– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Die Orangensaftmaschine“ aus dem Band Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. –
ROLF DIETER BRINKMANN
Die Orangensaftmaschine
dreht sich & Es ist gut, daß der Barmann
zuerst auf die nackten Stellen eines
Mädchens schaut, das ein Glas kalten
Tees trinkt. „Ist hier sehr heiß,
nicht?“ sagt er, eine Frage, die
den Raum etwas dekoriert,
was sonst? Sie hat einen kräftigen
Körper, und als sie den Arm
ausstreckt, das Glas auf
die Glasplatte zurückstellt,
einen schwitzenden, haarigen
Fleck unterm Arm, was den Raum
einen Moment lang verändert, die
Gedanken nicht. Und jeder sieht, daß
ihr’s Spaß macht, sich zu bewegen
auf diese Art, was den Barmann
auf Trab bringt nach einer langen
Pause, in der nur der Ventilator
zu hören gewesen ist wie
immer, oder meistens, um
diese Tageszeit.
I
Das Gedicht zeigt eine alltägliche Situation: ein Mädchen trinkt in einem Lokal ein Glas Tee; der Barmann ist durch einen Blick auf ihre Figur animiert und macht eine Bemerkung zu ihr; das Mädchen stellt das Teeglas zurück; ihre Bewegungen, der Blick auf ihre Achselhaare haben erotische Ausstrahlung für die Betrachter.
Die dargestellte Situation bleibt folgenlos. Sie führt zu keiner noch so flüchtigen Beziehung zwischen den auftretenden Personen. Das Gedicht begnügt sich mit dem Konstatieren der einen Moment bestehenden Situation und klingt im Rauschen des Ventilators aus.
Daß in einem Gedicht aus den siebziger Jahren eine Alltagssituation in Alltagssprache beschrieben wird, überrascht heute nicht mehr. Alltagssprache zu verwenden gilt als ein „herrschender Trend der Lyrikszene von 1975“. Mit der Feststellung, ein Gedicht sei in Alltagssprache geschrieben, ist daher noch wenig gesagt. Im Gedicht Alltagserfahrungen vorzustellen und Alltagssprache zu gebrauchen kann heute eine poetische Umsetzung der Erfahrung sein, daß der ästhetische und der außerästhetische Bereich prinzipiell nicht trennbar sind. Die Verwendung von Alltagssprache kann aber auch aus der etwas einfältigen Suche nach unverbrauchtem, „authentischem“ Material begründet sein, oder sie kann Ausdruck des Rückzugs in private oder subkulturelle Enklaven sein. Daher soll im folgenden die Art, wie Brinkmann Alltagswirklichkeiten in „Die Orangensaftmaschine“ verwendet, näher bestimmt werden. Die Interpretation wird dabei von der Einsicht geleitet, daß von einem Bruch im Werk Brinkmanns – trotz der mehrjährigen Veröffentlichungspause bei selbständig erschienenen Büchern von 1970–75 – nicht gesprochen werden kann. Für die Interpretation werden mehrfach die Vor- bzw. Nachworte zu Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik, bzw. Acid. Neue amerikanische Szene herangezogen. Sie beziehen sich zwar z.T. nur auf die in diesen Anthologien gesammelte amerikanische Literatur; sie umschreiben aber auch Positionen, die noch für den zwischen 1970–74 entstandenen Band Westwärts 1 & 2 gelten, aus dem das Gedicht „Die Orangensaftmaschine“ stammt.
II
Das Gedicht beginnt mit einem denkbar einfachen Satz: „Die Orangensaftmaschine dreht sich“. Es fehlt zwar das den Satz üblicherweise beendende Satzzeichen, die folgende Großschreibung markiert aber zusammen mit dem Kürzel „&“ das Satzende. Wie am Gedichtanfang, so wird auch am Gedichtende von einer sich drehenden Maschine gesprochen. Die Saftmaschine und der Ventilator bilden eine Art Rahmen für das im Gedicht ablaufende Geschehen. Obwohl die zwei Maschinen an so exponierten Stellen auftreten, sind sie in dem Gedicht nicht besonders wichtig. Für das mit dem zweiten Satz einsetzende Geschehen ist die Saftmaschine jedenfalls ohne Bedeutung. Die handelnden Personen und die sich drehende Maschine werden voneinander getrennt gesehen. Dies wird aber nicht beklagt. Die Beziehungslosigkeit zwischen den Menschen und der den Raum bestimmenden Maschine variiert keineswegs das kulturkritische Thema der Beziehungslosigkeit des Zivilisierten zu seiner Umwelt. Die Saftmaschine und ihr Drehen sind im Gedicht nur genauso bedeutungslos für die Anwesenden, wie sie es in der Realität wären. Die Maschine hat keine bildhaft übertragene Bedeutung, auch wenn sie durch den Titel besonders betont erscheint. Keines der Themen, die durch das Motiv der „Sich-drehenden-Maschine“ leicht ins Gedicht eingebracht werden könnten, wird im folgenden auf sie zurückbezogen, weder die Bewußtlosigkeit des Maschinen-Lebens, noch die Beziehungslosigkeit der Menschen in der Maschinenwelt, noch die Übernahme elementarer Lebensäußerungen – hier etwa der Nahrungsvorsorge durch anonyme Systeme und Maschinen –, was immer man sich ausdenken mag: Brinkmanns Orangensaftmaschine weist auf keines solcher Themen hin. Sie dreht sich nur.
Steht die Maschine auch isoliert da, und hat sie auch keine übertragbare Bedeutung, ist sie doch nicht ohne Funktion. Sie indiziert den Ort des Gedicht. Orangensaftmaschinen gibt es in einer privaten Küche nicht; man trifft sie, wie einen Barmann, nur in öffentlichen Lokalen an. Weiterhin gibt sie Aufschluß, wie man sich dieses Lokal vorstellen kann. Orangensaftmaschinen findet man kaum in Restaurants, sondern eher in Lokalen, in denen mehr getrunken als gegessen wird. Auch an eine teure Bar ist wohl kaum zu denken. In solchen werden Säfte eher in Flaschen verkauft. Auch als soziales Indiz ist die Saftmaschine „nur da“. Daß man sich in diesem Lokal also eher auf den unteren als auf den oberen Sprossen der sozialen Leiter bewegt, bleibt für das Gedicht folgenlos.
Deutet die Saftmaschine auf den Ort, so verweist der Ventilator, zusammen mit anderen Details, auf die Zeit, in der das Gedicht spielt. Es scheint eher in der warmen als in der kalten Jahreszeit, eher tagsüber als in der Nacht zu spielen. Auch diese Erkenntnis bleibt für das Verstehen folgenlos. Wie die soziale, so ist auch die temporäre Einkreisung des Textes zunächst nur in negativer Weise bedeutsam: sie läßt kein falsches Pathos aufkommen. Sie verhindert, daß der Bar-Raum durch irgendeine besondere Atmosphäre, etwa die einer Nachtbar, ausgezeichnet erscheint. Der Ventilator macht zwar die Stille, das Signum der Geschäftslosigkeit und Langeweile, sinnfällig, hat aber sonst keine Funktion. Auch auf den Ventilator richtet sich weder eine aggressive noch eine dankbare oder besorgte Aufmerksamkeit. Er ist im Gedicht genauso unwichtig, wie Ventilatoren – solange sie funktionieren – es in Wirklichkeit sind. Weder der Barmann noch das „Ich“ beachten ihn. Man ist daher auch gar nicht sicher, ob er immer zu hören gewesen war oder nicht.
Die Maschinen, an denen nichts Auffälliges bemerkt werden kann, konstituieren den Raum des Gedichts. Sie machen ihn sinnlich erlebbar. Von Bedeutung sind weder Details ihres Materials oder ihres Aussehens noch Details ihrer Beziehungen. Wichtig an ihnen ist nur, daß sie den Raum des Gedichts – in Grenzen jedenfalls – erfahrbar und bestimmbar machen.
III
Indem am Anfang und am Ende des Gedichts die unaufhörlich sich drehenden Maschinen, gesetzt werden, wird deutlich gemacht, daß das Gedicht nur einen Wirklichkeitsausschnitt wiedergibt. Das imperfektive Verb (drehen) zu Beginn verweist deutlich auf die Zeit vor dem Einsatz des Gedichts. Die Betonung des immergleichen Vorgangs am Gedichtende und die dreifach aufeinanderfolgenden Zeitbestimmungen („nach einer langen Pause“, „meistens, um diese Tageszeit“) machen deutlich, daß nach dem Gedichtende die Bar-Situation weiterbesteht. Die behutsame Weise, mit der erörtert wird, ob der Ventilator „immer“ oder „meistens“ gehört werden kann, signalisiert kein Streben nach genauem Ausdruck. Die Reflexion beschäftigt sich nicht mit einer bestimmten Tageszeit; es heißt ohne nähere Zeitangabe nur „diese Tageszeit“ und selbst „diese“ wird nicht präzis als ein Zeitpunkt, sondern als eine unbestimmte Zeitspanne gedacht. Der Ventilator dreht sich nicht „zu“ oder „in“ einer Tageszeit, sondern „um diese Tageszeit“. Das vorsichtige, fast ziellose Nachdenken über die Zeit läßt das Gedicht langsam ausklingen. Der Blick des „Ichs“ löst sich allmählich von der Situation; das Mädchen und der Barmann verschwinden allmählich. Das Gedicht wird – der lange und verschachtelte Satz (Z. 15–22) unterstreicht diese Bewegung – langsam ausgeblendet. Es endet nicht abrupt, sondern suggeriert ein allmähliches Hinübergleiten aus der Erzähl-Ebene in die Ebene pragmatischen Erlebens. Ebenso wird zu Beginn dem Leser der Übergang zur Erfahrung einer fiktionalen Wirklichkeit erleichtert, in die allmählich übergeblendet wird: Überschrift und der erste Vers sind ein Satz. Das Gedicht erscheint so nicht als ein – schon durch den Titel – besonders geschützter Sprachraum, zu dem nur Auserwählte Zugang haben. Es will vom Leser keine besondere Gestimmtheit verlangen. Im Ausschnittscharakter der erzählten Genreszene offenbart sich das Gedicht als Bestandteil der Welt des Lesers. Schon seine Sprache nimmt dem Gedicht jede Aura des Besonderen und Einmaligen und verringert die Kluft zwischen Rezipient und Text. Die Verwendung der direkten Rede, der Gebrauch der Alltagssprache, die Reduktion auf alltägliche, nicht an einen Ort, an einen Zeitpunkt gebundene Vorgänge, die Vermeidung jeder außergewöhnlichen sozialen wie räumlichen Atmosphäre popularisieren das Gedicht aber nicht nur. Sie heben seinen gestischen Charakter hervor. Brinkmann beschränkt sich auf das Konstatieren dessen, was in der Alltagssituation gegeben ist: Er macht keine außergewöhnlichen Beobachtungen, die das Gedicht und die beschriebene Situation als etwas Einmaliges erscheinen lassen. Er sucht im Gedicht weniger eine eigene Wirklichkeit aufzubauen, als vielmehr auf eine im Alltag immer wieder gegebene Situation zu verweisen, die bekannte Erfahrungen und Erlebnisse veranlaßt.
Die mangelnde Konkretheit des Textes widerspricht seinem Verweisungscharakter nicht. „Der Barmann“ braucht nicht genauer beschrieben zu werden, da er durch das erzählende und beobachtende Ich eindeutig bestimmt erscheint. „Die nackten Stellen“ eines Gastes müssen nicht näher erläutert werden, da sie als die eines Mädchens, auf das gezeigt und gesehen werden kann, dargestellt sind. Der bestimmte Artikel hat in all diesen Ausdrücken daher seine Berechtigung: es muß nicht „ein Barmann“ heißen. Dem Leser ist klar, daß alle bestimmten Artikel und die ihnen zugeordneten Nomen wie in einem pragmatischen Text durch die Anwesenheit eines realen Erzählers, der die vorgegebene Situation beschreibt, begründet werden können. Die Bar-Situation hat keinerlei symbolischen Wert. Sie ist „einfach nur da“. Ohne Bewertung wird von der „Oberfläche“ der Situation mitgeteilt, was an ihr jedermann wahrnehmen könnte.
Solche Poetik der „Oberfläche“ sucht aus dem Leser einen Betrachter zu machen. Sie will ihn als Betrachter direkt in die erzählte Szene einbeziehen. Die Allgemeinheit der mitgeteilten Beobachtungen ist nicht ästhetische Schwäche, noch Ausdruck von Langeweile oder Leere: Sie ist Bedingung dafür, daß es dem Leser möglich ist, die erzählte Situation als seine eigene wiederzuerkennen. Die Unbestimmtheitsfunktion der Determinanten, die beim hermetischen Gedicht ein wesentliches Stilmittel ist, um seine Bedeutung zu erhöhen, „es zum Klangzeichen einer absoluten Bewegung zu machen“, dient hier dazu, dem Gedicht einen größeren Bedeutungsrahmen zu verweigern. Auch wenn der Leser über „die nackten Stellen“, „die Gedanken“ keine genaue Auskunft erhält, ist er doch nicht, wie beim hermetischen Gedicht, „desorientiert“. Wenn auch alle angesprochenen Dinge und Personen durch den Kontext nur in begrenztem Umfang erläutert werden können, ist der Verweisungszusammenhang des Textes trotzdem eindeutig. Wird im hermetischen Gedicht Bedeutungserweiterung, Bedeutungserhöhung angestrebt, indem dem Text jede Beziehung zu einer einzigen konkreten Wirklichkeit genommen wird, versucht Brinkmann, den gegensätzlichen Vorgang zu verwirklichen. Er verkleinert den Bedeutungsrahmen, indem er den gestischen Charakter seines Gedichtes beständig präsent hält. „Die Orangensaftmaschine“ signalisiert fortwährend, daß das Gedicht auf eine vorgegebene Situation bezogen werden soll. Dabei ist die Situation so allgemein gehalten, gleichsam gezielt verdünnt geschildert, daß der Leser sie als eine ihm bekannte Situation wiedererkennt. Das Gedicht fordert dazu auf, sich direkt dieser Alltagssituation zuzuwenden.
IV
Brinkmann faßt am Ende des Nachworts zu Acid die Kennzeichen der deutschen Gegenwartsliteratur und seiner eigenen andersartigen Produktion folgendermaßen zusammen:
Der Totstell-reflex, der die deutschsprachige Literaturproduktion weithin kennzeichnet, äußert sich in der praktizierten hemmungslosen Tabuisierung bestimmter ,Wörter‘, anstatt auf Wörter oder Sätze und Begriffe so lange draufzuschlagen, bis das in ihnen eingekapselte Leben (Dasein, einfach nur: Dasein) neu daraus aufspringt in Bildern, Vorstellungen, dem synthetischen Leuchten, in einer sinnlichen Überfülle.
Solches Vorhaben, das Brinkmann an anderer Stelle als Herausnehmen „der alltäglichen Dinge […] aus ihrem miesen muffigen Kontext“, als Widerlegung ihrer „gängigen Interpretation“ bezeichnet hat, scheint in Gedichten wie „Die Orangensaftmaschine“ von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Besteht nicht ein Widerspruch zwischen dem Ziel „Herausnehmen der alltäglichen Dinge aus ihrem Kontext“ und der Methode „Beschränkung auf ihre Oberflächenstruktur“? Wie soll durch die völlig unverfremdete Übernahme einer alltäglichen Situation es gelingen, das „eingekapselte Leben“ und nicht bloße Wiederholung des Gewöhnlichen hervorzubringen? Wie soll es möglich sein, die Alltagssituation unverstellt darzubieten, um dadurch synthetisches Leuchten in sinnlicher Überfülle zu verwirklichen?
In dem Gedicht „Die Orangensaftmaschine“ wird die erzählte Situation weder verkannt noch verschönt. Die beschriebene Alltagsszenerie wird nicht als eine Art Nische dargestellt, in der Menschlichkeit und Natürlichkeit in Reservatform noch möglich erscheinen. Vielmehr beschreibt Brinkmann ungeschminkt die eingeschränkten Erlebnismöglichkeiten der handelnden Personen und das fehlende Distanzierungsvermögen des „Ichs“. In der gegebenen Situation „Bar“ springt der Beobachter auf die gegebenen Reize sofort an. Auf einzelne, Sinnlichkeit evozierende Beobachtungen (haarig, Fleck, kräftiger Körper) reagiert er sofort. Der durch Ort und Zeit vorstrukturierten Gegenwart (Z. 21 f.) („wie immer ….] um diese Tageszeit“!) sich zu entziehen scheint unmöglich zu sein. Distanzierung vom Vorgegebenen als eine Möglichkeit, individuelles Leben zu verwirklichen, wird nicht angesprochen. Das beobachtende Ich tut in der Bar etwas, das „jeder“ an einem solchen Ort schon einmal getan haben könnte. Es langweilt sich und gibt sich sexuellen Tagträumen hin. Die Isolation der Personen – des Mädchens, des Barmanns und der unter „jeder“ zusammengefaßten Gäste – ist radikal. Selbst der Barmann und das Mädchen, die einzigen, die zu sozialen Aktivitäten fähig sind, machen nur Gesten in Richtung des anderen. Sie erreichen den Partner aber nicht. Sie produzieren eher soziales Geräusch als ein Kommunikationsangebot, auf das persönlich zu reagieren wäre. Ihre Gesten scheinen mehr aus den Gewohnheiten des Berufs und aus der vorgegebenen Situation motiviert zu sein, als daß sie ernsthafte Versuche sein könnten, den Partner zu erreichen und die in der Situation vorgezeichneten Verhaltensnormen wenigstens einen Moment lang vergessen zu lassen. Das Gedicht beschreibt nicht eine mißlungene Kommunikation zwischen den Handelnden, es zeigt vielmehr eine Wirklichkeit, in der Sprache weitgehend ihre kommunikative Funktion verloren hat. Sie ist mehr Dekoration, als daß sie dem anderen etwas mitteilt. Das Gedicht ist geradezu darauf angelegt, Reduktionsformen von Kommunikation, etwa die der rhetorischen Frage „was sonst“?, vorzuführen. Es gibt keine Möglichkeit, das ablaufende Geschehen zu verändern. Obwohl der Raum einen Moment lang verändert ist, ändern sich die Gedanken und Wunschvorstellungen der Anwesenden nicht. Für die Tagträume, die sich offenbar automatisch einstellen, ist weder die Gegenwart eines Wunschobjekts, noch ein besonderer Anlaß notwendig oder erkennbar. Sie sind offenbar allein aus dem die Situation vorstrukturierenden „Raum“ motiviert. Schon ehe der „haarige Fleck“ sichtbar war, hatte „jeder“ unverändert die gleichen Gedanken. Der Raum wird einen Moment lang verändert, weil die Wunschvorstellungen für einen Moment ein Zielobjekt erfassen können. Die Veränderung wird aber gleich wieder rückgängig gemacht, weil die Tagträume gar nicht auf Erfüllung hin angelegt sind. Die große Bedeutung, die der Raum hier, wie in vielen anderen Texten Brinkmanns, hat, entspringt dem Bemühen, konkrete Lebenssituationen zu erfassen. Diese werden zwar ungeschminkt vorgeführt, aber nicht verurteilt. Weniger kulturkritischer Pessismismus, als Realismus herrscht vor! Das Gedicht wertet auch dann nicht, wenn es automatische und keine selbstbestimmten Verhaltensweisen zeigen kann. Das Gedicht konstatiert nur, ohne zu verurteilen.
Gegen die Leere des Raumes und der Beziehungslosigkeit zwischen den Anwesenden ist die in die Situation einführende Bewertung: „Es ist gut“ gesetzt. Zusammen mit der suggestiven Gegenüberstellung von „kalt“ und „heiß“ ermöglicht der Schock, mit dem eine sexuelle Stimulation gegen die Normen der „guten Gesellschaft“ offen positiv gesehen wird, in genauer Kalkulation, daß die Bewertung der ganzen Szenerie offen gehalten wird. Die sexuellen Tagträume bestimmen den Verlauf des Gedichts. Trotz ihrer intensiven Darstellung vermeidet Brinkmann, daß aus ihnen ein eindeutiger, das ganze Gedicht beherrschender Appell ausgeht. Der Lustgewinn, den sie bringen, wird nur bei dem Mädchen, und bei ihm in reduzierter Form, angesprochen. Es bleibt offen, ob dem Mädchen ihre Macht über den Barmann oder die sexuell stimulierende Bewegung „Spaß“ machen. Auch der Lustgewinn, den der Barmann und der voyeuristische Ich-Beobachter empfinden, wird selbst nicht dargestellt. Wie bei der Schilderung des Raumes und der Maschinen bleibt das Gedicht auch bei der Wiedergabe der Personen und ihrer Empfindungen an der Oberfläche. Es interpretiert nicht die Situation, sondern beschränkt sich nur auf das, was beobachtet werden kann. Die im Gedicht vorgetragene Situation steht nicht für ein Weltgefühl, das etwa Sex in besonderer Weise wichtig nimmt. Das Gedicht interpretiert nicht „Welt“ poetisch in der Weise, daß die in ihm herausgegriffene Situation lyrisch aufgewertet und als Ganzes zeichenhaft verstanden würde. Das Gedicht verzichtet auf alle sprachlichen Ausdrucksweisen, die Gedichten sonst die Fähigkeit geben, „mehr“ zu sagen, als die verwendeten Worte in Alltagssprache mitteilen. Der bewußte Rückzug auf eine Reduktionssituation und die Verwendung von Prosasprache, der Verzicht auf bildhaftes – symbolisches wie metaphorisches – Sprechen, mit diesen Ausdrucksmitteln wird jeder Versuch unterlaufen, in diesem Text eine poetische Welt zu sehen, die nach eigenen Gesetzen funktioniert. Bewertung und Verarbeitung der dargestellten Situation sind dem Leser freigestellt. Er muß nicht nur die einzelnen Dinge, die sprachlich unbestimmt vor ihn hingestellt werden, aus seiner Erinnerung ergänzen, er muß auch die Welterfahrung, die der beschriebenen Situation zugrunde liegen kann, mit Hilfe seiner eigenen Erfahrung zu Ende denken. Das genaue Kalkulieren positiver und negativer Signale, die auf keiner Seite ein Übergewicht entstehen lassen, macht dabei den hohen artifiziellen Reiz des Gedichts aus, das nur scheinbar „einfach“ ist.
Die Offenheit des Textes überantwortet das Gedicht aber nicht jeglicher Auslegungswillkür. Durch die Beschränkung auf wenige Akzente, denen starke suggestive Wirkung zukommt, wird erreicht, daß der Leser das Gedicht mit analogen Erlebnissen ergänzt. Zwar wird der eine sich vielleicht an ein spanisches Café, der andere sich an ein französisches Bistro, ein dritter gar sich an eine italienische Eisdiele in Mainz erinnert fühlen, beliebig sind aber die Erlebnisse und Vorstellungen, die der Text im Leser in Gang setzt, nicht. Die plakative Erzählweise, der poppige Leuchteffekt des Orangensaftes, die kontrastreichen Fügungen, die Wiederholungsstruktur – Barmann, „Ich“ und Leser werden nacheinander, wenn auch in unterschiedlicher Direktheit, visuell angesprochen –, lassen das Gedicht funktionieren. Gewiß hat der Leser bei allen Arten von Texten Leerstellen auszufüllen; in Brinkmanns Gedicht wird er aber in besonderem Ausmaß dazu aufgefordert. Man kann deshalb einen Rat, den Brinkmann den Lesern von Gedichten Frank O’Haras gab, auch auf seine eigenen übertragen:
sehen Sie sich um, was ist wirklich da, was Sie anfassen können und womit Sie einverstanden sind, jetzt, hier, in diesem Augenblick, da Sie das lesen? Was ist da und fordert Sie heraus? Fügen Sie das den Gedichten, die Sie mögen, hinzu. In dem Augenblick werden es Ihre Gedichte, und Sie gehören zu den Gedichten. Eine einheitliche Sensibilität jenseits vorhandener Sprachbarrieren entsteht. Keiner ist ausgeschlossen.
Mit dieser extremen wirkungspoetischen Position erkennt Brinkmann nicht nur an, daß das Lesen eines Textes den Leser nie vollkommen beansprucht und daß im Lesevorgang fortwährend der situative Kontext des Lesers hineinspielt; er versucht diese Erkenntnis produktiv zu nutzen, indem er den Text auch für entgegengesetzte Einstellungen zum Dargestellten offenhält. Gewiß muß der Leser bei jedem Text eigene Erfahrungen an ihn herantragen, wenn Verstehen gelingen soll. Beim Verstehen „postmoderner“ Gedichte geht es aber nicht nur darum, einen Text nach den Instruktionen, nach denen er gebaut wurde, zu entschlüsseln. Vielmehr rechnet das postmoderne Gedicht auch mit Assoziationen und Wertungen, die nicht von ihm, sondern allein vom Leser ausgehen. Dabei kann es im Extremfall sogar sein, daß „Mißverständnisse […] das Verständnis erweitern“.
Obwohl die ins Gedicht eingebrachte defizitäre Wirklichkeit weder verschönt noch verkannt wird, wird der beschriebene Alltag vom Leser nicht als entfremdet abgelehnt. Die Möglichkeit, synthetisches „Leuchten in einer sinnlichen Überfülle zu vermitteln“, hält Brinkmann offen. Bei aller Eindringlichkeit der Beschreibung gibt Brinkmann dem Leser keine Modellsituation, die abgelehnt oder bejaht werden soll. Wenn es dem Leser angesichts des Kontextmangels von Detail und Arrangement unmöglich gemacht ist, einen Bedeutungszusammenhang zu erfassen, der über die Vermittlung des Geschehens hinausgeht, will er nicht den üblichen Verstehensreflex auslösen, daß eben ihre Sinnlosigkeit als Sinn zu setzen sei.
Zwar betont der Autor in der Tat oft, daß sowohl die Gedichte der neuen Amerikaner, wie seine eigenen, Bedeutung verweigern: er leugnet aber nicht gänzlich ihren Sinn. Nur bestimmte Bedeutungen und Funktionen, die gewöhnlich Gedichten zugesprochen werden, lehnt er ab. Vor allem wird „die große, anmaßende Weltaufklärungsgeste“ zurückgewiesen. Sie ist dem Beharren auf dem sich in einem Augenblick anbietenden Realitätsausschnitt gewichen. „Die herrische Geste des Besserwissens, des Belehrens sowie die gußeiserne Autorität ,Dichter‘ ist in diesen Gedichten nicht vorhanden.“ Brinkmann betreibt Bedeutungsverweigerung nur im Zusammenhang mit einem vorgegebenen, der Kontrolle des Einzelnen im Augenblick sich entziehenden System. Nur solchen Bedeutungen, die den Dingen durch vorgegebene Vereinbarung aufgezwungen werden, verweigert sich der Autor der Pop-Generation.
Es ist ein Aufstand gegen die dreckigen Bilder, die andere dreckige Bilder nach sich ziehen und so lange als einzig „wahre“ Bilder verstanden wurden: gegen den mörderischen Wettlauf konkurrenzfähig zu sein, gegen die besinnungslos hingenommenen Gewaltakte, gegen das Auslöschen des Einzelnen in dem alltäglichen Terror.
Dreckige Bilder sind Bilder, die ihre Bedeutung vorgegebenen Systemen verdanken. Sie entziehen sich der Aneignung durch das Individuum. Als Kettenbilder verweisen sie immer schon auf Vergangenes, während die aufgebrochenen, isolierten Bilder des postmodernen Gedichts das, was in der Gegenwart existiert, zu erfassen suchen. Man kann sowohl die das Gedicht tragenden Erzählweisen: seine Offenheit, das allmähliche Ein- und Ausblenden, die Isolation der einzelnen Gegenstände und Personen, den nur „äußerlichen“ Gebrauch der Gedichtform (Prosasprache, Enjambement zwischen Titel und erstem Vers, Verzicht auf Metaphorik), als auch Einzelheiten: den in die Situation einführenden Bewertungsschock („Es ist gut“), als Mittel verstehen, solche Kettenbilder aufzubrechen und den Eindruck von Gegenwart zu vermitteln.
V
Wozu führt in „Die Orangensaftmaschine“ das Zerbrechen der Kettenbilder? Bildet das Gedicht nur die zerbrochene Kette ab, oder vermittelt es auch einen Blick auf die aufgebrochenen Bilder? Bei allem Streben nach dem direkten, durch Tradition und Vorurteil unverfälschten Ausdruck will Brinkmann Wirklichkeit nicht unmittelbar ausdrücken: solches Vorhaben schlösse die Reflexion, was „Wirklichkeit“ ist, ein. Das Bemühen um direkte und intensive Wiedergabe der Alltagssituation geschieht nicht in der Absicht, neue „authentische“ Kultur- oder Naturräume zu entdecken. Brinkmann beutet die Alltagssprache (s. „was den Barmann auf Trab bringt“, Z. 17 f.) nicht aus; er will nicht Zustimmung seiner Leser erreichen, die sich durch Wirklichkeitszitate aus der eigenen Subkultur vielleicht animiert fühlen könnten. Daher bringt er zwar Alltagssprache, verfällt aber nicht in den Jargon einer lokalisierbaren Subkultur, sondern bleibt im Bereich einer durchschnittlichen Alltagssprache. Die offene Einführung des erzählenden Ichs macht bewußt, daß Wirklichkeit im Gedicht nicht unmittelbar, sondern nur medial vermittelt werden kann. Das „Ich“ ist Bestandteil des Arrangements. Der ganze Text besteht aus der Wiedergabe von überwiegend visuellen Wahrnehmungen. Diese werden nicht aus einer olympisch erhöhten, sondern aus einer Perspektive innerhalb des lyrischen Raums erzählt. „Jeder sieht“ (Z. 15) bezieht sich auch auf die das Gedicht erzählende Instanz. Solche offen seine Medialität eingestehende Erzählweise und nicht die erzählten Realitätspartikel erweisen den Realismus des Gedichts.
Man kann den Text auf zwei gleichberechtigten Ebenen lesen. Auf der Reflexionsebene kann über das „Ich“ in seiner Situation reflektiert und sein möglicherweise defizitäres Verhalten in der Situation festgestellt werden. Auf der anderen, der Erlebnisebene, kann der Leser sich auf die Erlebnisweise des „Ichs“ einlassen. Da das „Ich“ zu seiner Situation nicht Stellung bezieht, sind beide Ebenen gleichberechtigt. Die verdünnt wiedergegebene Realität der Bar-Situation fordert auf der Reflexionsebene Kritik heraus. Da aber sich nicht entscheiden läßt, ob das „Ich“ vom Ablauf des Geschehens enttäuscht oder befriedigt ist, ob es die menschlichen Defizite und die Langeweile wahrnimmt oder nicht, stellt sich auf der Erlebnisebene solche Kritik nicht ein. Die Glätte und Kälte des von Glas und Maschinen besetzten Zivilisationsraumes verhindert auf der Ich-Ebene keinesfalls positiv empfundene sinnliche Erfahrungen. Vielmehr scheint das „Ich“ den Gegensatz von Glas und Sex, der auf der Reflexionsebene Entfremdung andeuten kann, eher als Stimulation zu empfinden, wenn es zweimal das Material Glas in nächster Umgebung des haarigen Flecks notiert. Das „Ich“, das sein Angeregtsein auf das beobachtete Mädchen überträgt, bewertet zu Beginn, wie auch am Gedichtende, sexuelle Stimulation als positiv („Es ist gut“ Z. 2; „Jeder sieht, daß ihr’s Spaß macht“ Z. 15 f.). Die Korrespondenz, die zwischen der Bejahung eines einfachen Impulses von sexueller Stimulation und der Wahrnehmung eines auf einfache Farb- und Materialimpulse (Glas, Orangensaft) beschränkten Raums besteht, signalisiert weder „verschleppte Rousseauismen“ von „orthodoxen Hippies“, noch bedeutet sie blinde Affirmation der bestehenden Zivilisation. Auch auf der Ebene des „Ichs“ will Brinkmann keine ausdeutbare Modellsituation geben. Das „Ich“ kann nur zwei ziellose Gesten beobachten, die jedem Versuch, dem Gedicht eine eindeutig positivere, bejahendere Aussage abzuverlangen, widersprechen. Ob das dargestellte Geschehen zu einer Beziehung zwischen Barmann und Mädchen führt, ist für das „Ich“ offenbar ohne Bedeutung. Brinkmann hält auch gegenüber dem „Ich“ am „Prinzip der Oberfläche“ fest. Er gibt nur die Beobachtungen des „Ich“ wieder. Das „Ich“ macht sich keine Gedanken über das Beobachtete. Wie eine Zukunft des beobachteten Geschehens aussehen könnte, bleibt unerzählt, weil damit unterstellt würde, es sei nach einem vorgegebenen System zu beurteilen. Wie auf der Reflexionsebene liegt aber auch auf der Erlebnisebene der Sinn des Gedichts nicht in seiner Sinnlosigkeit. Indem das „Ich“ den Gegensatz von Zivilisation (Bar) und Natur (Sex) als stimulierend erlebt, belegt es, daß „hier Zivilisation, da Natur (und Natürlichkeit)“ kein echter Gegensatz ist. Es hat die Erfahrung gemacht, daß auch und gerade Zivilisation „sinnliche Überfülle“ neu provozieren kann.
Ob und unter welchen äußeren Bedingungen solche Provokation gelingt, wird vom „Ich“ nicht reflektiert. Nur „die Beschränkung auf die Oberfläche führt zum Gebrauch der Oberfläche und zu einer Ästhetik, die alltäglich wird“. Auf den ersten Blick muß man ein solches Statement als illusionär ablehnen. Solche Geringschätzung des Kopfes führt aber in Gedichten wie „Die Orangensaftmaschine“ nicht zu einer Überbewertung des Subjekts und seiner Gefühle. Dies verhindern sowohl die dem „Ich“ zugewiesene Rolle des unbeteiligten Zuschauers, einer nicht gelingenden kommunikativen Geste, wie die dem Leser stets präsente Reflexionsebene, die die Vorstrukturierung des Alltags erkennen läßt. Im Beharren auf der momentanen und direkten Erfahrung, die die Menschen genau und wohlwollend betrachtet, wird aber eine Erfahrung deutlich, die das ganze Gedicht trägt und die die Leistung von Brinkmanns Poetik der Oberfläche ausmacht. Entfremdung erscheint zwar beileibe nicht illusionär durch einen Akt des Subjekts aufhebbar zu sein, aber es wird auch deutlich, daß Entfremdung durch die äußeren Gegebenheiten der Zivilisation nicht automatisch eintreten muß. Die schöne, fließend-rhythmische Bewegung der beiden Sätze von Z. 8 bis 15 und 15 bis 27 macht sinnlich klar, daß „Die Orangensaftmaschine“ kein verbiestert kulturkritisches Gedicht ist. Gedichten wie „Die Orangensaftmaschine“ liegt die Erfahrung zugrunde, daß Entfremdung erst dann unausweichlich ist, wenn der objektiv vorstrukturierte Alltag im Prozeß seiner – vorwiegend mit Sprache durchgeführten – Bewältigung zementiert wird und allgemein verpflichtenden Charakter erhält.
VI
Allerdings war der Verzicht auf umfassende Bedeutungs- und Verweisungszusammenhänge nach 1968/70 auf lange Sicht nicht durchzuhalten. Zwar hatte die Poetik der Oberfläche gewiß nicht der Affirmation des Bestehenden das Wort geredet, nur weil systematische Sozialkritik nicht ihre Sache war. Sie erkennt nur bewußt an, daß das Alltägliche sowohl schön als auch häßlich sein kann:
So bringen die hier versammelten Gedichte auch keine Empfindungen, die man selber nicht hat, keine Gedanken, die man selber nicht denken könnte, ohne daß jedoch die Subjektivität dadurch gemindert würde. Nicht im ausgetüftelten Exquisiten zeigt sich Subjektivität, sondern im Gebrauch eines Materials, das für viele teilbar ist. Das Häßliche steckt nicht im Außergewöhnlichen, vielmehr in dem Vertrauten, so wie das Schöne nicht im Außergewöhnlichen steckt, sondern im Alltäglichen. Wir sehen nach draußen. Dort fahren Autos. Sie stinken. Wenn ein Auto mit einem Ruck anhält, fangen wir an zu kotzen.
Trotz aller Offenheit, die durch den wirkungspoetischen Ansatz und die Betonung des sprechenden Subjekts den Gedichten Brinkmanns eigen ist, verführte eine Poetik der Oberfläche, die den Alltag nur konstatierte, dazu, sich der Wirklichkeit wie einem Supermarkt gegenüber zu verhalten. Wahrheit werde allein schon durch die richtige Auswahl aus dem Vorgegebenen gelingen: dies erwies sich zunehmend als illusorisch. Festzuhalten ist aber, daß Brinkmann die von ihm zitierte Alltagswirklichkeit nie ausbeutet. Er benutzt Alltagssprache nie als ein selbstverständlich zur Verfügung stehendes, authentisches Idiom. Die Verwendung von Alltagssituationen ist in Gedichten wie „Die Orangensaftmaschine“ auch kein escarpistischer Rückzug aus der Öffentlichkeit in private oder subkulturelle Freiräume. „Die Formulierung des Wunsches nach Einfachheit und Unmittelbarkeit und die Schwierigkeit, solche Einfachheit und Unmittelbarkeit zu erzeugen oder zu erleben“, die in Westwärts 1 & 2 „fast immer tragend vorhanden“ sein soll, trifft auf „Die Orangensaftmaschine“ nicht zu. Das Gedicht drückt keinen Wunsch nach Einfachheit aus. Es ist auch nicht einfach in dem Sinne, daß es ein unverändertes Zitat aus der Realität sei. Damit es funktionieren kann, muß auf höchst artifizielle Weise jeder Ansatz zu einer eindeutigen Bewertung, Interpretation und Einordnung der vorgeführten Situation verhindert werden. Die genau-kalkulierte Bedeutungs-Offenheit darf aber nicht mit einem Verlust der Verantwortlichkeit des Autors gleichgesetzt werden. Brinkmann wendet sich an eine ungeteilte Öffentlichkeit und nicht wie jüngere Pop-Autoren (z.B. Wolf Wondratschek oder Jörg Fauser) an kulturelle Teilgruppen. Der Leser wird durch die Offenheit des Gedichts direkter angesprochen, seine Erfahrungen in das Gedicht einzubringen, als wenn er eindeutigen Signalen, die die Interpretation bestimmen, folgen müßte. Der Appell an den Leser, das Gedicht zu Ende zu denken, ersetzt den vorgeschriebenen Ausdruck. Da diese Gedichte von vornherein nicht die Darstellung unverstellter Natur anstreben, gelingt ihnen ein von Kulturkritik unverstellter Blick auf jene Lebensmöglichkeiten, die auch in der synthetischen Zivilisation gegeben sind.
Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen. (…) Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.
Im Vergleich von Dichtung und Popmusik zielt Brinkmann auf eine, vielleicht auf die wichtigste, Qualität von Texten wie „Die Orangensaftmaschine“. Dichtung wird nicht von vornherein höher als die mit Hilfe der Technik gemachten und verbreiteten Formen zeitgenössischer Kultur bewertet. Produkte des Massenkonsums werden von Pop-Art wie von den Pop-Autoren nicht mehr per se als deformiert ausgegeben. Und es wird die Erfahrung umgesetzt, daß nur Vermitteltes und nichts Ursprüngliches mitgeteilt werden kann:
Die gängigen, längst schon nicht mehr eindeutig zu erkennenden Alternativen, aus denen das Schreiben so lange kritische Impulse bezog – hier Zivilisation, da Natur (und Natürlichkeit) – fielen einfach fort: Nehmen Sie die Rock-Musik! (Durch Handhabung hochtechnischer Geräte provoziertes sinnliches Erleben: die Erschließung neuer Gefühlsqualitäten im Menschen.) […] Kunst verteidigte immerzu ,Natur‘, das Natürliche, das Ursprüngliche, und spielte es gegen die bestehende Zivilisation aus: Kein weißer Schnee deckt alles sanft zu, und von irgendwoher kommt die Musik Chopins – eine Reklame für Whisky am Abend – der Tag geht, und Johnny Walker kommt. […] Das nachdrückliche Ausspielen von „Naturprodukten“ gegen die Produkte der Zivilisation wird nicht mehr verstanden.
„Welt“ wird in Gedichten wie „Die Orangensaftmaschine“ als medial vermittelt und vorstrukturiert gezeigt. Die zeitgenössische Umwelt wird aber von Brinkmann nicht von vornherein abgelehnt, noch begegnet er ihr insgesamt affirmativ. Brinkmann verweist weder naiv auf eine harmonische Welt – nicht die einer Blumenkinder-Kultur, noch die einer neuen Sensibilität –, noch gibt er sich mit billigem Protest zufrieden, der als sauren Kitsch nur das positive Klischee verweigert und dafür das negative einsetzt. Er beschränkt sich vielmehr bewußt auf den „momentanen Reizwert (der „Neuheit“ punktuellen Jasagens…), überläßt es aber dem Leser zu entscheiden, wie weit dieses Jasagen reichen soll. Lyrik ist nicht mehr ein „punctuelles Zünden der Welt im Subjecte“, die durch die ins Gedicht eingebrachte „Gegenwart […] ein größeres Weltbild darstellt“. Lyrik folgt nunmehr einer Poetik der Oberfläche, für die jeder Versuch, „sein Weltgefühl in einem Einzelgefühl“ auszusprechen, zum Verrat der „eigene[n] Sensibilität gegenüber dem verordneten Ausdruck“ werden mußte.
aus Peter Bekes, Wilhelm Große, Georg Guntermann, Hans-Otto Hügel, Hajo Kurzenberger (Hrsg.): Deutsche Gegenwartslyrik. Wilhelm Fink Verlag, 1982
Vielen herzlichen Dank für diese ausführliche und überaus informationsreiche Analyse.