aber letzterer könnte diesen Menschen imaginieren und vielleicht sogar neu erfinden.
Nicht so Enzensberger. Er scheint als Person gut verborgen in und hinter seinen Texten. Nicht einmal eine zweite erfundene Authentizität bietet er uns an, wofür sich die erzählende Prosa besonders gut eignen würde. Letztere schreibt Enzensberger allerdings nicht – vom Durruti-Roman und seinen neuesten Jugendbüchern einmal abgesehen. Doch laufen diese Texte nicht Gefahr, das eigene Ich übermäßig ins Spiel zu bringen.
Vielleicht spüren wir etwas vom Autor in seinen Gedichten auf, auch wenn nicht zu erwarten ist, daß ausgerechnet Enzensberger das Gedicht als Medium von Subjektivität oder gar mehr oder minder unverstellten Ich-Artikulationen einsetzt. Denn, so Enzensberger in dem Gedicht „Sich selbst verschluckende Sätze“, „Von mir selber würde ich nie / und nimmer reden“. Das allerdings ist Ich-Präsenz ex negativo und klingt zugleich ein wenig so wie die Antwort des Analysanden auf die Frage des Analytikers, woran dieser, der Analysand, gerade denke. Spontane Antwort:
An meine Mutter bestimmt nicht.
Mit anderen Worten: Auch der Lyriker Enzensberger denkt an seine Mutter, will sagen: spricht von sich und seinem Ich, wenn auch im Gestus der Negation oder über den Umweg der Abwehr. Keinesfalls möchte er dem Ich einen allzu bedeutenden Platz einräumen im Kontext seiner Wahrnehmungen. Dies mag man Bescheidenheit nennen, oder artistische Professionalität, vielleicht auch gesunden, das heißt gutdosierten Narzißmus. Zugleich aber ist es wohl auch eine Vorsichtsmaßnahme, denn das Ich ist, so Enzensberger im Gedicht „Zusammenfassung“, „ein Faß ohne Boden“. Wer sich einmal mit ihm einläßt, der läuft Gefahr, zu keinem Ende zu kommen. Wer sich einmal mit ihm einläßt, der läuft auch Gefahr, es nicht mehr loszuwerden:
Ich habe oft das Gefühl (brennend,
dunkel, undefinierbar usw.),
daß das Ich keine Tatsache ist,
sondern ein Gefühl,
das ich nicht loswerde.
(„Von der Algebra der Gefühle“)
Das Ich ist anhänglich. Es ist eine Klette. Es kann gewissermaßen chronisch werden. Das Ich ist, um auf Brentano zurückzukommen, die kranke Nonne des modernen Autors. Wer einmal an seinem Krankenlager Platz genommen hat, dem diktiert es seinen Text. Es wundert nicht, daß ein Autor wie Enzensberger, in dessen Reden und Schreiben der Gestus der Souveränität einen bedeutenden Platz einnimmt und immer mitartikuliert wird, sich dieser machtvollen Instanz nicht unterwerfen will. Relativierung also und Entdramatisierung sind geboten, um das penetrant anhängliche Ich in seine Schranken zu weisen:
Ich hege es, lasse ihm freien Lauf,
erwidere es, von Fall zu Fall.
Aber es ist nur eins unter vielen.
Nicht eines unter vielen anderen Ichs. Sondern eines unter den vielen Gefühlen, die wir fühlen, und die Enzensberger am liebsten in seiner Algebra der Gefühle in die mathematische Ordnung bringen würde. „Die Nummer der Eifersucht / ist offensichtlich die Sieben“. Oder „daß die Demütigung / die 188 auf ihrer Stirn trägt“. Auf diese Weise verziffert und zur numerischen Räson gebracht, wären die Gefühle, auch das Gefühl welches „Ich“ heißt, ihren Schrecken los. Aber Enzensberger weiß auch, daß sich auf diese Weise das Ich eben nicht beherrschen, nicht zur Räson bringen läßt. Denn:
Manches entgeht mir, ich
schlüpft durch, es entzieht sich,
ist weg.
(„Zusammenfassung“)
Je länger ich auf Enzensbergers Texte schaue, desto öfter sprechen die Texte vom Ich des Autors. Doch sie tun es zumeist, ich habe es bereits gesagt, negierend oder abwehrend. Die poetischen und sprachlichen Verfahren, welche Enzensberger hierbei häufig nutzt, gehören zu denen, welche er auch als bedeutsame poetische Verfahren Brentanos beschrieben hat: Da ist zum einen „das kompositionelle Prinzip der Variation“, zum anderen das Prinzip der „unverbundenen Reihung“ und schließlich „die entstellte Redensart“.
Ein Beispiel für die kombinatorische Anwendung dieser Prinzipien liefert Brentanos Gedicht „Der Traum der Wüste“ von 1838, dessen sechzehn Strophen mit einem jeweils variierenden Kehrreim eingeleitet werden: „O Traum der Wüste, Liebe“, heißt es da zuerst, um dann wie folgt variiert zu werden: „O Wüstentraum wo Liebe“, „O Liebe, Wüstentraum“, „O Wüste Traum der Liebe“, „Lieb’ Wüstentraum“, „O Durst der Liebe, Wüstentraum“, „O Liebe, Wüstentraumquell“ und so weiter. Die Variationen sind zum Teil auch Entstellungen. Besonders auffällig dort, wo Wendungen wie „O Liebe, Wüstentraum der Sehnsuchtspalme“ die, so Enzensberger, „Vorstellungskraft des Zuhörers oder Lesers überfordern“. Woraus Enzensberger schließt: „Auch die Entstellung scheint nur innerhalb gewisser Grenzen poetisch ergiebig zu sein, zwischen einem ,Zuwenig‘ und einem ,Zuviel‘.“
Überforderungen aufgrund zu großer Bilddichte finden sich bei Enzensberger nicht. Davor bewahrt ihn sein textkritischer Verstand. Wohl aber nutzt er die poetischen Verfahrensweisen Entstellung, Reihung und Variation extensiv. Die Gefahren dieser extensiven Nutzung hat er für Brentano mit deutlichen Worten benannt: Sie führt „zu floskelhafter Entleerung, Verengung und Erstarrung, mit einem Wort, zum Selbstmord des Gedichts“. So dramatisch möchte ich es nicht ausdrücken, doch zählen einige der Enzensbergerschen Texte, die allzu sehr auf die Effekte der Reihentechnik setzen, ganz ohne Frage zu seinen schwächeren.
So heißt es beispielsweise in dem Gedicht „Erkennungsdienstliche Behandlung“:
Das ist ein Mann, der Dante heißt.
…
Das ist ein Mann, der Dante nachäfft.
Das ist ein Mann, der sich für Dante ausgibt.
Das ist ein Mann, der träumt er sei Dante.
Das ist ein Mann, der sich für Dante hält
– bis zur Pointe: „Das ist Dante.“ In „Wirtschaftsleben“ heißt es:
Bezahlt wird einer dafür
daß er die Richtlinien der Politik bestimmt,
daß er schlachtet,
daß er Kierkegaard deutet,
daß er sich ins Bett legt,
daß er Tasten drückt,
daß er Samen spendet
…
daß er knüppelt, kocht,
bügelt, Tore schießt
und so weiter bis zur Pointe: „daß er endlich verschwindet“.
Man spürt sofort: Das ist witzig, das ist originell, das ist intelligent, doch handelt es sich hierbei eher um Rezepte zum Gedichtemachen, noch nicht um Gedichte. Und jeder, der Ideen hat, könnte sich mit ein paar eigenen originellen Zeilen in das Gedicht einschalten, und niemand würde es merken, möglicherweise nicht einmal der Autor selbst. Ich zitiere ein letztes, ebenfalls witziges und originelles Beispiel, das Gedicht „Sitzstreik“:
Der Buddha nimmt die Beine in die Hand.
Der Eilbote zockelt hinterdrein.
Die Fixsterne wallen,
Der Fortschritt zappelt in der Warteschleife.
Die Schnecke verrennt sich.
Die Rakete hinkt.
Die Ewigkeit setzt zum Endspurt an.
Und schließlich die Pointe: „Ich rühre mich nicht.“
Womit wir wieder beim Thema wären. Daß sich das Ich des Autors nicht rührt, ist möglicherweise ein Grund für die – bei allem Witz – floskelhafte Entleerung dieser Texte. Es fehlt ihnen die Dimension von problematischer Erfahrung, sie sind ganz und gar affektlos, sie demonstrieren bloß ein Verfahren, das wohl den Leerlauf riskiert, aber nicht die Freilegung des Ichs und seiner Erfahrungen. Zwar sind es eher schwache Gedichte, aber ihre Schwäche ist gewappnet mit Intelligenz und lyrischer Technik. Zwar evozieren sie nichts. Aber sie verraten auch nichts. Sie zeigen Schwächen des Gedichts, aber nicht unbedingt, wie es viele Anfängergedichte immer wieder tun, die Schwächen des Autors. Aber eben auch nicht seine Stärken.
Die Stärken des Lyrikers Enzensbergers liegen meines Erachtens dort, wo sich lyrische Technik verbindet mit dem Affekt. Wo das Ich nicht nur souverän ist, mit allen Wassern gewaschen, „immer weiterdenkt“, sich auskennt, sondern hingerissen wird auch von seinen Ängsten und den durch letztere mobilisierten eher niederen Instinkten. Wo beispielsweise der elitäre Geistesmensch den Mann von der Straße attackiert, wo der Machtmensch die Ohnmacht verachtet, wo der Gesellschaftskritiker den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorsingt und wir spüren können, wieviel Vergnügen diese Melodie ihm zugleich macht. Denn die Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer ist vielleicht doch nicht ausschließlich ironisch oder didaktisch gemeint und entspringt letztlich einer nicht nur gespielten Hochachtung vor der sozialen Kompetenz, mit der die Wölfe ihre Lebensverhältnisse regeln:
brüderlichkeit herrscht
unter den wölfen:
sie gehn in rudeln.
Enzensberger, beziehungsweise das lyrische Ich seiner Gedichte, ist, wir wissen es, viel unterwegs und immer in Bewegung. Dabei steigt er manchmal im Grand Hotel Abgrund ab, zuweilen aber auch in einer anderen Herberge mit dem Namen hotel fraternité. Hier trifft er den, der er selber niemals sein möchte: seinen Feind, den Verlierer, der sich dadurch auszeichnet, daß er „kein Geld hat“, „das eichhorn füttert“, „der den rotwein verschüttet über das harte bett“ und der nicht nur „am kai sitzt unter den kränen“, sondern auch dem Autor im Nacken:
mein feind
hockt auf den simsen
auf dem bett auf dem schrank
überall auf dem fußboden
hockt
die augen auf mich gerichtet
mein bruder
Die angstvolle und peinigende Identifikation mit dem Schwachen macht die Starken, die Wölfe, attraktiv. Das ist in der Lyrik so wie im Leben. Daß der Autor die Angst- und Peinseite dieser Identifikation eingesteht und das Ich nicht bloß souverän sein läßt, auch nicht in seiner Schwäche, gehört zur Stärke und Souveränität des Gedichts. Insofern zählt für mich auch Enzensbergers Gedicht „an einen mann in der trambahn“ zu seinen persönlichsten Texten. Auch hier begegnet der Autor seinem „Feind“, dem „mann mit dem wasseraug, mit dem scheitel / aus fett und stroh, der aktentasche voll käse“. Einen Mann, den er seinen „stinkenden bruder“ nennt und den er mit einem emphatischen Nein auf Distanz halten muß:
nein. du bist mir egal. du riechst nicht gut.
dich gibts zu oft.
Der Mann in der Trambahn verkörpert den penetranten und gewissermaßen immer hautnah am Objekt bleibenden Gegenentwurf zur Existenz des Ästheten und Intellektuellen. Und als hätte der Autor schon 1957 und in seinem ersten Gedichtband gewußt, was noch kommt an Vorlieben und Motiven im eigenen Werk und der eigenen Existenz, vom skandinavischen Flechtenkundler über den Henze-Librettisten bis zum Diderot-Enthusiasten, skizziert er dem Mann in der Trambahn das eigene Programm:
was weißt du denn,
wie die welt riecht, wie der lachs steigt
in lappland, der duft der scala
der süße staub, mein alter lukrez
mit marginalien von der hand diderots
Doch er tut dies nicht mit überheblicher Geste. Nicht aus Hochmut. Oder wenn, dann speist sich der Hochmut auch aus Ohnmacht. Denn alles, was der Mann in der Trambahn nicht weiß, weiß auch der Autor nur aus der Differenz zu ihm heraus. Er muß es dem nach „kohl und feigheit“, „spülwasser“ und „brackiger ehe“ Stinkenden gleichsam noch abringen, was natürlich auch heißt: er muß es den mit „nußbaumkommoden“, „alpenveilchen“ und „sophia loren“ vollgestellten Anteilen des eigenen Selbst abringen, die ja der andere, der „stinkende bruder“, immer auch repräsentiert. Hier, wo das Ich des Autors im Wortsinne um Fassung ringt – auch um die Fassung des eigenen Lebensentwurfs –, sind seine Texte von enormer Dichte und Spannung und von klarsichtig bösem Blick. Dieser taugt zur Selbstanalyse ebenso wie zur „Gemeinschaftskunde“, wobei letztere erst wirklich aufschlußreich ist, wenn sie erstere, die Selbstanalyse, in ihr Verfahren hineinnimmt.
„Heute“, heißt es in Enzensbergers Gedicht „Gemeinschaftskunde“, „nehmen wir den Besiegten durch“. Und wir tun es deshalb, weil er noch nicht besiegt ist. „Er bewegt sich noch, seht ihr, / er schnauft, er wehrt sich, er hustet.“ Wäre der, der dort schnauft, sich wehrt und hustet, nur Symptom des ehemals herrschenden Ungeistes, dann würde er uns auch nur als solches interessieren. Ebenso wie der Mann in der Trambahn uns nur als Symptom interessieren würde, wenn er nur der wäre, der „das koppel“ anschnallt, „zackig“ grüßt und „mit dem kolben“ an unsere Tür schlägt. Interessant wird der Besiegte, der Mann in der Trambahn für uns deshalb, weil der Autor ihm sinnliche Präsenz verleiht, weil er „arbeitslos atmet“, weil er sich „seinen mageren Gaumen leckt“, weil „seine Haut gelitten hat“. Der Autor ist nahe herangerückt an den Besiegten. Er hat gewissermaßen die dermatologische Perspektive eingenommen. „und ich sehe narben, / die du nicht siehst“. Er schaut dem Besiegten nicht nur in die Aktentasche, sondern auch in den Mund und bis unter den Gaumen.
Das würde er mit dem „Mann, der es gut meint“, niemals tun. Der Mann, der es gut meint, bleibt in der Tat bloßes Symptom. Wir erfahren nicht, wie er aussieht. Er sieht nicht aus. Und der Autor beziehungsweise das „lyrische Wir“ seines Gedichts vom „Einverständnis“ sagt darum zu ihm auch nichts als „Hau ab“. Der Mann, der es gut meint, „keucht: Ich bin einverstanden“ und verschwindet. Denn er meint es gut.
Der Feind, der stinkende Bruder, bleibt bedrückend und berückend präsent. In der Lücke zwischen dem Mann, der es gut meint, und dem Feind sitzt das Ich des Autors und sucht sich unsichtbar zu machen beziehungsweise sich über Abwehr und Negation und „hinter dem Rücken dessen, / der Ich ist“, präsent zu halten: „Ich sage gar nichts“, sagt er dann in den Sich selbst verschluckenden Sätzen, „Ich bewege mich nicht“ oder auch „Ich bin nicht da“. Es scheint, der Autor hat sein Verfahren gefunden, von sich und nicht von sich zu sprechen. Doch es spricht für Enzensberger, daß er, der Meister des verstellten Sprechens und des ironischen Sich-Verbergens, dieses Verfahren dann doch noch einmal zu steigern und zu irritieren weiß. Daß er, der Virtuose, der glaubhaft von sich sagen kann, „Daß ich je ins Stottern geriete, / ist ausgeschlossen“, am Ende doch bereit ist, das Ich-Versteck für einen – spielerischen – Augenblick preiszugeben, und, wenn auch nur kurz, ins Stottern zu geraten. Insofern ist es vielleicht das höchste Bekenntnis, das wir von Enzensberger erwarten können, und der intimste Ausdruck seiner lyrischen Subjektivität, wenn er uns endlich einmal nicht virtuos (und darum vielleicht um so gewiefter) mit zitternder Lippe von sich sagt: „Ich f-f-f-fehle.“
Hans-Ulrich Treichel, Merkur, Heft 600, März/April 1999
Helmut Heißenbüttel schrieb diese Interpretation der frühen Gedichte Hans Magnus Enzensbergers für die Sendung junge deutsche Autoren. Gedichte und ihre Interpretationen, die regelmäßig im Dritten Programm des Norddeutschen Rundfunks, Hamburg, lief. Sie wurde am 3. Januar 1957 von 22:10 bis 22:30 gesendet.
Vielleicht ist es ungerecht oder irreführend, die Interpretation eines Autors mit der Selbstinterpretation dieses Autors zu beginnen. Vielleicht verficht der Autor Theorien, die dem, was er geschrieben hat, widersprechen oder denen das, was er schreibt, widerspricht. Vielleicht legt er etwas hinein, was man unbefangen nicht herausliest. Vielleicht will er sich nur rechtfertigen.
Gleichviel, beginnen wir mit einem Zitat des Autors; es lautet:
Gedichte sind Gebrauchsgegenstände wie Waffen oder Hüte oder Körbe. Sie kommen nicht wie Schmetterlinge oder Heuschrecken in der Natur vor. Ihr Zweck ist, Sachverhalte vorzuzeigen, die mit anderen Mitteln nicht vorgezeigt werden können.
Wie das Zitat bezeugt, handelt es sich um Gedichte. Wenn aber von einem Gedicht gesagt wird, es sei ein Gebrauchsgegenstand wie eine Waffe oder ein Hut oder ein Korb, so läßt sich das gewiß mit keiner Vorstellung vom Poetischen zusammenbringen. Ein Gebrauchsgegenstand ist, man mag über Gebrauchsgegenstände denken wie man will, nichts Poetisches. Der Satz des Autors ist als Provokation gegenüber dem Begriff des Poetischen zu verstehen. Denn Gedichte sind weder Schmetterlinge noch Heuschrecken. Sie haben einen Zweck, nämlich den Zweck, etwas vorzuzeigen – und zwar Sachverhalte. Wie sieht das Vorzeigen eines Sachverhalts aus? Das Gedicht „fremder garten“ lautet:
Es ist heiß. das gift koch in den tomaten.
hinter den gärten rollen versäumte züge vorbei
das verbotene schiff heult hinter den türmen
angewurzelt unter den ulmen. wo soll ich euch hintun,
füße? meine augen, an welches ufer euch setzen?
um mein land, doch wo ist es? bin ich betrogen
die signale verdorren. das schiff speit öl in den hafen
und wendet. ruß, ein fettes rieselndes tuch
deckt den garten. mittag, und keine grille.
Entgegen der Theorie, oder genauer, entgegen der Interpretation der Theorie, ist in diesem Gedicht Poesie enthalten, das heißt: Verse, Bilder, Stimmung. „das gift kocht in den tomaten. hinter den gärten rollen versäumte züge vorbei“ – das sind die Bilder, die eine bestimmte Stimmung mehr untermalen als vorzeigen. Es ist nicht notwendig, zu fragen, was für ein Gift in den Tomaten kocht oder weshalb die Züge versäumte Züge sind. Die Sätze, Verse, Bilder deuten mehr an als daß sie erklären. Der Vers „um mein land, doch wo ist es? bin ich betrogen“ ist nicht unbedingt wörtlich zu nehmen. Er ist viel eher als die Umschreibung einer gewissen melancholischen Verlorenheit zu verstehen, als Rede eines Menschen, der sich im Augenblick gefangen fühlt und unbestimmt aus dieser Gefangenheit hinausstrebt. Der Vers ist poetische Impression. Und dennoch: Vier Wörter am Schluß des Gedichts wenden diese stille und in sich geschlossene Stimmung um und zeigen sie in einem veränderten Licht. Es sind die Wörter: „mittag, und keine grille“. Das Gedicht bekommt eine Pointe mit einem zwar sehr leichten, aber doch spürbaren ironischen Unterton. Es ist Mittag, so könnte man interpretieren, und weil Mittag ist, hört man die Grillen nicht, die doch, so müßte man folgern, dieser Stimmung eben noch fehlen. Die Grillen fehlen. Das Poetische, das trotz durchgehender Negationen vorher gewahrt blieb, wird durch die Pointe mit einem kleinen ironischen Glanzlicht versehen. Es wird dadurch als etwas bezeichnet, das man nicht allzu ernst zu nehmen braucht, als eine Art Spiel mit poetischen Vorstellungen. Und das wäre etwa ein Sachverhalt, der vorgezeigt werden soll.
Der Autor ist Hans Magnus Enzensberger. Er ist 1929 im Bayrischen Allgäu geboren und arbeitet zur Zeit als Redakteur am Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Veröffentlicht hat er bisher in Zeitschriften und Anthologien. Er ist der Preisträger der Hugo-Jacobi-Stiftung für junge Lyrik 1956. Anders als im Werk anderer junger Lyriker sind die Gedichte Enzensbergers nicht dadurch gekennzeichnet, daß in ihnen etwas ganz Neues gesagt werden soll. Sie zeigen vielmehr eine gewisse Unbedenklichkeit. Diese Unbedenklichkeit wird gehalten durch ein fast virtuos zu nennendes sprachliches Taktgefühl. Jedes Zuviel wird zurückgenommen, jedes Zuwenig überspielt. Wie das geschieht, zeigt etwa das „warn lied“.
Die narbe auf meiner stirn
entzifferst du nicht.
deine hand ist zart:
ich wohne im dickicht.
(zu spät)
meine rinde wird
dir die lippen zerreißen.
ich führe dich
an ein salziges wasser.
(zu früh)
geh zu den tauben zurück,
iß von einem tisch
ohne flecken,
sei klug!
(zu spät)
der blitz schlägt dir
den pelz von der schulter,
der regen wäscht
dir das lied aus der brust.
(zu früh)
der kies wird deine
seufzer hören,
wenn ich dich liebe.
(zu spät)
Da gibt es eine Reihe von Metaphern, die dem Gedicht, alleinstehend, eine fast zu tiefsinnige Bedeutung geben würden, ganz abgesehen, wie weit sich über die Originalität einzelner Formulierungen streiten ließe. Aber das alles ist belanglos. Denn jeder Versgruppe ist, in Klammern gesetzt, ein kleiner Zusatz hinzugefügt, der das allzu Tiefsinnige umdreht, es gleichsam zum Zitat macht, das nicht so ernst zu nehmen ist, wie es zu sein scheint. Denn daß es zu früh ist, dich an ein salziges Wasser zu führen, oder daß es zu spät ist, den Kies deine Seufzer hören zu lassen, wenn ich dich liebe, diese kleinen Einschränkungen heben das allzu Poetische auf, machen es leicht und übertragen es in einen Zwischenbereich, in dem Poesie und Witz sich mischen in einer nicht nur überraschenden, sondern auch entlarvenden Einsicht.
Da gibt es zum Beispiel ein Gedicht über die „erinnerung an die schrecken der jugend“. Surrealismen, expressionistische Ballungen und ein bestimmtes, ein neues Lied, ein besseres Lied. Über Strategien der Selbstlegitimation in der politischen Essayistik modernes Vokabular mischen sich zu einem durchaus poetischen Bericht über die Jugend eines Jünglings, der Brecht, Apollinaire und Benn gelesen hat.
ein bett aus nesseln ist die nacht
wie rosa knistert deine hand
hat einst an meinem hals gelacht
ist segelflammend meine yacht
im klippenkalk der côte ragouse
den biß im salz des meeres laug
oh zeig mir den zerbrochnen fuß
nach kampher riecht dein dunkles aug
im blut versunken treibt ein blues
o haß du taubes schibboleth
laß meine letzte stunde los
durch die ein d-zug pfeifend geht
was sind die wartesäle groß
die kellner trommeln zum gebet.
Diese letzte Zeile: „die kellner trommeln zum gebet“ ist im Grunde ein Witz. Dieser Witz hebt die so schön hervorgezauberte Stimmung auf. Er zeigt, daß es sich bei der Erinnerung an die Schrecken der Jugend um nichts anderes gehandelt hat als um den Versuch, sich all dem poetischen Zauber gründlich zu entziehen. Vielmehr, um genau zu sein, sich ihm zu entziehen, ohne ihn ganz ernst nehmen zu müssen. Ihn eben als so etwas wie einen bloßen Zauber zu entlarven.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal Enzensberger zu sich selbst zitieren. Er sagt:
Ich habe nichts dagegen, daß manche Gedichte komische Gedichte werden. Ich habe nicht die Vorstellung, daß Gedichte besonders edle Gegenstände sind. Edel können Gedichte nur sein, wenn sie edle Sachverhalte vorzeigen sollen. Es gibt aber sehr wenig edle Sachverhalte, die vorzuzeigen wären. Viele Gedichte schreibe ich deshalb, weil ich zornig bin.
Dies Zitat ist nur richtig zu verstehen, wenn man die Selbstironie, die darin mitschwingt, heraushört. Denn, wenn man es humorlos ernst nähme, könnte man fragen: Was ist ein edler Sachverhalt?
Hören wir, ohne auf der möglichen Edelkeit eines Sachverhalts herumzureiten, ein Gedicht, in dem die ironische Brechung ganz den ton bestimmt. Das gedicht hat den titel „erinnerung an den tod“.
alkibiades mein spießgeselle
bist du lange fort
ich weiß nicht: wohin bist du gegangen
ach nur bei der regatta warst du nicht an bord
und die forellen muß ich jetzt alleine fangen
und selbst das mokkamahlen macht mir nicht mehr spaß
und wenn es regnet wirst du nicht mehr naß
jetzt bin ich traurig wenn ich grog bestelle
alkibiades mein spießgeselle
lange bist du fort
in meinem schrank liegt noch die alte pfeife
woanders (im notizbuch steht vielleicht der ort)
in einem zimmer das ich nicht mehr ganz begreife
liegt unser roter kater und liegt unsre braut
die kneipen sind jetzt alle leer und laut
die nächte angenagt von grüner helle
alkibiades mein spießgeselle
du bist lange fort
ich muß dich, lieber, wohl zu end vergessen
zuweilen schlaflos fällt noch ein vertropftes wort
ein streich ein schlips ein heisersein ein essen
ein angstruf mir von weißen vögeln ein
sonst bin ich alt und lächelnd wie ein kieselstein
und warte gern auf die uns forttut
auf die sanfte welle
alkibiades
alkibiades mein spießgeselle
Hier ist alles ins Witzige gewendet. Der klassische Alkibiades, mit Einschränkung eine durchaus edle Figur, fehlt bei der Regatta an Bord, und wenn es regnet, wird er nicht mehr naß. Denn er ist tot. Eine alte Pfeife im Schrank erinnert noch an ihn. Aber wo das Zimmer sich befindet, in dem der um den Verstorbenen Leidtragende weitere Erinnerungen vermutet und das er, poetischerweise, nicht mehr ganz begreift, darüber müßte er erst in seinem Notizbuch nachblättern. Einen Augenblick bekommt man allerdings Angst, es könne sich, nachdem der Ironie genug getan worden ist, mit dem vertropften Wort und dem Angstruf der weißen Vögel und dem lächelnden Altsein des Kieselsteins doch noch alles ins allzu Poetische zurückwenden; aber da trägt uns die sanfte Welle, die uns aus jeder Reklame einer Kognak-Firma bekannt ist, glücklich und rettend darüber hinweg, und Alkibiades, der edle Alkibiades, bleibt mein, ach so schnell gestorbener Spießgeselle.
Es sind, in gewisser Weise, tatsächlich Sachverhalte, die in diesen Gedichten vorgezeigt werden, beziehungsweise, es ist immer derselbe Sachverhalt. Dieser Sachverhalt wäre zu sehen in einem Streben nach poetischer Verklärung dieser Welt, das immer wieder an der Unmöglichkeit einer solchen Poetisierung sich bricht. Diese Welt ist unpoetisch von Grund auf. Das Poetische, das man ihr abgewinnen könnte, wird sagbar allein in der witzig ironischen Umkehrung. Das Poetische wird als Schein und Spiel entlarvt. Darin liegen, so liebenswürdig das Gedicht zunächst auch immer erscheinen mag, Protest und Anklage. Anklage gegen eine Welt, die sich dem Zauber nicht ergeben will. Hier dringt das Verstörende unserer Welt unmittelbar ins Poetische ein. Und das, was letzten Endes den Gedichten Enzensbergers zugrunde liegt, läßt sich vielleicht tatsächlich nicht anders bezeichnen als Zorn über eine Welt, die dem Poetischen entgegensteht. Wo dieser Zorn unmittelbar zu zeigen versucht wird, wo er sich nicht mehr hinter witziger und ironischer Liebenswürdigkeit verbirgt, wird das Gedicht zum bitteren Pamphlet, wird der Witz zum Hohn und die Ironie zur Polemik. Da ist dann der unmittelbare Sachverhalt vorhanden, der vorgezeigt werden soll, und jede einzelne Formulierung ist wörtlich zu nehmen. Die Gedichte haben nicht mehr Titel wie „fremder garten“ oder „call it love“ oder „zikade“ oder „lock lied“, sondern sie heißen „goldener schnittmusterbogen zur poetischen wiederaufrüstung“ oder „spott und jubel“. In „spott und jubel“ erfährt eine nicht nur verstörte, sondern verrottete Welt gleichsam die negative poetische Verklärung, die der Zorn, der sich mit ihr nicht zufrieden geben kann, ihr allein noch zugesteht.
SPOTT UND JUBEL
ein kirschkern auf dem theater,
ein hörrohr, ein spucknapf,
gebeine, zentrifugen, baßgeigen,
eine wanze im mikrophon;
gebenedeite schneepflüge;
attentate.
mein herz ist nicht versichert,
meine tauben kehren nicht zurück.
der lattich kühlt die zehen des tages,
der mond ist eine amme aus kalk.
ich sehe die enteigneteten münder,
die verlobung der hungrigen linsen,
die gesetzesbücher vom himmel flatternd,
die telefonzellen in denen es wimmert,
jault,
und wie ein drachen steigt auf
mein zorn.
die wulstgesichter bohnern die scheiben
mit dem talg der gewohnheit;
auf dem gefrorenen teich tanzen die füchse;
ein ranziger erdteil, eine zarte verhöhnung,
eine unke unter der zunge des herrn prälaten;
eine staffette von organisten
meldet den tod der musik zum patent an;
im café mengin trinkt ein schöner alb
den erbärmlichen mokka der ersten liebe
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(tablett: nirosta)
und stirbt im herzen der frommen jungfrau
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(tableau: pietà)
Helmut Heißenbüttel, aus: Text+Kritik. Hans Magnus Enzensberger – Heft 49, edition text+kritik, November 2010
Tae-Ho Kang: Poesie als Kritik und Selbstkritik. Hans Magnus Enzensbergers negative Poetik, Dissertation März 2002
Kurt Oppens: Pessimistischer Deismus. Zur Dichtung Hans Magnus Enzensbergers, Merkur, Heft 186, August 1963
Peter Horst Neumann: Etwas über Hans Magnus Enzensberger, Merkur, Heft 553, April 1995
Hans Egon Holthusen: Chorführer der Neuen Aufklärung. Über den Lyriker Hans Magnus Enzensberger, Merkur, Heft 388, September 1980
Hugo Loetscher: hans magnus enzensberger
DU, Heft 3, 1961
Angelika Brauer: Im Widerspruch zu Hause sein – Porträt des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger
Michael Bauer: Ein Tag im Leben von Hans Magnus Enzensberger
Moritz von Uslar: 99 Fragen an Hans Magnus Enzensberger
Tobias Amslinger: Er hat die Nase stets im Wind aller poetischen Avantgarden
Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger (1961)
Hans Herbert Westermann Sonntagsgespräch mit Hans Magnus Enzensberger (1988)
Aleš Šteger spricht mit Hans Magnus Enzensberger (2012)
Steen Bille spricht mit Hans Magnus Enzensberger am 5.9.2012 in der Dänischen Königlichen Bibliothek in Kopenhagen
Hans Magnus Enzensberger wurde von Marc-Christoph Wagner im Zusammenhang mit dem Louisiana Literature Festival im Louisiana Museum of Modern Art im August 2015 interviewt.
Eckhard Ullrich: Von unserem Umgang mit Andersdenkenden
Neue Zeit, 11.11.1989
Frank Schirrmacher: Eine Legende, ihr Neidhammel!
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.11.1999
Hans-Ulrich Treichel: Startigel und Zieligel
Frankfurter Rundschau, 6.11.1999
Peter von Becker: Der Blick der Katze
Der Tagesspiegel, 11.11.1999
Ralph Dutli: Bestimmt nicht in der Badehose
Die Weltwoche, 11.11.1999
Joachim Kaiser: Übermut und Überschuss
Süddeutsche Zeitung, 11.11.1999
Jörg Lau: Windhund mit Orden
Die Zeit, 11.11.1999
Thomas E. Schmidt: Mehrdeutig aus Lust und Überzeugung
Die Welt, 11.11.1999
Fritz Göttler: homo faber der Sprache
Süddeutsche Zeitung, 12.11.1999
Erhard Schütz: Meine Weisheit ist eine Binse
der Freitag, 12.11.1999
Sebastian Kiefer: 70 Jahre Hans Magnus Enzensberger. Eine Nachlese
Deutsche Bücher, Heft 1, 2000
Hans-Jürgen Heise: HME, ein Profi des Scharfsinns
die horen, Heft 216, 4. Quartal 2004
Werner Bartens: Der ständige Versuch der Alphabetisierung
Badische Zeitung, 11.11.2004
Frank Dietschreit: Deutscher Diderot und Parade-Intellektueller
Mannheimer Morgen, 11.11.2004
Hans Joachim Müller: Ein intellektueller Wolf
Basler Zeitung, 11.11.2004
Cornelia Niedermeier: Der Kopf ist eine Bibliothek des Anderen
Der Standard, 11.11.2004
Gudrun Norbisrath: Der Verteidiger des Denkens
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 11.11.2004
Peter Rühmkorf: Lieber Hans Magnus
Frankfurter Rundschau, 11.11.2004
Stephan Schlak: Das Leben – ein Schaum
Der Tagesspiegel, 11.11.2004
Hans-Dieter Schütt: Welt ohne Weltgeist
Neues Deutschland, 11.11.2004
Matthias Matussek: Dichtung und Klarheit
Der Spiegel, 9.11.2009
Michael Braun: Fliegender Robert der Ironie
Basler Zeitung, 11.11.2009
Harald Jähner: Fliegender Seitenwechsel
Berliner Zeitung, 11.11.2009
Joachim Kaiser: Ein poetisches Naturereignis
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2009
Wiebke Porombka: Für immer jung
die tageszeitung, 11.11.2009
Hans-Dieter Schütt: „Ich bin keiner von uns“
Neues Deutschland, 11.11.2009
Markus Schwering: Auf ihn sollte man eher nicht bauen
Kölner Stadt-Anzeiger, 11.11.2009
Rolf Spinnler: Liebhaber der lyrischen Pastorale
Stuttgarter Zeitung, 11.11.2009
Thomas Steinfeld: Schwabinger Verführung
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2009
Armin Thurnher: Ein fröhlicher Provokateur wird frische 80
Falter, 11.11.2009
Arno Widmann: Irrlichternd heiter voran
Frankfurter Rundschau, 11.11.2009
Martin Zingg: Die Wasserzeichen der Poesie
Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2009
Michael Braun: Rastloser Denknomade
Rheinischer Merkur, 12.11.2009
Ulla Unseld-Berkéwicz: Das Lächeln der Cellistin
Literarische Welt, 14.11.2009
Hanjo Kesting: Meister der Lüfte
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Heft 11, 2009
Arno Widmann: Der begeisterte Animateur
Frankfurter Rundschau, 10.11.2014
Heike Mund: Unruhestand: Enzensberger wird 85
Deutsche Welle, 10.11.2014
Scharfzüngiger Spätaufsteher
Bayerischer Rundfunk, 11.11.2014
Gabi Rüth: Ein heiterer Provokateur
WDR 5, 11.11.2014
Jochen Schimmang: Von Hans Magnus Enzensberger lernen
boell.de, 11.11.2014
Andreas Platthaus: Eine Enzyklopädie namens Enzensberger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2019
Andreas Platthaus: Der andere Bibliothekar
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2019
Peter von Becker: Kein Talent fürs Unglücklichsein
Der Tagesspiegel, 10.11.2019
Lothar Müller: Zeigen, wo’s langgeht
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2019
Florian Illies: Im Zickzack zum 90. Geburtstag
Die Zeit, 6.11.2019
Jörg Später: Hans Magnus Enzensberger wird 90
Badische Zeitung, 8.11.2019
Anna Mertens und Christian Wölfel: Hans Dampf in allen Gassen
domradio.de, 11.11.2019
Ulrike Irrgang: Hans Magnus Enzensberger: ein „katholischer Agnostiker“ wird 90!
feinschwarz.net, 11.11.2019
Richard Kämmerlings: Der universell Inselbegabte
Die Welt, 9.11.2019
Bernd Leukert: Igel und Hasen
faustkultur.de, 7.11.2019
Heike Mund und Verena Greb: Im Unruhestand: Hans Magnus Enzensberger wird 90
dw.com, 10.11.2019
Konrad Hummler: Hans Magnus Enzensberger wird 90: Ein Lob auf den grossen Skeptiker (und lächelnden Tänzer)
Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2019
Björn Hayer: Hans Magnus Enzensberger: Lest endlich Fahrpläne!
Wiener Zeitung, 11.11.2019
Wolfgang Hirsch: Enzensberger: „Ich bin keiner von uns“
Thüringer Allgemeine, 11.11.2019
Rudolf Walther: Artistischer Argumentator
taz, 11.11.2019
Kai Köhler: Der Blick von oben
junge Welt, 11.11.2019
Ulf Heise: Geblieben ist der Glaube an die Vernunft
Freie Presse, 10.11.2019
Frank Dietschreit: 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger
RBB, 11.11.2019
Anton Thuswaldner: Der Zeitgeist-Jäger und seine Passionen
Die Furche, 13.11.2019
Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger: „Maulwurf und Storch“
Volltext, Heft 3, 2019
Ulla Berkewicz: HME zu Ehren
Sinn und Form, Heft 5, 2023
Andreas Platthaus: Auf ihn mit Gefühl
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.6.2023
Peter Richter: Schiffbruch mit Zuhörern
Süddeutsche Zeitung, 21.6.2023
Dirk Knipphals: Die verwundete Gitarre
taz, 22.6.2023
Maxim Biller: Bitte mehr Wut
Die Zeit, 29.6.2023
Hans Magnus Enzensberger – Trailer zu Ich bin keiner von uns – Filme, Porträts, Interviews.
Hans Magnus Enzensberger – Der diskrete Charme des Hans Magnus Enzensberger. Dokumentarfilm aus dem Jahre 1999.
Hans Magnus Enzensberger liest auf dem IX. International Poetry Festival von Medellín 1999.
Schreibe einen Kommentar