– Zu Wolf Wondratscheks Gedicht „In den Autos“ aus dem Band Wolf Wondratschek: Das leise Lachen am Ohr eines andern. –
WOLF WONDRATSCHEK
In den Autos
Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.
Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit,
um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern.
Einige saßen auf dem Berg,
um die Sonne auch nachts zu sehen.
Einige verliebten sich,
wo doch feststeht, daß ein Leben
keine Privatsache darstellt.
Einige träumten von einem Erwachen,
das radikaler sein sollte als jede Revolution.
Einige saßen da wie tote Filmstars
und warteten auf den richtigen Augenblick,
um zu leben.
Einige starben,
ohne für ihre Sache gestorben zu sein.
Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.
I
„Sagen Sie, was macht ein Dichter den ganzen Tag?“ Diese Frage stellt Wondratschek sich in „Umfrage“. Er beantwortet in dem Gedicht die Frage, indem er sich als Dichter vorstellt, der auf den Musenkuß wartet. Der literaturwissenschaftlich geschulte Verfasser „handfester Rock-Lyrics“ wiederholt das Klischee nicht einfach, sondern gibt eine zeitgemäße Travestie. In „Umfrage“ wird der Dichter selbst aktiv und versucht sein „Radio zu küssen, / weil ich es so gern habe“ (Z. 13f.). An die Stelle der Muse, die den Alten als Quelle dichterischer Imagination galt, ist das Radio getreten. Der Dichter wartet nicht mehr auf die Muse, um von ihr gesteigerte Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeiten zu erhalten, sondern er wendet sich aggressiv gegen sein Wirklichkeit vermittelndes Medium. Der Dichter versucht seine Muse aufzumuntern:
also geh ich in die Küche, schneide ne Grapefrucht auf,
laufe wieder zurück zum Radio,
laß den Saft drüberlaufen
und denk
„Irgendwann wird es den Mund
schon aufmachen“
Das Gedicht „Umfrage“, das direkt vor „In den Autos“ steht, eröffnet Wondratscheks Gedichtband Das leise Lachen am Ohr eines andern. Gedichte/Lieder 2 nicht zufällig. Es gibt in ironischer Verfremdung Auskunft über Wondratscheks Auffassung vom Dichterberuf. Eine solche poetologische Äußerung, die programmatisch am Beginn eines Gedichtbandes steht, fordert den Leser auf, sie auch bei den folgenden Titeln mitzubedenken. Der Dichter weiß selbst nicht, was er den ganzen Tag machen soll. Seine Arbeit „Dichten“ unterscheidet sich offenbar von jeder anderen, da sie nicht in einer vorstrukturierten Zeit geschieht. Wenn der Dichter nicht dichtet, kann er – immer nach Auskunft des Gedichts – nur auf ein Mädchen warten oder Radio hören. Soziologisch ist er der reine Freizeit-Mensch, der psychologisch diese Ungebundenheit mit Warten, vielleicht z.T. auch mit Langeweile bezahlen muß. Dichten, Lyrik machen, ist für Wondratschek eine Tätigkeit, die nicht den ganzen Tag ausfüllt. Der Dichter ist in seiner Produktion ganz unabhängig. Es scheint, daß er unmittelbar nur mit sich selbst zu tun hat. Diese Unabhängigkeit und Unmittelbarkeit, das Schreiben können aus dem Glück heraus wird aber damit erkauft, daß dem Dichter große Bereiche der Wirklichkeit nicht direkt erfahrbar sind. Außerhalb der Produktionsprozesse stehend, ist er in besonderer Weise auf Medien angewiesen, die ihm Erfahrung vermitteln: Er kann nur das verarbeiten, was ihm die Medien, vor allem das Radio, liefern. Gegen diese Abhängigkeit bleibt ihm nur der ohnmächtig-komische Protest, der seine Abhängigkeit um so stärker betont: Der Dichter kann noch nicht einmal den Zeitpunkt bestimmen, wann das Radio „den Mund“ aufmachen wird.
Die Abhängigkeit von medialen Erfahrungen findet sich gewiß nicht in allen Texten Wondratscheks. Oft sucht er Selbst-Erlebtes wiederzugeben. Trotzdem ist die am Eröffnungsgedicht der Sammlung gewonnene Umschreibung von Wondratscheks Dichtung als „Radio- und Freizeit-Lyrik“ für viele Gedichte aus seinen ersten beiden Lyrikbänden charakteristisch. Trifft sie auch auf „In den Autos“ zu? Beschreibt Wondratschek auch in diesem Gedicht aus einer Freizeitsituation heraus? Beschreibt er eine mehr von den Medien konstituierte als erlebte Wirklichkeit? Dokumentiert das Gedicht daher gezielt eingeschränkte Erfahrungen? Oder, um solche Fragen konkret auf den Text anzuwenden: Berichtet das Gedicht von einer Selbstüberzeugung oder von leerer Zerstreutheit einer Freizeitsituation? Finden sich das erinnernde „Wir“ und der Leser zu einer Gemeinschaft zusammen, die der eigenen Vergangenheit zum Teil abschwört und sie zum Teil bekräftigt? „Lesen sich die un- und fast unterbetonten Aussagesätze der Rahmenstrophe auf einmal wie erklärte Ausrufesätze mit einem dick unterstrichenen Wir zu Beginn und einer erwartungsvoll in die Zukunft hineingepünktelten Hoffnungslinie beim Ausklang?“ Oder ist die Wiederholung der Anfangsstrophe Ausdruck von Resignation, die auf die Unmöglichkeit, Veränderungen durchzusetzen, verweist? Werden in dem Gedicht Lebenshaltungen dargestellt, die mehr Abbild von (amerik.) Popkultur sind, wie sie etwa in den Filmen American Graffitti und The Last Picture Show vorformuliert werden, als daß sie bundesrepublikanischer Wirklichkeit entsprechen? Oder werden hier Lebensformen analysiert, die in der Bundesrepublik Deutschland sieben Jahre nach 1968 möglich waren?
Zunächst sollen vor allem durch eine Explikation der Binnenstrophen die historischen und sozialen Bezüge der dargestellten Wirklichkeit geklärt werden. Dann gilt es, die kritische Grundeinstellung des Gedichts genauer zu erkennen und sie aus den dem Gedicht zugrundeliegenden historischen Erfahrungen der intendierten Leserschaft zu begreifen. Dabei wird vorwiegend die Rahmenstrophe zu analysieren sein. Anschließend werden die Vertriebswerbung und das von ihr geschaffene Dichterimage Wondratscheks, sowie der ganze Gedichtband, aus dem der Text „In den Autos“ stammt, in einem weiteren Abschnitt näher untersucht. Dabei soll die in der Einleitung skizzierte Charakteristik von Wondratscheks Gedichten als „Radio- und Freizeitlyrik“ überprüft werden.
II
Der Bezugspunkt 1968 liegt nahe: Mit „wir waren ruhig“ wird die „Wir-Gruppe“ hart, aber auch beschönigend, von den unruhigen Studenten, die die Studentenrevolte getragen hatten, abgesetzt. Die jeweils unter „Einige“ zusammengefaßten Gruppen kann man als Verschlüsselungen von Teilgruppen, die sich aus der APO (Außerparlamentarische Opposition) abgesetzt hatten, deuten. So paßt die erste „Einige“-Strophe:
Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit,
um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern.
auf die K-Gruppen, die, nach dem Zerfall des SDS (Sozialist. Deutscher Studentenbund) 1969, vor allem aber seit der im Juni erfolgten Gründung der KPD (AO) (Aufbauorganisation), versuchten, die Studentenrevolte zu radikalisieren. Die zweite Strophe des Binnenteils karikiert die Drogenszene:
Einige saßen auf dem Berg,
um die Sonne auch nachts zu sehen.
Zwischen ihr und der APO gab es ursprünglich aus der Gemeinsamkeit der Ablehnung der kapitalistischen Überflußgesellschaft nahe Beziehungen:
Literatur, SDS, Ostermarsch, Drogen – das war alles eine große Einheit.
Zu diesen Gruppierungen hatte Wondratschek 1968 direkten Kontakts. Beziehen sich die Strophen II und III auf politische oder subkulturelle Teilgruppen, die sich aus der Gemeinsamkeit der APO gelöst hatten, zielt Str. IV auf jene, die sich ins Privatleben zurückzogen. Hier darf man – setzt man genauere Kenntnis der politischen Linken voraus – vielleicht noch eine Anspielung auf die Sexpol-Bewegung hineinlesen. Die Verbindung von Drogenszene und Sexpol, die das Gedicht in der Strophenfolge festhält, hatte nach 1968 personelle wie systematische Gründe. Beiden Richtungen ging es – wohlwollend ausgedrückt – mehr um Selbstbefreiung als um soziale und politische Umgestaltung. Letztere wird, auch wenn es von außen betrachtet wenig den Anschein hat, von den „Hare-Krishna“, den „Poona-Anhängern“ oder anderen Jugendsekten angestrebt, die sich ebenfalls teilweise – vgl. die AAO (aktions-analytische Organisation)-Kommunen – aus ehemals linken APO-Mitgliedern rekrutierten. Das Gedicht beschreibt deren paradoxes Anliegen, die Synthese aus westlichem Marxismus und indischer Philosophie zu suchen, sehr genau in der Metapher vom „geträumten Erwachen“:
Einige träumten von einem Erwachen,
das radikaler sein sollte als jede Revolution.
Im Binnenteil verwendet Wondratschek den Kunstgriff, jeweils zwei Extreme gegeneinanderzusetzen, um damit größere Wirkung zu erzielen: Auf die Strophe, die die weitestgehende Verbindung zwischen „Einige“ und „Wir“ festhält (vgl. das Postkartenmotiv in Str. II), folgt die Strophe, welche die größte Isolation der als „Einige“ Benannten behauptet. Auf die banalste Form des Rückzugs ins Private folgt die exotischste Form der Innerlichkeitsphilosophie. Und auf die Strophe VI, die jene im Auge hat, die nur noch „wie tote Filmstars“ (Z. 16) einer schicken Kulturszene angehören, blickt das Gedicht in Strophe VII auf jene, die die radikalsten Konsequenzen aus dem Scheitern der APO zogen. Neben die Kulturschickeria, die weder ein bürgerlich-privates noch ein neues politisches oder (pseudo)religiöses Traumziel hat und auch keine Gruppe mit erkennbaren sozialen oder personellen Konturen ist, stellt das Gedicht die kleinste, aber am schärfsten konturierte Teilgruppe der APO, die RAF (Rote Armee Fraktion):
Einige starben,
ohne für ihre Sache gestorben zu sein.
Das „wir waren ruhig“-Motiv ist, für sich genommen, sowohl auf die Zeit von 1968 als auch auf die Entstehungszeit des Gedichts beziehbar. Es beschreibt die de-facto-Situation der Jugendkultur vor 1973, wie die schweigende Mehrheit von 1967/68. Aus den „Einsamkeits-Postkarten“ ergibt sich, daß das in der Rahmenstrophe geschilderte Geschehen zeitlich nicht vor dem von Strophe II gedacht werden darf. Der historische Fluchtpunkt des Gedichts bleibt in jedem Fall die Studentenrevolte von 1968. So paradox es klingen mag: Auch für die, die 1968 und auch später passiv und ruhig waren, wurde die Studentenrevolte im Nachhinein das zentrale Ereignis gemeinsamer Vergangenheit; die „Wir“-Gruppe sah sich in der Erinnerung doch mit allen „Einigen“, die sich aus der APO dissoziiert hatten, als eine Generation verbunden.
Wie sehr das Gedicht auf die Darstellung der realen historischen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Teilgruppen der Jugend von 1967/68 ausgerichtet ist, zeigen weitere Überlegungen zur Strophenfolge. Diese ist weniger auf eine einfache Steigerung ausgerichtet; vielmehr gibt sie die tatsächliche historische Entwicklung wieder. Der Dissoziationsprozeß der Studentenrevolte begann mit der politischen Radikalisierung und der gleichzeitigen Auflösung des SDS, was die Nachfolgeorganisationen tatsächlich in die Einsamkeit trieb (Str. II). Die Hippies (Str. III) waren für die politische Linke erst im Anschluß an diese ersten Auflösungserscheinungen der APO in größerem Umfang ein neues Ziel. Die Rückzug ins Private (Str. IV) war erst möglich, als die ehemals Revoltierenden aufgehört hatten, Studenten zu sein und sich im Beruf und privat etablieren konnten.
Nicht nur die zeitliche Abfolge, auch personelle und systematische Übergänge zwischen den einzelnen Teilgruppen werden von der Strophenfolge festgehalten. Vor der Schickeria, die Kultur aus zweiter Hand rezipiert, gab es schon Hare Krishna und ähnliche Sekten, während der Tod von Terroristen zu den späten Folgen von 1968 gehört. Die Anpassungswilligen und zur Verliebtheit Fähigen (Str. IV) sind weniger weit von Poona u.ä. (Str. V) entfernt, als die Äußerlichkeiten im Auftreten es vermuten lassen. Jene, die soeben im Privaten, dann auch im Beruf etabliert waren, waren für diese Art auszuflippen besonders anfällig; und aus der Kulturschickeria, auf die in Strophe VI hingewiesen wird, wechselten mehr Personen als aus anderen sozialen Bereichen in den terroristischen Untergrund (Str. VII) hinüber.
Solcher historischen Genauigkeit, die bei aller Vagheit der Ausdrucksweise auszumachen ist, geht es kaum um einen distanzierten, neutralen, poetischen Geschichtsunterricht. Wondratschek will Haltungen kritisieren, die nach der Studentenrevolte von den verschiedensten Gruppen gezeigt wurden. Die Kritik setzt an einem systematisch und historisch zentralen Punkt an: Die Studentenrevolte hatte sich wesentlich als antiautoritär und damit als undogmatisch verstanden. Sie mußte aber nach 1967/68 erleben, daß der antiautoritäre Kampf, der von ad hoc zusammengestellten Basis-Gruppen und einmalig aufgerufenen Vollversammlungen getragen worden war, scheiterte. Die Folge war die Aufspaltung in zersplitterte und dogmatisch auftretende Teilgruppen. Wondratschek überführt alle „Einige“-Gruppen solcher dogmatischen Einseitigkeit. Keine der vorgeführten Haltungen kommt dabei besser als die andere weg. Schon die parallele Fügung des Binnenteils legt nahe, daß die Kritik überall mit gleicher Intensität trifft. Aus der Einsamkeit mit untauglichem Mittel, nämlich Postkarten, zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern, scheint genauso widersinnig zu sein wie der Versuch, die Sonne auch nachts zu sehen. Als in sich widersprüchlich werden auch die in den übrigen Binnenstrophen vorgeführten Haltungen entlarvt. In Strophe V werden das illusionäre Ziel und die Unangemessenheit von Strategie und Ziel im ironischen Spiel von „Traum“ und „radikalem Erwachen“ genauso vorgeführt wie in Strophe VI, wenn der Gegensatz von Leben (Z. 18) und Tod (Z. 16) knallig herausgestellt wird. Der Rückzug der nunmehr (1975) 30–35jährigen Studenten von 1968 ins Privatleben wird, sozialpsychologisch unangemessen, als Verliebtheit denunziert; wobei im ironischen Zitat noch ein Axiom der studentischen Ideologie – es gäbe weder im Ästhetischen noch im Ethischen einen autonomen Bereich – trivial überzogen und durch die Nachahmung des Argumentations- und Begründungsgestus („wo doch feststeht, daß“ Z. 12), die SDS-Rhetorik von 1968 karikiert wird. Nicht von Kritik ausgenommen, aber doch ohne Spott bleiben die in Strophe VII Angesprochenen: ihr durch die Endgültigkeit des Todes als unkorrigierbar bezeichnetes Versagen gibt der Kritik aber mindestens die gleiche Intensität wie in den übrigen „Einige“-Strophen. Die Kritik von Haltungen, mit denen auf den Zerfall der Studentenrevolte reagiert wurde, bildet eine erste Bedeutungsebene des Gedichts. Wondratschek gibt – bei aller metaphorischen Ausdrucksweise und sprachlichen Vagheit – eine im Kern zutreffende Darstellung des historischen Verlaufs und Zusammenhangs der verschiedenen Gruppierungen. Er analysiert nicht die Ursachen des Scheiterns der Studentenrevolte, untersucht nicht von „außen“ die zugrunde liegenden politischen und sozialen Ursachen; sondern er schildert die sozialpsychologischen Folgen der Revolte von „innen“.
III
Die konkrete an Geschichte anknüpfende Kritik kann zugunsten einer unhistorischen, verallgemeinerten Lesart übersehen werden. Allen im Binnenteil widerlegten Haltungen ist gemeinsam, daß sie für sich genommen eine „unbedingte Heilsgewißheit“ darstellen. „Die konkurrierenden Alleinvertretungsansprüche“ heben sich gegenseitig auf. Das Gedicht beharrt auf der Einsicht, daß alle kritisiert werden müssen, die eine Position für die einzig richtige halten. Das Gedicht kritisiert aber nicht im Binnenteil jene Haltungen, die absolute Gültigkeit beanspruchen, um dadurch Raum für eine eigene Fixierung zu gewinnen.
Zwar kontrastiert die „Wir“-Strophe schon syntaktisch mit dem Binnenteil: Dem finalen bzw. konzessiven Satzgefüge des Binnenteils steht mit der Satzreihe in den Rahmenstrophen das syntaktische Gegenmodell gegenüber; der grammatische Gegensatz beinhaltet aber keine unterschiedliche Wertung, sondern hat nur beschreibende Funktion. Das Satzgefüge bildet das funktionale Denken aller „Einige“ ab, die Satzreihe verweist auf die Ziellosigkeit der „Wir“-Gruppe. In der Rahmenstrophe ist ein eigenes Ziel der „Wir“-Gruppe kaum zu erkennen. Schon die Mobilität der im Auto Hockenden ist scheinbar. Die Rahmenstrophe skizziert eine dekonzentrierte Situation: die durativen Verben (hocken, drehen, suchen) bezeichnen keine auf ein (zeitliches) Ende oder ein Ziel hin ausgelegte Tätigkeit. Konturen gewinnt die geschilderte Situation nicht durch die Aktivitäten der Sprechenden, vielmehr wird die Situation nur von „außen“ durch den Rahmen („in den Autos“) zusammengehalten. Die einzelnen Tätigkeiten haben so wenig Bedeutung für die Gruppe, daß sie zeitgleich nebeneinander ablaufen können. Sie werden von den Ausführenden nur nebenbei betrieben, sind nicht durch eigene Absichten geleitet, sondern nur durch die äußere Situation angeregt. Das Drehen am Radio meint nicht das gezielte Suchen eines bestimmten Senders oder einer bestimmten Sendung; auch der Suche nach der „Straße nach Süden“ fehlt jede Konkretion – gleichgültig, ob man sie metaphorisch (als Suche nach besseren, südlichen Gefilden) oder konkret (als Suche nach der zu einem Reiseziel führenden Straße) versteht. Die Orientierung nach Süden ist diffus. Sie visiert weniger eine konkrete Alternative an als eine mit vielen traditionellen Konnotationen aufgeladene vage Sehnsucht. Man dreht am Radio, weil das empfangene Programm nicht zufriedenstellt; man sucht eine Straße, um wegzukommen, bemüht sich aber nicht intensiv, die Straße auch zu finden. Die Rückerinnerung hält als charakteristische Haltung keine aktive Suche – eine Fahrt –, sondern eine Pause fest. Psychologisch gesprochen, fehlt es den „Wir“, im Gegensatz zu den „Einigen“, an Leidensdruck, um ihre Situation wirklich verändern zu wollen: Man ist mit der Gegenwart unzufrieden, erwartet sich aber nichts von einer Veränderung. Die Suche eines Radioprogramms wie das Suchen einer Straße der Sehnsucht sind gleichwertig nebeneinander gestellt. Sie entwerten sich gegenseitig, zeigen, daß von beiden Suchen wenig abhängt: fände man den Süden, würde es wohl wie bei Udo Lindenberg heißen:
Nun sitz’ ich hier im Süden, und so toll ist es hier auch nicht.
Die äußere Ruhe („Wir waren ruhig“), die im ersten Vers lapidar behauptet wird, erweist sich im Kontext der ganzen Strophe als leere Zerstreutheit. Die eigene (zurückliegende) Zerstreutheit und Orientierungslosigkeit entwertet aber nicht die im Binnentext vorgetragene Skepsis gegenüber den absoluten Positionen. Eher beglaubigt die Selbstkritik, die darauf verzichtet, den „Wir“ politisch ein richtiges Verhalten zu unterschieben, die skeptische Haltung. Rahmen und Binnenteil werden beide als vergangen vorgeführt. Das Gedicht erinnert gleichermaßen an die Situation „In den alten Autos“ wie an die Reaktionen der „Einige“. Die Selbstkritik und die Distanz, die zur geschilderten Zeit gehalten wird, bewahrt das Gedicht vor dem Verdacht, daß die vehement vorgetragene Kritik poetisches Alibi sei, mit dem das eigene Versagen bemäntelt werden solle.
Steht also am Gedichtende Resignation, da die verschiedenen engagierten wie unpolitischen Positionen nur skeptisch bestritten werden, das Gedicht aber keine positive Alternative bereithält? Stellt sich Wondratschek in dem Gedicht als „Zyniker des status quo“ vor?
„In den Autos“ paßt in seiner Sprechweise als Erinnerungsgedicht und in seiner Motivik (s. „alte Autos“) einerseits zu der Nostalgie-Welle, die überall die optimistische Aufbruchstimmung der späten sechziger und frühen siebziger Jahre abgelöst hatte. Andererseits leistet das Gedicht durch seine erinnernde Auseinandersetzung mit Folgen der Studentenrevolte mehr als das, was 1975 in den publizistischen Medien der Bundesrepublik Deutschland möglich war. In diesem Jahr hatte z.B. Der Spiegel, soweit ich sehe, nur einmal Platz für einen Bericht über die APO; Moslers Buch über ihr Nachleben erschien erst 1977.
Erinnerung ist von sich aus dialektisch. Sie macht das Vergangene als Vergangenes bewußt und verdeutlicht den Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit, ermöglicht aber zugleich, daß Traditionen bewußt werden, daß der Zusammenhang von Heute und Gestern aufrechterhalten wird. Die Gegenwart hat in der Erinnerung an ihre eigene Vergangenheit sogar die Möglichkeit, ihre Zukunft nach Vorbild und Wirkung der Vergangenheit auszubilden. Eine solche Funktion der Erinnerung hat sich bei der bisherigen Betrachtung des Gedichts nicht gezeigt. Weder die Darstellung der nach 1967/68 eingenommenen Haltungen, die nirgendwo eine Möglichkeit zu positiv bewerteter Aktivität sichtbar werden ließ, noch der hieraus abgeleitete Skeptizismus, der den engagierten Positionen ihre Einseitigkeit und der unpolitischen ihre Ziellosigkeit vor Augen hielt, wenn nicht vorwarf, läßt positive Folgen solcher Erinnerung erkennen. Diese scheinen von Wondratschek bewußt ausgespart, wenn man sich klar macht, daß das Gedicht keineswegs eine vollständige Aufarbeitung aller nach der Studentenrevolte eingenommenen politischen und sozialen Haltungen bringt. Vergleicht man die jüngste Geschichte der politischen Linken in der Bundesrepublik Deutschland nach der Studentenrevolte mit Wondratscheks Gedicht, so zeigt sich schnell, daß Wondratschek die individuell wie kollektiv sinnvollen Reaktionen und die auf vielen Gebieten einsetzende konkrete politische Arbeit übersieht. Auf solche Alternativen weist Peter Mosler bei einer ganzen Reihe seiner auf typische Lebensläufe ausgelegten Sammlung von Biographien der Teilnehmer der Studentenrevolte hin. Er skizziert z.B. auch den Herausgeber und Drucker politisch linker Bücher, den Mitarbeiter in Kinderläden, in Gegenbuchläden, in sozialistischen Selbsthilfeorganisationen, in Frauenkneipen und Dorfkommunen. Bietet Wondratschek also sogar eine bemüht einseitige Darstellung der Folgen von 1967/68? Ist das Gedicht als Rechtfertigungsgedicht des Autors gegenüber seinen ehemaligen Gefährten aufzufassen?
Gegen ein solches Verständnis spricht zunächst, daß es dem Gedicht offenkundig weniger um die „Einige“, als vielmehr um die Position der „Wir“ geht. Deren Haltung steht am Gedichtanfang, der den Leser besonders zur Identifikation einlädt. Und sie wird am Ende, ohne die kleinste Korrektur, wiederholt und, wenn auch nicht gebilligt, so doch insoweit bestätigt, als die im Binnenteil vorgetragenen Haltungen offenbar kein Vorbild sein können, keine Änderung erzwingen.
Die „Wir“-Gruppe bleibt im Gegensatz zu den „Einigen“ eine von „Noch-nicht-Entschiedenen“. Sie sind noch offen für eine neu zu findende Identität. Die Situation „In den Autos“ zeigt nicht ratlos Suchende. „In den Autos“ sitzen und nicht wissen, welche Straße wann zu fahren sei, ist eine durchaus ambivalente Situation. Sie belegt einerseits die Orientierungslosigkeit der Insassen, andererseits beinhaltet sie auch die Gewißheit der Veränderung. Sie ist nicht von Dauer, sondern voller herausgestellter Vorläufigkeit und verweist auf den transitorischen Charakter der „In den Autos“ Sitzenden. Das in der ersten Strophe gezeigte lyrische Bild gibt, wie oft bei Wondratschek, vor allem eine soziale Bestimmung. Es ist ein sozio-kulturelles Stenogramm, obwohl es durchaus rhythmische und lautliche Qualitäten hat. Wie wird in der Grundsituation des Gedichts die soziokulturelle Identität der „Wir“-Gruppe bestimmt? „Wir“ meint hier nicht bloß Zeitgenossen, die gleiche Erfahrungen und gleiche Verhaltensweisen haben. Die „Wir“ des Gedichts definieren sich konkret als in Gruppen Lebende. Die bestimmende soziale Gruppe ist aber nicht der Kreis der eigenen Familie und schon gar nicht der der Eltern; noch sind die „Wir“ als Rocker, als Mods o.ä. zu verstehen. Für jene wäre eine Heim-Situation, für diese eine Straßen-Situation charakteristisch. Die „Wir“ gehören sozial weder der behüteten Mittelschicht noch der sozialen Unterschicht an. Sie sind überhaupt weniger durch soziale Klassenzugehörigkeit als durch soziokulturelle Gewohnheiten bestimmt. Der typisierende Plural erlaubt, nicht nur bei dieser Frage, eine exzessive Auslegung: Was das Alter angeht, stehen sie zwischen der Generation der noch ganz Jugendlichen und den schon Erwachsenen. Sie haben schon Autos, aber noch keine neuen, worauf der bestimmte Artikel deutlich hinweist. Vielleicht kann man sie sich am ehesten als eine studentische Gruppe denken. Dies würde nicht nur gut zum Binnenteil passen, sondern auch der geplanten Reise in den Süden noch einen konkreten Sinn geben. Denkt man sich die potentiell Reisenden als Studenten auf einer Reise ins noch nicht festgelegte Ferienziel, erklärt sich die Autorast ganz banal: Unbedrängt von der Kürze eines Arbeitsurlaubs besteht kein Zwang, schnell einen Urlaubsort zu erreichen.
Solche soziale Etikettierung ist für das Gedicht aber nicht so wichtig. Wichtig ist nur, daß die Grundsituation des Gedichtes eine Haltung zeigt, die für Jugendliche symptomatisch ist, für Erwachsene aber nicht. Sie unterläuft direkt den funktionellen Gebrauch eines Autos, kehrt, fast herausfordernd den Vorwurf der Erwachsenen („Hängt nicht so planlos rum“) aufnehmend, die eigene Lebenshaltung heraus. In diese gehört auch das Drehen am Radio. Die Automatik der spielerisch-zerstreuten Sendersuche verweist nicht nur auf die Gewohnheit, ziellos mehrere Tätigkeiten nebeneinander und ohne Organisation auszuüben. Sie zeigt auch, daß die „in den Autos“ Sitzenden das Radio mit größter Selbstverständlichkeit behandeln, daß es ihr Medium ist.
Die Erwähnung des Radios mit dem simplen Hinweis auf das geringe Handlungspotential zu erklären, das in der Situation „In den Autos“ zur Verfügung steht, greift zu kurz und erklärt nicht, warum Wondratschek eine solche Situation ausgewählt hat. Man darf von der Situation nicht abstrahieren und im Radio bloß irgendein die Wirklichkeit vermittelndes Medium sehen. Wondratschek will nicht kulturkritisch darauf verweisen, daß die „Wir“-Gruppe zu direkter Erfahrung von Wirklichkeit generell unfähig sei. Zeitung oder Fernsehen bleiben hier nicht unerwähnt, weil sie aus der Situation nicht so leicht zu motivieren sind; das Pantoffelkino der Familie und die Bild-Zeitung der Frühstückspause am Arbeitsplatz sind vielmehr im Sinne des Gedichts falsche Medien, weil sie eine Kultur der Erwachsenen signalisieren würden. Für Jugendliche gibt es weder eine ernstzunehmende Zeitung oder Zeitschrift noch einen TV-Sender. Das Radio meint im Kontext von Wondratscheks Gedicht auch nicht irgendwelche Programmteile oder einen beliebigen Sender. Die ersten und zweiten Programme mit den Landwirtschaftssendungen und Kulturfeatures sind wohl kaum gemeint. Sicher ist eher an die dritten Programme und ihre Musiksendungen, an SWF 3, Bayern 3, WDR 2 oder an den AFN zu denken, der sagt „stay in bed / enjoy yourself, here is more of Elvis“ (wie es in Wondratscheks Gedicht „ Schlechtes Wetter“ heißt). „Radio hören“ ist eine Freizeitaktivität mit sozialem Identifikationswert. Das Radio ist für die Rock-Musik, „die als zentrale Aktivität der Jugendkultur gilt?“, das wichtigste Medium.
Daß Radio in den alten Autos gehört wird, steigert den sozialen Erkenntniswert des Motivs noch, wie eine ganze Reihe von Popmusiktexten und Gedichten der sich als „Beat-Generation“ verstehenden Autoren beweist.
Die Rahmenstrophe kann also in mehrfacher Hinsicht als soziokulturelles Stenogramm der Jugend nach der Studentenrevolte gelesen werden. Die „Wir“-Gruppe verhielt sich entsprechend der relativen gesellschaftlichen Ruhe der Jugend in dieser Zeit politisch ruhig. Für sie war die Gruppe Gleichaltriger der zentrale Bezugspunkt, deren Ort außerhalb von Familie, Arbeitswelt und offener Straße lag. Ihr Verhalten und ihre Konsumgewohnheiten sind denen der Erwachsenen entgegengesetzt. Sie hängt – saloppe Paraphrase sei erlaubt – nur so ’rum, in alten Autos, im Kopf nichts als Rock-Musik und die Sehnsucht nach einer vagen Freiheit.
Die Grundsituation „In den Autos“ ist auf Wiedererkennen durch den Leser angelegt. Sie wird dynamisiert, da sie wie die Binnenstrophen in der Vergangenheitsform steht. Das Präteritum appelliert an den Leser: trifft das soziokulturelle Stenogramm der Rahmenstrophe auch noch seine heutige Lebenswirklichkeit? Nachdem im Binnenteil sechsfach die Sinnfrage von Lebensentwürfen aufgeworfen wurde, lassen die Wiederholung der Rahmenstrophe und der transitorische Charakter der Situation Parken „in alten Autos“ eine Antwort um so dringlicher erscheinen.
Das Gedicht blickt also nicht nur historisierend nach rückwärts auf die Studentenrevolte. Es erschöpft sich nicht in einer nur beschreibenden Darstellung der Verhaltensweisen, die nach dem Scheitern der Revolte üblich wurde. Es ist auch mehr als ein Rechtfertigungsplädoyer für einen vagen Skeptizismus – so gut dieser auch in die damals wie heute aktuelle Diskussion um den neuen Sozialisationstyp passen mag. „In den Autos“ ist auch ein auf die Zukunft orientiertes Gedicht. Es wendet sich an jugendliche Leser und geht von ihren kulturellen Erfahrungen aus. Die scheinbar geistige Schwäche des Textes, der kritische Rundumschlag, der die verschiedenartigen Positionen ad absurdum führt, wie das Verschweigen historisch richtiger Antworten auf das Scheitern der Studentenrevolte, ist Ergebnis eines genau auf die jugendlichen Leser kalkulierten Stils: ein Gedicht, das Jugendlichen eine Selbstcharakteristik anbietet und die Frage nach einer möglichen Veränderung ihrer Identität stellt, würde sich lächerlich machen, wenn es mehr versuchen würde, als Fragen zu stellen. Antworten zu geben verbietet sich nicht nur aus ästhetischen Gründen. So wenig das Gedicht in seiner Unentschiedenheit, in seiner kritischen Betriebsamkeit eine Auseinandersetzung mit Zeitproblemen ist, so verhindert es diese doch nicht. Es appelliert an die jugendlichen Leser, diese selbst zu führen.
IV
Das leise Lachen am Ohr eines andern ist wie die beiden Gedichtbände Chuck’s Zimmer und Männer und Frauen im Selbstverlag erschienen. Wondratschek vertreibt sie über den Platten- und Buchversand 2001. Der Versand, 1969 gegründet, der nach 1974 zunehmend auch verlegerisch tätig ist, hielt sich Wondratschek sozusagen als ersten Hausautor: für die „Merkhefte“, die Werbebroschüren und Kataloge des Versandes, schrieb Wondratschek in den Nummern 29–34 (1975–1978) sechs „Merkheft-Gedichte“, „speziell für jede Nummer […] ein neues Gedicht, das als Faksimile“ abgedruckt wurde.
Die innige Verbindung von Autor und Verlag läßt einen Blick auf den Vertrieb und das in ihm präsente Image Wondratscheks nützlich erscheinen.
Die Werbung des „Verkaufs 2001“ – so möchte 2001 am liebsten genannt werden – basiert auf einer perfekt vorgetragenen Doppelstrategie. Deren Grundideen sind der stete Hinweis auf kommerzielle Exklusivität bei gleichzeitigem Nachweis der eigenen Popularität und der betonte Ausdruck von Vertrautheit zwischen Vertrieb und Käufer bei gleichzeitigen Distanzierungen. „Humaninterest-stories“ in Frau Susemihls Kolumne wie in den einleitenden Briefen des Mitherausgebers Lutz Reinecke machen den Leser mit dem Alltag des Vertriebs bekannt. Sie stellen das zum Geschäft nützliche Vertrauensverhältnis zwischen Vertrieb und Käufer her. Die „Sie“-Anrede der Käufer durch Reinecke vermeidet aber allzu große Vertrautheit: Schließlich soll der Leser der „Merkhefte“ zum Käufer werden und sich nicht schon durch die Lektüre der Werbungsbroschüre allein als Mitglied der Familie 2001 fühlen können. Einerseits wirbt 2001 mit dem großen Verkaufserfolg, nach dem Motiv: was sich oft verkaufen läßt, muß doch gut sein, und man zitiert gerne bei einzelnen Produkten wohlwollende Rezensionen der etablierten Kultur. Andererseits gibt man sich das Image eines „Alternativ- und Exklusiv-Vertriebes“, indem man die Querelen mit Gerichten, Börsenverein, Buchhändlern, Spiegel-Reportern, kurz mit allem, was Etabliertheit verkörpert, breit auswalzt und ständig betont: „dieses Buch, diese Platte gibts exklusiv nur bei uns“. 2001 erklärt immer offen sein kommerzielles Interesse am „Verkauf“, betont aber ebenso seine Überzeugung von der kulturellen Bedeutung des Vertriebenen.
Mit solcher Werbung zielt 2001 vorwiegend auf ein jugendliches Publikum. Diesem imponiert geschäftliche Offenheit wie Kulturoptimismus. Das Angebot von 2001 ist breitgefächert und enthält auch große Gesamtausgaben aus Literatur und Musik. Es konzentriert sich aber auf den Bereich, der besonders die jungen Käufer anspricht. Die feinsinnige Unterscheidung von „Platten“ (U-Musik jeglicher Spielart) und „Klassik“ (E-Musik jeglicher Spielart) zeigt das deutlich.
In seiner Funktion als Hauslyriker von 2001 paßt sich Wondratschek dem Image des Vertriebes an. Die faksimilierten Gedichte in den „Merkheften“ stellen die Spuren ihres Entstehungsprozesses offen zur Schau und beweisen dem Leser die Echtheit des auch sonst in den „Merkheften“ üblichen freundlich-saloppen Umgangstons: „Lieber Lutz, letzte Nacht entstanden. Das nächste Gedicht schicke ich Dir aus Amerika“, fügt Wondratschek handschriftlich dem Typoskript von „Merkheft“-Gedicht Nr. 4 (Merkheft Nr. 32) zu. Die Du-Anrede erscheint selbstverständlich. Der leicht gewährte Einblick in den dichterischen Schaffensprozeß und das Privatleben des Autors sagen dem Leser: Vertrieb, Autor und „Wir“-Käufer gehören zusammen.
In den „Merkheften“ werden oft Fotos von Wondratschek gezeigt. Bis zum Erscheinen seines vierten Gedichtbandes zeigt 2001 uns den Dichter immer allein. Im Zimmer ebenso selbstverständlich barfuß, im T-Shirt und mit Sonnenbrille (M 39), wie in allen Straßenszenen in Jeans und dunkler salopper Joppe. Wir sehen ihn vor einer leeren, ungetünchten Mauer (M 31), in einer Straße (M 32), die, mit Kopfsteinpflaster und alten heruntergekommenen Wohnungen, ganz als der passende Ort für eine studentische Wohngemeinschaft erscheint, in einem Hauseingang mit großem poppigen Werbeplakat einer billigen Bar (M 33) und vor einem amerikanischen Schaufenster mit popiger Reklameschrift (M 41), die den Dichter in das künstlerische Arrangement voll einbezieht. Dabei ist Wondratscheks Ikonographie immer leer. Der Dichter ist stets allein und mit sich selbst beschäftigt; nachdenkend oder lächelnd bleibt ihm außer seiner Kleidung jedes Attribut versagt. Er tut nichts, schon gar nichts, was auf seine Umwelt Bezug hätte. Nur Rauchen ist ihm einmal (in M 32) gestattet. Er paßt sich, soweit es geht, der Umgebung, in die ihn die Fotografin stellt, an. Vor der leeren, Kälte assoziierenden Mauer steht er mit schiefem Oberkörper und leicht eingeknickten Knien, vor dem marktschreierisch bemalten amerikanischen Schaufenster gerade und breitbeinig, wie ein Trucker. Die Wirkung der Werbefotografie resultiert weniger aus der fotografierten Person, als vielmehr aus dem Zusammenspiel von image-bildendem Anzug und rollennahem Hintergrund. Der Betrachter kann sich, da keine Eigenheit der Person und keine Handlung gezeigt werden, leicht in die dargestellte, gleichsam erstarrte Figur hineinsehen.
Was bei Wondratscheks Selbstdarstellung auffällt, ist, daß sie – anders als etwa bei Grass – nicht auf Identifizierung, sondern auf Nichterkennbarkeit angelegt ist. Wondratschek macht sich weniger als Individuum – das Gesicht liegt bei den Fotos meist im Halbdunkel – denn als Mitglied einer Gruppe, ja, als Träger eines Kleidungsstücks erkennbar. Durch solche Präsentation des Autors akzentuiert die Werbung, daß seine Gedichte Ausdruck zeitgenössischer Jugend- und Popkultur ist. Die Dichterporträts zeigen die Schönheit des Alltags. Auch sie stellen Vertrautheit zwischen den jugendlichen Lesern und dem jugendlichen Autor her. Die in 2001-Merkheften zitierten Rezensionen zielen in die gleiche Richtung. Sie betonen, daß Wondratschek sein Material aus der alltäglichen Umwelt der Rezipienten nimmt.
„Wondratscheks Erfahrungen sind die Erfahrungen einer ganzen Generation. Das ist das schnell gelüftete Geheimnis seines Erfolges.“ Wenn man die Zugehörigkeit zu einer Generation nicht nur durch eine gemeinsame Lebenszeit, sondern auch durch kulturelle Traditionen bestimmt sieht, ist dieses von der Kritik vorgetragene und von der Werbung aufgegriffene Urteil durchaus richtig. Es genügt, den Gedichtband Das leise Lachen am Ohr eines andern allein auf Namen, die einer ganzen Generation nicht nur bekannt, sondern vertraut sind, durchzumustern. Es treten auf, in der Reihenfolge des Erscheinens: Muhammed Ali, Lana Turner, Robert Mitchum, Rolf Dieter Brinkmann, Die Rolling Stones, Joe Frazier, George Foreman, Archie Moore, Elvis Presley, die Beatles, Bob Dylan, Little Richard, Peter Kern, Ernest Hemingway, James Dean, Marylin Monroe. In den Gedichten zeigt Wondratschek seine Kenntnis von der Lebens- und Bildungswelt seiner Leser. Er wählt die Superstars der Popmusik, des Sports und des Films seiner Generation aus, und er beschreibt auch die Erfahrungen, die seine Generation mit diesen Stars gemacht hat. Wer deutschsprachige Schlagerkultur à la ZDF-Hitparade goutiert, gehört, auch wenn er genauso alt ist, nicht dazu. Diese Schlagerwerbung begreift sich als integrative Kultur der ganzen Fernsehnation und nicht als Gegenkultur, wie es der Pop tut; gleichgültig, ob dieser Anspruch immer eingelöst wird. Die Superstars der Jüngsten spart Wondratschek aus und bleibt schon zeitlich im Umkreis dessen, was sich die 1940–1950 Geborenen an angelsächsischer Popkultur aneigneten. Darüber hinaus läßt seine Auswahl und die Art seiner Aneignung kaum Vorlieben erkennen. Er favorisiert im Bereich der Popkultur 1975 das, was man – analog zu einem Ausdruck der Jazzkritik – als „mainstream“ bezeichnen kann.
Aufs Bravo-Niveau begibt er sich nie. Die Superstars und die Welt des Rock ’n Roll werden in seinen Gedichten nicht blind verherrlicht. Vielmehr konfrontiert Wondratschek in vielen Gedichten Erscheinungen der Popkultur mit konkreten Erfahrungen ihrer Rezipienten: „Man möchte leben können vom Atem, den alten Filmen, / vom Rock ’n Roll […] /“ heißt es z.B. in Mein Freund N. dem dritten Gedicht der Sammlung. In ihm wird gerade die Unmöglichkeit gezeigt, diese weitverbretteten Wunschvorstellungen zu erfüllen. Die Pop-Welt kann nicht in die Wirklichkeit eingeholt werden. Die direkte Gegenüberstellung von Pop- und Alltagswirklichkeit. die sich etwa noch in „Bei del Favero“ und „Okay Leute, das war’s“ findet, ist nur eine Möglichkeit des dichterischen Umgangs mit dem Material der Popwelt. Andere sind: die direkt angesprochene Kritik an den Lebensformen und -träumen der Popkultur (vgl. „Warste schon mal in New York“; „Rocky“; „Einmal dein Leben“), die immanente Kritik durch entlarvende Wiederholung von Sprach- und Lebensvorstellungen der Popkultur (vgl. „Poker“; „Du“; „Chanson I–III“), die Erinnerung an frühere Bildungserlebnisse mit Popkultur (vgl. „Bob Dylan revisited“; „Auf beiden Ohren unsterblich“), die argumentative oder erlebnishafte Nachahmung des Rock’n Roll Lebensgefühls (vgl. „Gesang vor einem Gewitter“).
Der Gegensatz von Erwachsenen- und Jugendkultur wird selten entschieden herausgearbeitet, weil die jugendlichen Leser von ihm gar nicht mehr überzeugt werden müssen; aber auch diese Möglichkeit gibt es:
Vergiß Verstand die Arbeit unter Sklaven,
vergiß Verstand, Gefühle wie tolle Kinder zu bestrafen.
[…] Geh jetzt,
kauf deinen Kopf zurück,
Verlaß die Stadt,
[…]
(„Gesang vor einem Gewitter“). Die Gedichte setzen sich auch mit Popkultur als Fluchtwelt, z.B. via Rauschgift („Warste schon mal in New York“), als Traumwelt via Kinogehen oder Musikhören oder als Gegenwelt auseinander. Popkultur ist bei Wondratschek keineswegs auf die „Trivialmythen“ der letzten 15 Jahre beschränkt. Der herausgehobene Auftritt des Superstars (Muhammed Ali) steht neben der in den Alltag integrierten Popkultur, sei es als Film, als Buch, als Platte oder als verinnerlichte Verhaltensweisen der auftretenden Personen, die ein Pop-Gefühl leben, ohne Anregungen aus den Kulturkonserven zu benötigen.
Wondratschek vermeidet es nicht nur, „seine Trivialmythen […] wieder grell und geil als literarisch Besonderes, Ausgesuchtes“ darzustellen. Popkultur bezieht sich in seiner Lyrik im Sinne eines weiten Kulturbegriffs nicht nur auf die durch Kaufgewohnheiten vermittelten Artefakte, sondern begreift auch Verhaltensweisen seiner Leser mit ein. Auch hierbei bleibt er bei einer „mainstreamline“: Marihuana wird hinnehmend bejaht, harte Drogen klar abgelehnt. Die Personen seiner Gedichte leben nicht in einer Familie, eher ist auf eine Wohngemeinschaft zu schließen (s. „Schlechtes Wetter“). „Fraternalistischer Individualismus“ findet sich häufiger als „prozessiver Individualismus“ oder „Kollektivität“. Der Gegensatz von Arbeit und Freizeit fällt weg, da nahezu nur Freizeit lebens- und damit darstellenswert ist. Karriere- oder Jobdenken wird das Recht auf „Nicht-Arbeit“ entgegengestellt (s. „Lied“; „Gesang vor einem Gewitter“). Feste Rollen, besonders Geschlechterrollen, werden eher kritisiert als gebilligt (vgl. „Das Liebespaar“). Die Hochkultur der „traditionellen Mittelschicht“ wird ebenso abgelehnt (s. „Kubistisches Gedicht“) wie typisch deutsche Konsum- und Lebensgewohnheiten:
[…] in ein deutsches Wirtshaus gehen, ein Helles trinken, BILD AM SONNTAG lesen,
am Tisch sitzen wie ein Deutscher
unter Deutschen.
Unmöglich!
Ich kann nicht
(„Schlechtes Wetter“).
Das von Clarke u.a. für englische Jugendkulturen vorgeschlagene, dreiteilige soziale Raster läßt sich auf Wondratscheks Gedichte übertragen: Die in seinen Gedichten geschilderten Personen und ihre Lebensgewohnheiten lassen sich alle unter dem Begriff „Gegenkultur“ einordnen.
V
Bei aller Kritik an bestimmten Teilbereichen der jugendlichen Gegenkultur, die sich in dem Gedicht „In den Autos“ wie in vielen Gedichten der Sammlung Das leise Lachen am Ohr eines andern zeigt, spricht Wondratschek als Bewohner der Welt, die er darstellt. Dichtungsverständnis, Thematik, Motivik, Sprache, intendierte Leserschaft, Vertrieb, Werbung und Dichterimage bauen auf den Grundton Popkultur mit der Septime Rockmusik auf. Sie verstehen Popkultur als jugendliche Gegenkultur, d.h. als eine Freizeit- und Unterhaltungskultur. Wondratscheks Gedichte sprechen in Das leise Lachen am Ohr eines andern nicht nur ausschließlich von der Freizeit, sie halten daran fest, daß es nur in der Freizeit Möglichkeiten zu menschlicher Verwirklichung und kultureller Aktivität gibt. Sie entsprechen hierin Vorstellungen – die richtig oder falsch sein mögen –, wie sie in heutiger Gegenkultur gelebt und vertreten werden.
Als glaubwürdiger Dichter dieser Pop-Freizeitwelt ist Wondratschek Unterhaltungslyriker in doppeltem Sinne: nicht nur „lyrischer Entertainer“, sondern auch „Recreation-Offizier“. Die kritische Betriebsamkeit, die die Ausdrucksweise von „In den Autos“ bestimmt, ist nicht kulturkritisch gegen den Text zu wenden. Sie ist vielmehr Voraussetzung, daß er für seine jugendlichen Leser Unterhaltung bleibt und, obwohl er keine Auseinandersetzung bietet, diese doch ermöglicht. Er verzichtet auf jede Botschaft, die unglaubwürdig bliebe, aber er verfällt auch nicht in die leere Allgemeinheit des Schlagers. Wondratschek hat im Einführungsgedicht zu Das leise Lachen am Ohr eines andern scherzhaft das Rockmusik spielende Radio als seine Muse vorgeführt („Umfrage“). Sie gab ihm die Leichtigkeit und die Dichte wirklicher Unterhaltung, inspirierte ihn zu mehr Offenheit und historischer Wahrheit, als 1975 in den Medien möglich war.
Aus Peter Bekes, Wilhelm Große, Georg Guntermann, Hans-Otto Hügel, Hajo Kurzenberger (Hrsg.): Deutsche Gegenwartslyrik, Wilhelm Fink Verlag, 1982
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