Hans Raimund: Das Raue in mir

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Raimund: Das Raue in mir

Raimund-Das Raue in mir

„ICH BIN DER LETZTE REIM“

– Über Hermann Hakel. –

1

War Hermann Hakel ein Dichter?
Gibt es heute, in dieser Zeit der alles dominierenden visuellen Medien, der PCs, der globalen Vernetzung überhaupt noch so etwas Altmodisches wie einen Dichter, gar einen lyrischen Dichter – diese Obsoletesten von allen, ja die schlechthin Komischen, wie Günther Anders in dem Buch Tagebücher und Gedichte schreibt, nämlich die einzigen, die heute noch ein ganzes Produkt von Anfang bis zu Ende allein zur Welt bringen, für die es widersinnig wäre, sich als Avantgardisten aufzuspielen, seien sie doch die Brüder des troglodytischen Korbflechters, der sein Rohr allein gesucht, allein geschnitten, allein gewässert, allein gewunden und allein – verwendet hätte?
Ich glaube nicht, daß Hakel sich selbst als Dichter bezeichnet hätte. Auch wenn er – wie er in einem Radiogespräch mit Manfred Chobot erzählte – lange Zeit seine Gedichte mit einer Rohrfeder schrieb, wie der George, so schön auf einem Blatt, nicht mit einer schäbigen Schreibmaschine – das gehört sich nicht! Um sich selbst in eine Reihe mit den von ihm bewunderten Dichtern zu stellen, von Walther von der Vogelweide bis zu Ingeborg Bachmann, dazu war Hakel zu belesen, zu selbstkritisch, zu bescheiden.
Hermann Hakel verstand sich als Schriftsteller. Aber sogar als Schriftsteller sei er, sagte er einmal, kein großes, ja nicht einmal ein mittelmäßiges Talent.
Das Werk Hakels ist aufs engste mit seinem Leben verbunden. Ich kannte Hakel in seinen letzten Jahren. Ich verehrte und bewunderte ihn. Bei der Lektüre seiner Bücher – ein paar dünne Bände Gedichte, ein Band Prosa – drängte sich immer wieder die Person, der Mensch Hakel zwischen mich und den Text. Das kam daher, daß Hakels Schreiben direkt aus seinem Leben erwuchs. Mehr als bei anderen Autoren ist bei Hakel sein Leben – als Jude, als Kranker, als Literat – die Grundlage seines literarischen Werks. Er könne nichts erfinden, behauptete er oft, er könne nur aufschreiben, was er sehe, höre, rieche, spüre, denke, nur die eigene Anschauung ermögliche ihm ein anschauliches Schreiben, er könne auch nur kurze Sachen schreiben, über zehn Seiten komme er nicht hinaus… Und er redete mit Bewunderung von der großartigen Fantasie und der kreativen Potenz eines Swift, Stendhal, Flaubert, Tolstoi…
Ich lernte Hakel im Herbst 1981 kennen. Ich hatte Texte an die Zeitschrift Lynkeus geschickt, deren Herausgeber er war. Die Texte gefielen ihm. Er lud mich zu sich in die Wohnung in der Babenbergerstraße ein. Von dieser Zeit an besuchte ich ihn regelmäßig. Ich durfte auch regelmäßig Beiträge für den Lynkeus schreiben.
Ich war für Hakel einer jenen braven und anständigen Goyim, mit denen er sich gern umgab. Ich hatte Familie und einen bürgerlichen Beruf beides schätzte Hakel umso mehr, als er es selbst nie gehabt hatte. Ich war ein verläßlicher Mitarbeiter, der pünktlich seine Beiträge in korrektem Deutsch ablieferte, ein – naja: recht – talentierter Autor, dessen Texte aber nur selten seinen Vorstellungen von Literatur entsprachen. Vor allem aber war ich ein aufmerksamer, geduldiger und dankbarer Zuhörer für seine didaktischen Monologe. Ich bewunderte gehörig seine Belesenheit, seine humanistische Bildung, seine Fähigkeit, anschaulich zu erzählen, seinen kreativen Wortwitz…
Er war ein ,geborener‘ Lehrer. Und ich lernte vieles von ihm über das Judentum, über die Wiener Literatur vor und nach den beiden Kriegen, über Autoren der Weltliteratur aus allen Epochen – Dante, Montaigne, Pascal, Stendhal, Tolstoi, Emily Dickinson, Kafka, Loerke, Jünger, über ,die‘ Kräftner, ,die‘ Bachmann…
Er war ein jüdischer Lehrer, ein Rebbe, kein singender Rebbe, wie er sich selber – allerdings zweifelnd – in einem seiner Gedichte nannte, sondern ein raunzender Rebbe. Was ihn aber keineswegs weniger liebenswert oder weniger interessant machte.
Erst im Laufe der Jahre, als ich seine assoziativen Diskurse schon beinah auswendig kannte und ihm nur mehr gebannt bei seinem gestenreichen Sprechen zusah, fiel mir auf, wieviel Verbitterung, Resignation in diesem Monolgisieren steckte, wie beleidigt aggressiv und verletzt traurig der Ton seiner Stimme war, wie abwertend seine Gesten waren.
Daß er selber ein Schriftsteller mit einem eigenen Werk war, war ihm – so hatte es den Anschein – nicht wichtig. Er sprach nur selten von seinem eigenen Schreiben, und wenn, dann spielte er es gekonnt herunter. Lieber redete er von  d e r  Lyrik, von  d e r  Prosa und  s e i n e n  Vorstellungen davon.
Ich kannte von ihm nur das, was er im Lynkeus veröffentlichte: Gedichte, Tagebuchaufzeichnungen, Prosaskizzen, Träume. Erst nach seinem Tod trieb ich in Wiener Antiquariaten zu erfreulich hohen Preisen die Bücher auf, die er veröffentlicht hatte: Lyrik, Prosa, Anthologien.

 

2

Reine Stille:
stille Bäume,
stiller Schnee…
Aber meine
ist nur Stummsein
und tut weh

Was nur will es
dieses Stummsein
voller Schrei?
O du Stilles
in den Bäumen
steh mir bei!

Dieses Gedicht aus dem Zyklus „Altsein“ von Hermann Hakel entstand 1958 im 47. Lebensjahr des Autors. Ein noch nicht 50-Jähriger schreibt ein Gedicht über das Altsein. Es ist das Selbstgespräch eines Verstummten in einer um äußerste Schlichtheit bemühten Sprache. Verglichen mit der ,reinen‘ Stille des Schnees, der Bäume, empfindet er die eigene Stille als ,unreines‘ Stummsein, das schmerzt, da es ein Schrei ist, der ungehört verhallt. Hilfe erwartet der an diesem Stummsein Leidende von den Bäumen, nicht von den Menschen…: Eine ratlose, verhalten pathetische Abrechnung mit dem eigenen Leben?
Pathetischer und trostloser fällt der Befund eines zum Verstummen Verurteilten in einem Gedicht aus dem Jahr 1980 aus:

An meinen Schreibtisch geklammert,
ans Wrack meiner Schriftstellerei,
ein Greis, der sich selber bejammert
nur noch ein vergeblicher Schrei –

Die klappernde Schreibmaschine,
mein Stift und Blätter Papier
und ohne daß es wem diene
schreib ich und schreib nur von mir.

Zu vielen Blättern noch eines,
das keine Leser erreicht –
War ich ein Nachfolger Heines?
Ein singender Rebbe vielleicht –

Hakel war 69, als er diesen Text schrieb. Er sieht sich als Greis, als erfolglosen Schriftsteller, der sich an den Utensilien des Schriftstellerdaseins fest- und aufrechthält. Was er schreibt, erreicht die andern nicht. Es nützt niemandem, da er nur mehr über sich selbst schreiben kann. Noch immer erlebt er seine Existenz als Schrei den keiner hört. Auf die bange Frage, welche Rolle er eigentlich gespielt hat, findet er nur zweifelhafte Antworten.
Wieder eine Bilanz, noch bitterer als der zuerst zitierte Text, unverstellter im Selbstmitleid und in der Selbstkritik des lyrischen Ich.
Was verschlug Hermann Hakel derart die Rede, daß er – zumindest für die Öffentlichkeit – verstummte?

 

3 Aspekte der Biografie

Die Krankheit

Hermann Hakel wurde am 12. August 1911, im Jahr 5671 nach der jüdischen Zeitrechnung, in Wien geboren. Von fühester Kindheit an war er krank: mit 3 Jahren Hüftgelenksentzündung, mit 4 Jahren Augendiphterie, mit 5 Jahren Verkürzung des linken Beins als Folge eines Sturzes. Für den Rest des Lebens war Hakel auf einem Auge blind und schwer gehbehindert.
In den frühkindlichen Erfahrungen mit der Krankheit glaubte er später die Wurzeln seines Schriftstellertums zu erkennen.

MÄRCHEN VOM DICHTER

Während die anderen Kinder im Klostergarten spielten oder auf den Wiesen unten am Bach mit Bällen tollten und sich in den Garben versteckten, lag er oben auf dem Dach, nackt auf der Holzpritsche, und mußte sich bestrahlen lassen: die große eiternde Wunde dem Himmel und der Sonne preisgeben zur Heilung; schon den zweiten Sommer so.
Wenn es regnete oder trüb war und die anderen Kinder im Spielsaal würfelten, Baukastenschlösser bauten, lag er allein in seiner weiß getünchten Kammer und sah stundenlang die Gipsmadonna auf der Kommode an. Ihr Rosenkleid, ihr blauer Mantel mit den goldenen Sternen ersetzten ihm alle Farben der Welt. Die heilige Mutter und die Sonne waren immer sein Gegenüber; ihnen vertraute er sich an, sie betete er an, und beide waren es wohl, die ihn endlich geheilt haben.
So lag er wieder einmal nackt in der Sonne und sah in den Himmel, scheuchte hie und da eine Fliege, die gekommen war, sich an seiner Wunde zu nähren, lag, hielt die Hände offen und träumte davon, wie die Kinder unten spielten, Bälle warfen und fingen. Nur seine Hände blieben leer, bis auf das Sonnengold, das auf ihnen lag.
Da kam ein blauer Ball aus dem Himmel geflogen, ein Ball, den wahrscheinlich ein ungeschickter Engel nicht zu fangen vermocht hatte; denn daß er ihm zugeworfen sein könnte, nein, daran dachte der Knabe nicht. Aber er fing ihn auf.
Der Ball war wie aus Luft, so blau wie sie und fast so leicht und auch so durchsichtig, daß er unbemerkt blieb, als der Knabe ihn mit sich in die Kammer nahm.
Seit damals hatte auch er einen Ball; doch war in dem seinen die Welt, und wenn er mit ihm spielte, spielte er mit ihr.

Wie gelang es Hakel, im Alltag mit diesen traumatischen Erfahrungen zurechtzukommen und mit der Behinderung zu leben? Es gelang ihm mit Hilfe seiner Mutter, „einer typisch jüdischen Mamme“, wie er sagte, ohne die er nicht überlebt hätte, der er  a l l e s  in seinem Leben verdanke, – und mit Hilfe der Literatur. Hakel, der, bedingt durch die Krankheit, mehrere Jahre seiner Kindheit im Bett verbringen mußte, kam sehr früh mit dem Buch in Berührung. Als er acht Jahre alt war, bekam er von seinem Vater, einem Malermeister, einen Sammelband Deutsche Dichter geschenkt. Besonders beeindruckten ihn die Gedichte des Walther von der Vogelweide. Neben den Wienerliedern, den Operettenliedern und den Liedern von Schubert, die für ihn die Mutter sang, waren es die Lieder Walthers, die ihm zum lyrischen Grunderlebenis wurden.
Vor allem der Reim als zauberhaftes Sprachphänomen faszinierte ihn. Bis zum Tod hielt er in seiner Lyrik eigensinnig an der Verwendung des Reims fest. Walthers Verskunst – Hakel konnte bis ins Alter Walthers Verse auswendig hersagen – war ihm zum verpflichtenden Erbe geworden:

ERBE

So saß Herr Walther von der Vogelweide
auf seinem Stein gedankenvoll im Leide.

So saß der erste Mensch schon: in die Hände
das Haupt gestützt und dachte ohne Ende.

So sitz ich in der Fremde nun alleine
in Leidgedanken auch auf einem Steine

Erneuert auch ein jeder die Gestaltung,
so alt wir sind, so alt ist diese Haltung.

Was Walther einst die Lippen aufgebrochen,
das haben meine tröstlich nachgesprochen.

und jede Geste, jedes Wort ist Erbe,
so wie ich lebe und so wie ich sterbe.

Erst im Alter von 9 Jahren konnte Hakel eine öffentliche Schule besuchen. Es muß nicht einfach gewesen sein für einen kränklichen, halb blinden, hinkenden jüdischen Buben, sich in einer koedukativen Klasse einer Wiener Volksschule nach dem Ersten Weltkrieg zu behaupten. Aber es gelang Hakel mit zäher Willenskraft, mit der für ihn typischen, früh entwickelten sozialen Fantasie die er auf Wienerisch ,Schmäh‘ nannte, und auch mit Hilfe der inzwischen zu seiner Domäne gewordenen Literatur. In einem Gespräch, das ich im August 1987 mit ihm führte, erzählte er:

In der Schule war ich abgemeldet vom Turnunterricht. Ich war ja krank. Ich blieb auch lieber bei den Mädeln in der Klasse. Da bin ich draufgekommen – man kann die Mädeln mit dem Schmäh führen. Die andern Buben waren fesch, haben die Mädeln gehabt, sind mit ihnen spazierengegangen… Und ich war immer der Tepperte! Da bin ich draufgekommen – wenn ich mit den Mädeln allein bin und das Wort habe, kann ich sie mit dem Schmäh überführen, sie unterhalten, und sie hören mir zu, sie werden neugierig. Das hat mich animiert, ihnen etwas vorzuspielen, zu zeigen, wie gescheit ich bin, wie man Gedichte vorliest. Ein ganz normales Talent! Ich habe es lang ausgenützt, auch später dann in höchst attraktiven Fällen. Und zwar gar nicht aus Bösartigkeit.
Irgendein Mittel muß man ja haben, wenn man drankommen will: die einen zeigen, wie fesch sie sind, die zweiten, wie sie tanzen können, die dritten laufen schnell, die vierten haben Geld… ich hab nur reden können.

Und Hakel  w o l l t e  ,drankommen‘, bei den Mitschülern, später bei den Schriftstellern, dann bei den Mithäftlingen in den Konzentrationslagern, bei den jungen Autoren in Wien nach dem Krieg, immer aber bei den Frauen. Das war ihm, dem nach gängigen Schönheitsidealen durch seine Behinderung eher unansehnlichen Mann, ein besonderes Anliegen, auch wenn man nur einem kleinen Teil seiner ,Frauengeschichten‘ – mit namhaften Autorinnen der Nachkriegsliteratur, den ,höchst attraktiven Fällen‘ – Glauben schenkt ,G’schichterln‘, die er mit Gusto und einer eher peinlichen Freude am intimen Detail zu erzählen pflegte. Hakel lernte die Kunst, Menschen für sich einzunehmen, und er beherrschte sie schließlich souverän. Die Voraussetzungen waren sein durch die Krankheit kompensatorisch verstärktes Selbstbewußtsein, seine soziale Fantasie, seine Geschicklichkeit im Umgang mit Sprache, seine Bildung und nicht zuletzt sein durch die Verfolgung sich klärendes, wachsendes und fundiertes Selbstverständnis als Jude.
Wie prekär das Leben eines Kranken unter Gesunden trotzdem gewesen sein muß, wie sehr es sich dabei immer wieder um verzweifelte Drahtseilakte eines ,Luftmenschen‘ gehandelt haben muß, der oft abstürzte, aber mit der Vitalität eines Stehaufmännchens nicht daran dachte aufzugeben, davon legen viele im Gespräch vehement geäußerte Vorurteile gegenüber Mitmenschen, anderen – besonders erfolgreichen – Autoren, vor allem aber gegenüber der Frau Zeugnis ab. Das beweisen viele seiner Liebesgedichte, in denen zwischen den korrekten Sonettzeilen allzu oft der triste Hintergrund einer tristen Liebesbeziehung augenfällig durchhängt. Das beweisen die Aufzeichnungen über Literatur und Literaten in dem posthumen Band Dürre Äste Welkes Gras (1991).

Das Judentum

Gelang es Hakel anscheinend mit der Krankheit und der Behinderung zurechtzukommen, wenn auch angewiesen auf den Trost der Bücher, der Bilder, der Bäume und auf die Bereitschaft der anderen, ihn im Kampf dagegen unterstützend, mitzuspielen, so war für ihn das Judentum bis zuletzt ein Problem. Nicht das Judesein an sich sondern das Leben als Jude in einer dem Juden feindlichen Umwelt: in Wien, in der Zwischenkriegszeit und nach dem Anschluß, in Italien, in den Konzentrationslagern, und wieder in Wien, nach dem Krieg, wo er wie er einmal schrieb, als Angehöriger eines Volkes von Ermordeten in einem Volk von Massenmördern bis zu seinem Tod lebte.
Nach dem nicht sehr erfolgreichen Besuch einiger Höherer Schulen in Wien – in einer autobiografischen Skizze berichtet er, daß er nicht lernen wollte, statt zur Schule lieber in Museen und Bibliotheken, in die Praterauen und an die Donau ging – begann er 1930 eine Ausbildung in Zeichnen und Malen an der Kunstgewerbeschule, die er bald, an seinem handwerklichen Talent zweifelnd, wieder abbrach. Nach einer Existenzkrise im Jahr 1931 entschied sich Hakel für die Schriftstellerei. Er schrieb Gedichte, korrespondierte mit namhaften Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, gab eine Anthologie Jahrbuch 1935 heraus, edierte eine Reihe Neue Dichtung, in der er auch sein erstes eigenes Buch veröffentlichte.
Was in Österreich und Deutschland damals politisch passierte, sah er schon früh klar, früher als viele andere, und er sprach auch klar aus, was er sah, in Gedichten Prosaskizzen und Tagebuchaufzeichnungen.

DER GÖTZE (1931)

Zur Zeit ist nichts zu sagen,
zur Zeit wird nur gebrüllt.
Ein ungeheurer Magen verlangt,
daß man ihn füllt.

Ein jeder ist ein Bissen
im Maul und Bauch des Baal:
gekaut, verdaut, geschissen –
ein Haufen Kapital.

Von Magern wird er fetter
und will noch immer mehr.
Die Clique der Menschheitsretter
schleppt neue Nahrung her.

1933 ,tippelte‘ Hakel fast ausschließlich zu Fuß durch Österreich und Italien. In einem Gespräch mit der Zeitschrift das pult erzählte er:

1933 entschloß ich mich, der ich von Kindheit an körperlich behindert bin, zu Fuß von Wien nach Florenz zu laufen, ohne Geld wie ein armer Tippler. Ich bin viele Wochen gelaufen, habe gehungert und war der Welt ausgesetzt. Ich habe Italien nicht im Durchfahren erlebt, sondern im Durchgehen von Ort zu Ort. (…) Dieses Italienerlebenis war für mein Leben bestimmend. Es war das Gescheiteste , was ich je in meinem Leben gemacht habe. Mein ganzer Körper wurde zum Erlebnis. Genau denselben Weg bin ich dann emigriert…

Erst im Juni 1939, nachdem ihn die Gestapo schon mehrmals zum Verhör abgeholt hatte, emigrierte Hakel nach Italien, über Fiume, Triest und Venedig nach Mailand – im letzten Augenblick, wie er feststellte, nach all dem was er in Wien seit dem Anschluß erlebt hatte:

MÄRZTAGE

Seit einer Woche ist Wien voll Hakenkreuzen. Die Wiener sind begeistert und berauscht von Siegesreden, vom Heil-Gebrüll, vom Bier- und Weinkonsum. In der Hauptallee. (…) Auf den hölzernen Geräteschuppen, wie überall, die blutrote Fahne mit schwarzem Hakenkreuz im weißen Kreis. Auch auf dem Kehrichtwagen und am Haus der Parkverwaltung.

Ein Mann liegt auf einer Bank. Der Hut verdeckt sein Gesicht. Hat er hier geschlafen? – Ich nähere mich und er öffnet gerötete Augen. Seine Haut ist fahl, seine Lippen sind lose, – im Knopfloch seines schäbigen Mantels steckt ein metallenes Hakenkreuz.

Seit zehn Tagen sind unsere Mahlzeiten pünktlicher und so billig wie möglich. Wir wissen, daß nur ein gnädiger Zufall uns noch leben läßt.

Das täglich Gratis-Gaudium des Pöbels: Juden müssen Straßen reiben, auf Wiesen Froschhüpfen und Hundedreck fressen…

Hakels Internierung in italienischen Konzentrationslagern – in Alberobello bei Bari, Eboli bei Salerno, Albergo bei Potenza und Ferramonti bei Cosenza – wurde für ihn, den durch die deutschen Klassiker gebildeten jüdischen Literaten zu seinem Italienerlebnis. Für ihn waren die Italiener bis zuletzt das „einzige humane Volk dieser Welt“. In dem Gespräch für die Zeitschrift das pult sagte er:

Sie waren wie Väter. Warum sie uns Juden einsperren mußten, war ihnen nie klar. Ich war in drei verschiedenen Lagern, bis ich in Kalabrien landete. Wir haben gehungert und gefroren, aber nie hat uns ein Italiener beschimpft oder gar geschlagen. Wir konnten uns außerhalb des Lagers frei bewegen, niemand kontrollierte uns. Die Mitmenschlichkeit der Italiener war erstaunlich, auch wenn sie nicht immer tief ging. Man konnte wunderbar mit ihnen leben, was man mit Deutschen und Österreichern nicht kann. Mitten im Krieg, in der Not, konnten sie sich über einen schönen Tag freuen oder einfach darüber, daß sie am Leben waren. Das hat uns oft geholfen. Sie waren so gegenwärtig und fähig, den Augenblick stark zu erleben. Diese Fähigkeit, den Augenblick zu erleben – das ist italienisch, und davon lebe ich auch.

Als Hakel 1944 nach der Befreiung durch die Alliierten aus amerikanischen Zeitungen von den Vorgängen in den deutschen Konzentrationslagern erfuhr, erlitt er einen Herzanfall. Er war ein halbes Jahr im Spital. 1945 reiste er nach Palästina zu seiner Familie, die sich nach Tel Aviv hatte retten können. Es hielt ihn dort aber nicht.
1947 war er wieder in Wien.

IN EINEM WIENER PARK

Erschrocken siehst du plötzlich die Gesichter:
zwei Zeilen einer unverstandnen Schrift.
Hier war das Leben selbst des Lebens Dichter
und schrieb mit unerbittlich strengem Stift.
Das Wesen siehst du nur als seine Zeichen.
Sie fordern alle das Subjekt für sich
und wie sie grauenhaft einander gleichen,
sagt jeder „Ich“ und immer wieder „Ich“!.
Das ist kein Satz, wo nichts als „Ich“ zu lesen,
hier groß, dort klein, hier alt, dort jung…
Vielleicht sind sie einmal ein Sinn gewesen,
jetzt geht durch alle, wie ein schwarzer Sprung
der Strich des Dichters, der sich selbst verneint,
als Irrtum streichend, was damit gemeint.

Hakel versuchte, wieder in Wien und im Wiener Literaturleben Fuß zu fassen. Er wurde Vorstandsmitglied und Lektor im Österreichischen P.E.N.-Club, er setzte sich für die Förderung junger Autoren ein, gründete die Zeitschrift Lynkeus, edierte Anthologien, Judaica, Viennensa.
Bald aber, Mitte der 50er-Jahre zog er sich enttäuscht aus dem Wiener Literaturleben zurück. Er wirkte 2 Jahre als literarischer Volksbildner in Wien und München. Er machte noch einige kurze Reisen, begann 1979 noch einmal mit einer neuen Serie des Lynkeus, die er 1986, ein Jahr vor dem Tod, einstellte.
Zwischen 1947 und 1955 veröffentlichte Hakel vier Lyrikbände und einen Prosaband. Ab 1955 veröffentlichte Hakel kein Buch mehr mit eigenen Texten.
Trotzdem schrieb er unablässig weiter: Gedichte, Prosastücke, Aufsätze, Tagebuchaufzeichnungen…
Schreiben war für Hakel klärendes Gespräch mit sich selber, Vehikel der Wahrheitsfindung. Aber die Wahrheit will keiner wissen, sagte er in seinem letzten Radiogespräch bitter. Er aber wollte die Wahrheit wissen, und er wollte sie aussprechen.
Im Mittelpunkt von Hakels Denken, Klären, Reden und Schreiben stand das, was den Juden, seinem Volk, im 20. Jahrhundert angetan worden war. Im Gegensatz etwa zu seinem Zeitgenossen Günther Anders, der, wie Hakel meinte, sich als Jude bei den Nicht-Juden anbiederte, indem er wohlfeile Lösungsvorschläge für aktuelle zivilisatorische und technologische Probleme auf den Markt brachte, derart z.B. Auschwitz durch Hiroshima verdrängend, sah sich Hakel außerstande, etwas anderes zu tun, als denkend, klärend, redend und schreibend die Wahrheit über den Holocaust zu finden und zu sagen. Hakel war kein Philosoph. Er war dem abstrakten Denken ganz und gar abgeneigt. Deutsche Philosophen könne er nicht lesen, sagte er, dieses ,chochmetzen‘ Adornos, Horkheimers oder Anders’ sei ihm, sogar ihm als Juden, zutiefst zuwider. Jedes Denken, das über ein gewissen Maß an Abstraktion hinausging, war ihm verdächtig.
Den Denkschritt, den der Philosoph Günther Anders in dem Buch Die Antiquiertheit des Menschen von dem Satz: „Alle Menschen sind sterblich“ zu dem zwar durch Hitler und Stalin bewiesenen, aber immer noch schwer nachvollziehbaren Satz: „Alle Menschen sind tötbar“ machte, diesen Schritt zu machen, weigerte sich der konservative Jude Hakel als ,der antiquierte Mensch‘ schlechthin. Für derartige für das Weiterleben hilfreiche Abstraktionen hatte er nichts übrig. Und schon gar nicht für das konsequente Fortschreiten des Philosophen zu dem durch Hiroshima möglichen Satz:

Die Menschheit ist als ganze tötbar.

Wie konnte ein Jude, ein Überlebender, die Bombe, die Angst vor der Bombe,  v o r  den Holocaust stellen? Hakel sah darin eine Form des jüdischen Antisemitismus, den zu brandmarken er bis zu seinem Tod nicht müde wurde.
Nicht die opportunistische, parteigebundene Cliquen-Wirtschaft der Wiener Literaturszene trieb Hakel in eine innere Emigration, sondern seine als Jude bedingungslose Solidarität mit dem Schicksal der Juden 20. Jahrhundert. Er war nicht nur ein ,Betroffener‘, wie es so österreichisch euphemistisch in einem Nachruf heißt, er war ein ,Getroffener‘, ein zu Tode Verwundeter.
Verstehen wollte er noch, eigensinnig das ,Warum‘ herausfinden. Daß er mit dem, was er dachte und schrieb, bei den Österreichern, diesen Weltmeistern im Verdrängen, kein Echo finden konnte, das war ihm – lustvoll, wie er gern und oft zugab – bewußt, auch daß er für sie ein Ärgernis war, ein Unbequemer, ein Unzeitgemäßer. Als Moralist und Fanatiker der Wahrheit weigerte er sich aber, sich als ,aktueller‘ Literat einer Generation anzubiedern, die offensichtlich auf das Vergessen aus war. Lieber schwieg er.

 

4 Aspekte des Werks

Hakel veröffentlichte zwischen 1936 und 1955 sechs Bücher mit eigenen Texten. 1936 den Gedichtband Ein Kunstkalender in Gedichten, 1947 den Gedichtband Und Bild wird Wort. Beide Bände zeigen Hakels Nähe zur bildenden Kunst, vor allem zur Malerei. Die Texte sind Übungen in traditionellen Versformen im Sprachgestus dem 19. Jahrhundert verpflichtet. Mit den Bänden An Bord der Erde (1948), Ein Totentanz 1938 bis 1945 (1950) und Hier und Dort (1955) hatte Hakel  s e i n  Thema und  s e i n e n  – wenn auch nicht unverwechselbaren – Ton gefunden. Der 1955 veröffentlichte Prosaband Zwischenstation gehört zum Lesbarsten und Eindrucksvollsten von Hakel. Diese Kurzprosa steht nicht in der Tradition der österreichischen Feuilletonisten oder Peter Altenbergs, sondern in ihrer spontanen, subjektiven Erzählhaltung, in ihrem Mut zum Fragmentarischen, Skizzenhaften, Unvollkommenen eher in der Tradition der großen Franzosen, die Hakel sehr verehrte: Montaigne, Stendhal, Valéry… Zu Hakels Werk ist aber auch unbedingt die Zeitschrift Lynkeus zu rechnen. Zum einen war die Zeitschrift das einzige Forum für Hakels unveröffentlichte Texte zum andern hat Hakel mit dem Lynkeus seine Vorstellungen von dem, was Literatur seiner Ansicht nach war und sein sollte, in Zusammenarbeit mit anderen exemplarisch verwirklicht. Die programmatische Zielsetzung war, an Vergessenes zu erinnern, Fernes anzunähern, Fremdes bekanntzumachen und junge Autoren kritisch zu sichten, wie es 1979 im ersten Heft der zweiten Serie heißt. Diesem Konzept gemäß wurden Texte von heute vergessenen Autoren wie z.B. Lissauer, Bauernfeld, Bezruc abgedruckt, neben Texten von Klassikern wie z.B. Goethe, Heine, Villon, alte chinesische Lyrik neben Gedichten amerikanisch-jüdischer Dichter, Lebenszeugnisse von Malern und Musikern, vor allem aber auch Texte junger oder unbekannter Autoren von David Acht bis Walter Zrenner…
Für die jungen Autoren nach 1945 war die erste Serie des Lynkeus von 1948 bis 1951 eine der ersten Publikationsmöglichkeiten, z.B. für Bachmann, Haushofer, Kräftner, Hahnl, Fritsch, Ebner, Busta, Mayröcker…
Hakel war immer bereit, den Lynkeus als Forum für alle literarischen Richtungen der Zeit zur Verfügung zu stellen, solang sie sich nicht allzu experimentell gebärdeten. Die frühen Texte Jandls abzudrucken weigerte sich Hakel aber, nicht weil sie ihm zu experimentell waren, sondern weil sie ihm zu schlecht weinheberten.

Konservativismus

Die Maßstäbe, die Hakel an die Texte junger Autoren anlegte, waren andere als die, die für sein eigenes Schreiben Geltung hatten. Hakel verstand sich als Erbe einer großen Tradition. Der Jude Hakel, der zur Bar Mizwa, wie damals alle Knaben aus deutschsprachigen jüdischen Familien, Ausgaben der Deutschen Klassiker und eine Übersetzung von Dantes Die Göttliche Komödie geschenkt bekam, hatte seine literarischen Wurzeln tief in der deutschen und europäischen Klassik. Eine die Tradition negierende ,aktuelle‘ Literatur gebe es für ihn nicht, stellte Hakel in dem Gespräch mit der Zeitschrift das pult dezidiert fest:

Wenn eine Kunst nur aktuell ist, ist sie keine Kunst mehr. Denn Kunst lebt, solange eine große Kultur existiert, von der Tradition. Nichts beginnt wirklich neu. Kinder lernen gehen, so wie sie seit Jahrtausenden gehen gelernt haben. So ist auch in der Sprache (…) viel Ererbtes. Dieses Ererbte und Gelernte wird in eine Welt hineingestellt, die mit dem Erlernten nicht mehr identisch ist, gegen die sich der einzelne durchsetzen muß. Aber wir stehen doch noch in einer Welt, die sehr viel mit der Bibel und Homer zu tun hat, denn die Kriege haben nicht aufgehört, die Gemeinheiten der Menschen haben nicht aufgehört. So aktuell, wie manche Leute glauben, ist die Welt doch wirklich nicht. Und der Mensch schon gar nicht.

Und in dem Gespräch mit Manfred Chobot führte er dazu weiter aus:

Eine neue Form zu finden, dazu müßte erst ein neuer Mensch da sein. Und wir alle, jeder, auch wenn er noch so modern ist, leben noch allerweil vom 19. Jahrhundert. Wir nehmen zwar das Moderne nach außen hin an, aber zum inneren Erlebnis ist und z.B. die Rakete noch nicht geworden. So avantgardistisch kann einer gar nicht sein, als daß er da jetzt eine neue Sprache erfindet, nicht einmal der Jandl, wenn er „ooo“ sagt. Das geht nicht, da bin ich stur konservativ. Aber – und das ist der Widerspruch bei meiner Arbeit – ich schreibe über ganz moderne Themen, ob es jetzt verrückte Träume oder Katastrophen sind, ob es der Hitler ist, und bringe sie immerhin noch in eine gebundene Form, die mir überliefert ist. Weil ich mich nicht traue, so nach Gutdünken die Zeilen zu zerbrechen oder… Nein! Das bring ich nicht übers Herz.

Hakels ,sturer‘ Konservativismus beschränkte sich auf die sprachliche und die formale Gestaltung eines Texts. Vom Inhaltlichen her sind die meisten der Gedichte und Prosaskizzen Zeit-Gedichte, kritische Glossen über moderne Themen. Hakels Konservativismus, der nicht nur ein literarisch sprachlicher und formaler war, sondern auch ein religiöser, politischer, allgemein menschlicher, findet seine Erklärung in Hakels Judentum.
In dem Buch Der Ewige Jude schreibt Salcia Landmann:

Die Juden sind – vielleicht mit Ausnahme der Chinesen – das einzige Volk, das sich durch die Jahrtausende mit ungebrochener Vitalität und Schöpferkraft erhalten hat.

Die Voraussetzung für das Überleben der Juden seit der Diaspora war ein dem Judentum seit jeher immanenter, wesenhafter Konservativismus, das durch nichts zu beeinträchtigende Bestreben, die religiöse, soziale, geschichtliche Kontinuität zu bewahren. Daß es immer wieder revolutionäre Tendenzen im Judentum gegeben hat – vom Ersetzen der bildhaften Vielgötterei durch einen einzigen unsichtbaren Gott über die Sozialgesetzgebung der Bibel bis hin zu Marx und Marcuse, steht dazu nur in scheinbarem Widerspruch. Denn auch die Sozialrevolutionäre Marx, Marcuse basieren mit ihren Lehren auf uralten jüdischen Denkschemata: der eine auf dem jüdisch-beduinischen Kommunismus der Bibel, der andere auf den Lehren frühneuzeitlicher Pseudo-Messiasse, deren ,Sexualmessianismus‘ nichts anderes ist als eine der möglichen Interpretationen des Talmud. Hakel war sich dessen bewußt, wenn er, wie so oft überspitzt formulierend, Marx und Marcuse als jüdische Sektierer bezeichnete, als uneheliche Kinder von Talmud und deutscher Universität.
Man kann den literarischen Konservativismus Hakels, der einem Leser von heute die Lektüre seiner Bücher, vor allem der Gedichtbände, schwer macht, nicht als Epigonentum abtun. Der Konservativismus ist  d a s  Wesensmerkmal des jüdischen Autors Hakel. Das starre Festhalten an der Tradition, an den großen literarischen Vorbildern, an überlieferten und übernommenen Formmustern und Redeweisen ermöglichten es Hakel überhaupt erst, die lebensbedrohend chaotische Zeit, in der er lebte, zu überleben.

Emigration

Viele von Hakels Gedichten und Prosaskizzen sind Emigranten-Literatur: Texte eines Vertriebenen Heimat- und Rechtlosen, Gedemütigten, Verzweifelten… Und zwar nicht nur die, die Hakel als Internierter in Italien schrieb, sondern auch die, die er, als ein zum Schweigen Gezwungener, in der Heimat Wien seit den 50er-Jahren verfaßte. Es ist die Problematik dieser Literatur, daß sie als authentische Zeugenaussage von Betroffenen in ihrer Subjektivität und Zeitbezogenheit schnell veraltet, daß ihre Relevanz für Leser nachkommender Generationen oft nicht mehr erkennbar, spürbar ist. Das gilt für viele Emigranten, deren Werk von Institutionen und/oder Verlagen in verdienstvoller Weise gesichtet, gesammelt, vollständig oder in Auswahl veröffentlicht wurde, von Fritz Brainin bis Ernst Waldinger, das gilt aber auch besonders für das lyrische Werk von Günther Anders oder Hermann Hakel. Dem heutigen Leser stellt sich die Frage, ob die ständige existentielle Bedrohung eines Lebens als Emigrant in einem streng gereimten Sonett, einem Gedicht in Liedform, einer pointiert formulierten oder impressionistischen Tagebuchnotiz überhaupt transportierbar und mitteilbar ist. Zu diesem Problem schrieb Günther Anders in dem Band Tagebücher und Gedichte:

Brote, die behaupten, Torten zu sein, sind des Hohnes nicht wert. Aber Torten, die, wenn sie aus dem Ofen kommen, behaupten, Brote zu sein, und die es sich in gereimten Strophen verbitten, goutiert zu werden, die sind blamabel. Zu diesen gehören leider unsere politischen Gedichte, die Strophen, die wir Exilierten (…) in Nächten der Empörung produziert haben. Hunderte von Bänden könnten wir mit denen wohl anfüllen. Bis auf die von Brecht vermodern sie nun in Koffern. Aber vielleicht ist das gar nicht so tragisch. (…) Wer weiß, ob wir nicht durch deren Veröffentlichung unseren letzten Kredit verspielen würden – nicht etwa deshalb, weil sie so schlecht wären, sondern deshalb, weil sie eben doch nur Gedichte sind, doch nur Torten. Und was sollen schon politische Torten?

(Diese ironisch selbstkritische Einsicht hinderte Anders selbstverständlich nicht daran, die eigenen „politischen Torten“ im selben Buch zu veröffentlichen.)

Traum

Der Traum als Impuls und Inspiration, aus Ausgangs- und Angelpunkt für den literarischen Text war für Hakel von eminenter Bedeutung. Seine Fähigkeit, sich Träume zu merken, muß außerordentlich gewesen sein, und er muß sich im Laufe der Jahre eine effiziente Technik der Notierung der Träume erarbeitet haben. Nach seinen Angaben entstanden hunderte von Gedichten und Prosaskizzen nach Träumen. In dem Gespräch mit der Zeitschrift das pult sagte er:

Der Traum ist mein Lehrer. Der Traum ist für mich das größte Geheimnis, das ich erleben kann. Nirgends sind Geist, Gefühl oder was immer den Menschen ausmacht, ineinander so verpackt wie in der unfreiwilligen Produktion des Traums. Wenn man nur den Traum erwischen könnte in seiner Fähigkeit zu produzieren! Ich träume fast immer farbig, im Traum kann ich klavierspielen, ich komponiere, ich spiele Geige, mit den Tränen, die auf die Geige fallen, höre ich Melodien, tanzen kann ich wie noch nie, in der Luft fliegen, ich kann sogar dichten im Traum, ganze Verse kann ich sagen. Wenn es mir gelingt, solch einen Traumrest zu erwischen, dann habe ich den Ansatz, die Achse, um die ich dann ein Gedicht aufbaue. Ich träume so intensiv, daß ich manchmal einen Tag brauche, um mich wieder zu beruhigen. (…) Wer oder was die Träume produziert, ist mir völlig rätselhaft. Ich bin es nicht. Ich bin nie so gescheit wie mein Traum.

Die geistige Landschaft des Traums als geschauter, im Text fragmentarisch fixierbarer Freiraum der Wunscherfüllung wurde für Hakel, vor allem im Alter, zu einer Art Gegenwelt – Rückzugsgebiet und Vorgelände des Todes:

DORT UND HIER

Dort brauch ich mich nichts zu fragen und mich zu quälen,
dort kann ich lang im Traum spazierengehen –
wenn sie mich hier zu jenen Dichtern zählen,
die ihre Redakteure übersehen…

Ich weiß ja wirklich nicht, was ich bedeute
und wenn – für wen? und wann? In diesem Wien
bleibt die Vergangenheit das böse Heute
und keiner kann sich dem entziehen.

Stumm werden sie zur Rechenschaft gezogen.
Stumm werden sie gerichtet: stumm zu sein.
Ihr Dichten und ihr Trachten ist gelogen.
Sogar ihr Leben bilden sie sich ein.

Was können die mit meinen Worten machen,
mit meinem Jüdisch-Deutsch und Wienerisch?
So laß mich nicht aus meinem Traum erwachen!
Dort bei den Toten leb ich noch recht frisch.

Wien

Hermann Hakel wuchs im zweiten Wiener Gemeindebezirk auf, im Bereich der sogenannten ,Mazzesinsel‘. Sein allererstes Gedicht war eine Schilderung der Novaragasse, wo er mit seinen Eltern wohnte.

1931 / NOVARAGASSE

Oben der Kanal für das Wetter.
Unten der Kanal für den Dreck.
Eine verrufene Leopoldstädter-
Gasse mit Beiseln und Huren am Eck.

Aussichtslose Fenster und Schächte.
Auswegsloses Labyrinth,
das erst im glosenden Moder der Nächte
aufwacht und grausig zu leben beginnt.

Hakel verstand sich als ein in Wien geborener Jude, der deutsch schrieb. Sein Werk betrachtete er als Teil der großen Jüdischen Weltliteratur in den verschiedenen Sprachen. Er fühlte sich nicht als Österreicher, höchstens als Wiener. Die Stadt Wien aber liebte er, Wien war ihm, sagte er, eigen geworden. Er liebte die großen Parks, die Theater, die Museen, die Cafés, die Vororte, die ,kleinen Leute‘, die Handwerker, die Geschäftsleute; die Strizzis und Schlurfs, alle diese Ungebildeten, aber Tüchtigen, deren Gespräche auf der Straße, am Wirtshaustisch ihm unverstellter, fanatsievoller, sprachlich kreativer vorkamen als die der vielen Gebildeten, aber Untüchtigen, mit denen er als Autor allzu oft zu tun gehabt hatte.
Besonders liebte er den Prater, den Wurstelprater seiner Kindheit. 1982 bei einem Ausflug in den Prater erlitt er eine Herzschwäche: das, was er dort sah, das war nicht mehr  s e i n  Prater. In der Prosaskizze „Wurstelprater 1982“ schrieb er:

Ich aber bin so verstört, daß ich flüchte und lange nicht einschlafen kann, weil diese Welt mir nicht nur fremd, sondern widerlich und angsterregend ist, weil diese Welt an Stelle jener steht, die meine Kindheit und meine Jugend war, die nur noch in meiner Erinnerung existiert.
(…) Sinnlose Dynamik – statt Schaulust und Unterhaltung! Und die sowieso schon Haltlosen liefern sich willenlos den technischen Kunststücken aus, wo der kleinste Fehler zu einer Katastrophe führen muß.
Und das alles geht durch mich: die Kaiserzeit, die Arbeitslosenzeit, die Hitlerzeit, die Nachkriegszeit und jetzt diese, in welcher der voll mechanisierte Schwindel die Leute zu Autofahrern macht, die jede Verbindung mit dem Gewesenen ebenso verloren haben wie den Boden unter den Füßen.

Was Hakel seine Liebe zum ,spiritus loci‘ Wiens, den er in seinen Texten und in den Viennensa-Anthologien immer wieder beschwor, auch vergällte, das waren die Erlebnisse und Erfahrungen, die er als Jude in Wien vor, unter und nach Hitler gemacht hatte. (Noch 1985 mußte eine Lesung Hakels über „Jiddische Literatur im Lynkeus“ in der Alten Schmiede in Wien wegen Bombenalarms abgebrochen werden.)
Sein Verhältnis zu Wien faßte Hakel unsentimental in einem Gespräch mit Franz R. Reiter (in: Die Presse, 15./16.1.1983) so zusammen:

Meine Heimat ist einfach die Welt, in der ich mich auskenne wie zu Hause, und das ist Wien. Hier bin ich zu Hause gewesen und bin es manchmal noch. Darf mich nur nicht erinnern, wie ich aus dem Zuhause hinausgeschmissen wurde. Das wacht immer wieder auf. Das verjährt nicht. Es sind zuviele Ermordete. Bei anderen Toten weiß man, der ist dorthin gegangen und ist krank geworden (…). Diese Leben hören einfach auf. In mir aber leben sie, und ich kann ihr Leben nie zu Ende führen. Und wenn ich an ihr Ende denke, kommt mir das Gruseln, und das Gruseln ist in Wien zu Hause. Wien ist nicht nur meine Heimat, sondern auch meine Hölle.

Judentum

GLAUBENSBEKENNTNIS

Ich glaube meinen Vätern
den Gott, dem sie geglaubt
und bete mit den Betern
und beug vor IHM das Haupt.

Mehr ist mir nicht gegeben,
doch auch nicht weniger:
ein jüdisches Wanderleben
zu Fuß durchs Rote Meer.

Hakel kam aus einer assimilierten jüdischen Wiener Familie, in der die religiöse Tradition, bis auf die Feier der großen Feste, fast erloschen war. Er war nie ein orthodoxer Jude, aber ein gott- und bibelgläubiger. Die alte Luther-Bibel, die er mit 10 Jahren in der Diwanlade seiner Großmutter gefunden hatte, begleitete ihn bis zu seinem Tod überallhin.

BIBEL

Immer vor dem alten Buch
diese Furcht es aufzuschlagen.
Seinen Segen, seinen Fluch
muß ich als mein Erbteil tragen.

Dunkel wie gestocktes Blut
ist worüber ich mich beuge.
Es ist all mein Hab und Gut.
Bin sein Kind und bin sein Zeuge.

Für Hakel war Judentum etwas Globales, etwas, das keineswegs nur auf Israel beschränkt war. Er stand dem heutigen Judentum kritisch gegenüber. Der durch die Assimilation bedingte, ihm unaufhaltsam erscheinende Zerfall der jüdischen Tradition machte ihm Sorgen. Wären die Juden doch im Ghetto geblieben! Ein nichtreligiöser Jude war für Hakel ein Widerspruch in sich selbst, hatte doch der Glaube vor allem anderen die Juden in den Jahrtausenden der Verfolgung vor der Vernichtung gerettet. Hakels besorgte Kritik am heutigen Judentum war auch Selbstkritik, die aber nicht verwechselt werden darf mit Selbsterniedrigung oder Selbsthaß. Selbstkritik ist ein Charakteristikum des gesamten jüdischen Schrifttums in allen Sprachen der Welt, von der Bibel bis Saul Bellow.
Erwachsen aus dem Judentum ist auch Hakels auffallende soziale Gewissenhaftigkeit als Mensch und als Autor. Sie äußerte sich in den Gesprächen und in den Texten als Sorge nicht nur um die Juden, sondern um die allgemeine zivilisatorische und kulturelle Situation der Menschheit, um die kleinen Leute, die sozial Minderbemittelten, wie auch um die Intellektuellen, die gebildeten Untüchtigen, die er so oft in Verzweiflung als Selbstmörder enden gesehen hatte.
Dieser sozialen Gewissenhaftigkeit wegen war es Hakel der oft – vor allem als alter Mann – das trügerische Gefühl hatte, nur über sich selber schreiben zu können, letzten Endes unmöglich, sich selber zum Gegenstand des Schreibens zu machen. In dem Gespräch für die Zeitschrift das pult sagte er:

Das ist deshalb so auffallend, weil es genau das Gegenteil von dem ist, was heute gang und gäbe ist. Ich kann einfach nicht die Menschen, die ich erlebt habe, vergessen. Sie gehören zu meinem Wesen mindestens so dazu wie die schönste Musik, die ich gehört habe, und die schönsten Gedichte, die ich gelesen habe.
Sie  s i n d  mein Leben. Wenn ich mich beobachte, dann erinnere ich mich an Tote, an Bewunderte, an Größere. Den Hakel, den gibt es nicht ohne Eltern, Geschwister, ohne Wien, ohne die Zeit, in der ich lebe und gelebt habe. Und den gibt es vor allem nicht ohne die Menschen, die ich gekannt habe. Genau das ist es, was ich den Leuten von heute zum Vorwurf mache: diese Ich-Besessenheit, dieses dauernde Sich-Selber-Suchen, Sich-Selbst-Entdecken, Sich-Selbst- In-Frage-Stellen. Natürlich bin ich in Frage gestellt, aber nicht als ich, sondern als Mensch überhaupt. Ich bin keine Ausnahme in der tragischen Situation, in der wir uns als Menschen befinden.

Hakels soziale Gewissenhaftigkeit war tief in der Sozialgesetzgebung der Bibel verwurzelt. Er betrachtete die Sozialordnung im Ghetto, im „Stetl“, in den jüdischen Gemeinden, die die sozial Schwachen gegenüber den wirtschaftlich Starken exemplarisch schützte, als rares Beispiel eines funktionierenden, da religiös fundierten Kommunismus.

 

5

DAS WORT

Wir haben mit Goethe gesprochen.
Wir haben mit Kant diskutiert.

Das Wort hat mit uns nicht gebrochen.
Es ist mit uns emigriert.
Es ist mit uns geflüchtet.
Es war und ist unser Heim.
Deutsch haben wir jüdisch gedichtet.
Ich bin der letzte Reim.

Hermann Hakel war ein vom Judentum und dessen Schicksal im 20. Jahrhundert beispielhaft Geprägter. Sein Leben kann gleichsam als Kommentar zu Jean Amérys „Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“ – nicht nur in Österreich, überall auf der Welt – betrachtet werden. Für Hakel, den jüdischen Literaten aus Wien, gab es, wie er einmal selber feststellte, letzten Endes nur eine einzige Heimat: das Wort.
S e i n  Wort ist heute mehr denn je in Gefahr, vergessen zu werden: die vor Jahrzehnten veröffentlichten Bücher sind vergriffen, und die Manuskripte, die er hinterlassen hat, die Ernte eines mehr als dreißig Jahre erzwungenen und durchgehaltenen Schweigens, sind erst zum Teil gesichtet, geordnet, bearbeitet und veröffentlicht. Bald nach Hakels Tod, am 24. Dezember 1987, gründeten Freunde Hakels die Hermann Hakel-Gesellschaft, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, den Nachlaß Hakels aufzuarbeiten und zu veröffentlichen, die früher erschienenen Bücher wieder aufzulegen, aber auch Bücher herauszubringen, die das herausgeberische Werk Hakels fortsetzen, wie etwa die 1991 erschienenen drei Bändchen der Serie Wiener Literaritäten.
Als erste Veröffentlichung der Hermann Hakel-Gesellschaft kam zum ersten Jahrestag von Hakels Tod ein Band mit Erinnerungen seiner Freunde, Bekannten und Mitarbeiter heraus, unter dem Titel Ein besonderer Mensch – Erinnerungen an Hermann Hakel, mit einem Selbstzeugnis Hakel, einer bibliografischen und biografischen Zeittafel und Fotografien.
Die zweite Veröffentlichung Dürre Äste Welkes Gras mit dem Untertitel: „Begegnungen mit Literaten / Bemerkungen zur Literatur“, ebenfalls aus dem Jahr 1991, sammelt die im Nachlaß verstreuten Aufzeichnungen Hakels zur Literatur und seine Begegnungen mit Autoren. Die Sammlung ist nicht vollständig, da viele von Hakels Tagebuchaufzeichnungen über seine Beziehungen zu Autoren seiner Zeit nur bruchstückhaft vorhanden sind oder damals in der Tagebuchmasse noch nicht gefunden werden konnten.
Bei den Texten dieses Bandes handelt es sich zumeist um länger ausgeführte Tagebuchnotizen, Glossen, Porträts, Betrachtungen, die in der als Manuskript vorliegenden Gestalt nicht zur Publikation bestimmt waren. Es sind Selbstgespräche eines Moralisten, eines kritischen Beobachters der Literaturszene – und eines Literaten, der aus der Gewißheit, nicht so gewürdigt worden zu sein, wie er es, seiner Meinung nach, verdient hätte, kein Hehl macht. Sprachlich und formal Unvollkommenes, Unfertiges, aber auch um der Pointe willen überspitzt Formuliertes erregte bei vielen Lesern und Rezensenten Anstoß. Trotzdem war das, inzwischen schon lang vergriffene Buch ein großer Erfolg, bei den Lesern wie auch bei der Kritik.
Die dritte, weniger erfolgreich rezipierte Veröffentlichung war der 1993 erschienene Band Der unheilbare Wahn / Denkprozesse, eine Sammlung verstreuter Notate des Denkers und Klärers Hakel, herausgegeben von Gerhard Amanshauser.
Ein Band mit einer Auswahl der Gedichte Hakels ist – seit Jahren – angekündigt.
Der mühevollen Kleinarbeit der Herausgeber, die Texte für die Veröffentlichung einzurichten, ist es zu danken, daß Hakels Wort, das Wort eines Juden, also eines Menschen, der, wie Jean Améry sagte, mit guten Gründen jederzeit eine neue Katastrophe erwartet, zumindest wieder gehört werden könnte, vor allem hier im Österreich des 21. Jahrhunderts – auch wenn dieses Wort für unsere Ohren bitter und unversöhnlich klingt.

 

 

 

Nachricht von einem, der auf Hartlebigkeit baut

Eines Tages werde er seinem fatalen Hang nachgeben, das, was er eine Zeitlang manisch, mit allen seinen Kräften angestrebt, vielleicht sogar erreicht habe, von einem Augenblick zum anderen hinzuschmeißen. Dann werde er abhauen, schreibt er. Ausreißen. Das zu lang Gewohnte, zu gut Gekannte einfach hinter sich lassen. Verschwinden, untertauchen, um eine Zeitlang noch woanders aufzutauchen, schließlich gar nicht mehr aufzutauchen.
Schreiben ist die Möglichkeitsform des Lebens. Die heftige Apokalypse, zu der Hans Raimund in literarischen Selbstzeugnissen neigt, paßt nicht zu dem Bild, das Freunde und Kollegen von ihm zeichnen. Die ihn zu kennen glauben, halten ihn für nüchtern, skeptisch, urteilssicher, unaufdringlich, verläßlich, treu. Raimund macht keine großen Worte. Im Zweifelsfall ist er lieber ruppig als verbindlich, auch schwer zu begeistern, jedoch nimmt er einem zweiten die Begeisterung nicht übel.

Er ist jedenfalls kein Schriftsteller, der andere kritisieren würde, sie stünden nicht mit beiden Beinen auf der Erde. Immerhin denkt man noch immer mit dem Kopf und nicht mit den Füßen.

Das Zitat ist von Konstantin Kaiser, wie Raimund als Lyriker und Prosaautor eine Doppelbegabung, und wie dieser in Österreich skandalös unterschätzt. Von Kaiser stammt auch die vorsichtige Zuordnung von Raimunds Werk zu dem, was der Wiener Schriftsteller Andreas Okopenko einmal als ,totalen Realismus‘ bezeichnet hat:

Es ist ein Realismus der maximalen Notation, der genauesten Aufzeichnung der Schwingungen der inneren und äußeren Welt. Dem Bedürfnis differenziertester Aufzeichnung entsprechend stützt sich Raimund formal auf den von der klassischen Moderne entwickelten Kanon, modifiziert und erweitert ihn, macht in diesem Rahmen seine Erfindungen.

Hans Raimund lebte dreizehn Jahre lang in Duino bei Triest, außerhalb Österreichs also, aus familiären und beruflichen Gründen, nicht in einer Art selbstgewählten Exils, auch wenn er seine geographische Randstellung, seine Absenz vom kulturellen Leben Österreichs abwechselnd gefeiert und beklagt hat. Diese Randstellung, gesellschaftlich wie literarisch, hatte er schon vor seiner Übersiedlung aus Wien inne; und er war und ist trotzdem immer wieder entmutigt, weil soziale Beziehungen, die er mit viel Mühe und Zuwendung aufgebaut hat, scheinbar im Nichts enden. Freilich waren es oft die falschen Partner, um die er sich bemüht hat – literarische Gruppen und Freundeskreise, denen es selten geglückt ist, Fäden zu knüpfen, Verbindungen herzustellen, einander zu bereichern und im gemeinsamen Ziel weiterzuhelfen: die niederösterreichischen Literaturzeitschriften das pult und podium (zwei beinahe pathetische Beispiele wirkungsarmer Periodika); der PEN-Club, in Österreich durch Jahrzehnte ein Hort mittelmäßiger Autoren und beamteter Wichtigtuer; mehrere Kleinverlage, die von Literatur viel, vom Geschäft umso weniger verstanden. Von 1981 bis 1988 stand Raimund mit dem legendären, in seinen Urteilen ebenso maßlos einseitigen wie erfrischend respektlosen Publizisten Hermann Hakel in enger Beziehung; eine Beziehung, die sich, wie Raimund in seinen Tagebuchaufzeichnungen schreibt, im wesentlichen im Zuhören und Stichwortgeben erschöpft hat. Hakel, übrigens, war das Verbinden und Vernetzen über Generationen und Sprachgrenzen hinaus durchaus ein Anliegen gewesen; seine Zeitschrift Lynkeus wies auf vergessene oder verschwiegene Größen der österreichischen Exilliteratur hin. Im Lynkeus erschien auch zum ersten Mal „Totstellen“, Raimunds Bericht über sich und seinen Vater, unter all den Vatertexten unserer Jahrzehnte der ehrlichste und aufwühlendste, berührend in seiner verhaltenen Verzweiflung.
Bei Hans Raimund hat, nach eigenem Bekunden, der Jude Hakel die Rolle eines geistigen Vaters eingenommen. Der leibliche Vater, Polizist, Soldat, dann Markthelfer, war das, was man einen überzeugten und unbelehrbaren Nazi nennt. Also würde der Verdacht naheliegen, daß sich Raimund, wie so viele seiner Generationsgefährten, den Tätervater durch den Opferstiefvater (Hakel hatte die Ära des Faschismus in einem italienischen Konzentrationslager überlebt) vom Hals schaffen wollte. In einer Streitschrift wider die unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen und Asylanten im Vereinten Europa hat der Doyen der deutschen Exilliteraturforschung, Hans-Albert Walter, ein wenig enttäuscht auf die Instrumentalisierung des antifaschistischen Exils im deutschen (und österreichischen) Generationenkonflikt hingewiesen: im Gefolge der Revolte von 1968 hatten sich viele Nazikinder für das Schicksal der Vertriebenen interessiert. Sie hatten dieses Interesse wieder verloren, als sie ihre Schlacht gegen die Eltern, bei denen ihnen die Verjagten und Vertriebenen willkommene Munition gewesen seien, gewonnen hatten. Von einem solchen Verdacht – den er selbst auch geäußert hat – ist Raimund freizusprechen. Natürlich hat er Hakel um seiner selbst willen verehrt (skeptisch verehrt, was heißt: skeptisch der eigenen Verehrung gegenüber) und bewundert; bewundert vor allem wegen einer Fähigkeit, die er als Schriftsteller schmerzhaft vermißt: die des Erzählens. Ich bewundere Menschen, die erzählen können, heißt es in seinem poetologischen Aufsatz „Ausrisse Abrisse“:

Die Ursachen meiner Schwierigkeiten mit dem Erzählen sehe ich in einer Verkrampfung, die durch einen sozialen Minderwertigkeitskomplex hervorgerufen wird: ich bin nicht imstande, meine Geschichte oder die Geschichten anderer, die ich als meine Geschichte erzählen will, so wichtig zu nehmen, daß sie mir als mitteilenswert erscheinen…

Diese ,Verkrampfung‘, die ich lieber Scheu nennen möchte, ist auch den Schriften zu Literatur und Kunst anzumerken, die Raimund in den letzten zwei Jahrzehnten geschrieben und in diesem Band versammelt hat. Der Autor spricht darin von Kollegen, die – ungeachtet ihres zeitweiligen Ruhms – an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gerückt sind. Er steht für sie ein, aber leise, befangen, voll Mißtrauen der eigenen Hingabe gegenüber. Es geht fast ausschließlich um Juden und Homosexuelle, wie er selbstironisch und im nachhinein ein wenig überrascht feststellt, aber das ist kein Zufall: in der Suche nach Gemeinschaft, die ihn insgeheim antreibt, findet Raimund wiederum nur die vereinzelten Dichter, die sich wie Gide oder Auden von einer kollektiven gesellschaftlichen Bewegung ernüchtert abwandten oder ihr aus Unwillen oder Hellsichtigkeit von vornherein entsagten; so verbindet sie nur die irrationale Klassifizierung von außen, vorgenommen gemäß ihrer sexuellen Vorliebe oder religiösen Herkunft. Sie sind deshalb Opfer einer mörderischen Auffassung, die der spanische Autor Antonio Munoz Molina jüngst zum Thema eines Romans über die politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts gemacht hat:

Du bist, was die anderen in dir sehen.

Die Aufsätze und Hinweise in diesem Buch wollen sich damit nicht abfinden.
Hans Raimund ist als Lyriker bekannt geworden. Neben sieben Gedichtbänden hat er zwei Prosabände veröffentlicht: Rituale, das Buch, mit dem er 1981 debütiert hatte, und Trugschlüsse, auf deutsch 1990 erschienen. In letzterem bemüht sich der Autor, nach eigener Darstellung, um ein Psychogramm der Nachkriegsgeneration, also meiner Generation, die um 1945 geboren wurde und die ihre Kindheit im Wien der Nachkriegszeit verbracht hat, inmitten der Nachwirkungen des Nationalsozialismus, belastet oder konfrontiert mit Eltern, die Nationalsozialisten gewesen sind. In den Geschichten versuche ich exemplarisch darzustellen, wie die Kinder als Erwachsene auf diese Prägung durch den Ort Wien und durch die Eltern reagieren, welche Defizite sie später haben und zu welchen Zwängen sie neigen. Eins dieser Defizite ist der schon erwähnte Zweifel an der Fähigkeit zu erzählen. Erzählen setzt Vertrauen in die Mitteilbarkeit von Erfahrung und damit in die Möglichkeit einer Verständigung über gemeinsame Lebensfragen voraus. Hans Raimund ist dieses Vertrauen abhanden gekommen, seiner Überzeugung nach durch das Elternhaus, besonders durch die negative und destruktive Lebenseinstellung seines Vaters. Daß er früh gegen ihn rebellierte, vermochte ihn nicht zu befreien – schon war ich, schreibt er in „Totgestellt. Mein Vater und ich“, durch seine, mir seit meinem fünften Lebensjahr vorgelebte Haltung zum Dasein geprägt, sein Neinsagen, seine Verschlossenheit, seine Verhärtung, sein Sich-tot-Stellen.
Wenn ich Hans Raimund recht verstehe, so ist dem Schreiben von Prosa eine Eigenschaft dienlich, die ihm abgeht: Naivität. Er selbst würde sich während des Schreibens zuschauen. Er sei unfähig, sich dabei zu vergessen. Er gönne sich zu selten den anderen Atem, den Prosa im Unterschied zum Gedicht verlangt. Und er sei ein gebrochener Mensch – gebrochen von seinem doppelten Schuldbewußtsein: einerseits vom Schuldbewußtsein, das ihm sein Vater in allen Lebenslagen eingeimpft hatte (und das von Raimund zu einer kunstvollen Montage von Sinnsprüchen und Daseinsregeln unter dem Titel „Was ich lernte“ zusammengefaßt wurde); andererseits vom Bewußtsein der Schuld seines Vaters – als wäre dessen fehlende Scham für die Greueltaten der Nazis als Fluch auf ihn übergegangen. Zu dieser Gebrochenheit, so der Autor, gehört der Hang zur Selbstbestrafung, die Unmöglichkeit, sich mit einer sozialen Bewegung zu identifizieren, die Chancenlosigkeit unserer Generation, die Verbrechen der Naziväter je gutzumachen. Beides führe zu einer Lähmung und Erstarrung, literarisch wie existentiell. Es ist, sagt Raimund, eigentlich kümmerlich, daß ein Fünfzigjähriger vom Elternhaus und von der dort empfangenen Erziehung so stark geprägt bleibt. Aber so ist es halt, und davon befreit auch nicht das eigene Wissen. Und er verweist auf die Begegnung mit einem jüdischen Bekannten der Familie: als er dem Mann vom Tod des Vaters erzählt hatte, sagte der: „Den Faschismus, Herr Raimund, haben Sie in der Wäsch’. Den kriegen Sie nicht mehr heraus.“
Mir widerstrebt es, diese Sätze niederzuschreiben. Nicht nur, weil mich die Endgültigkeit solcher Äußerungen bedrückt. Auch nicht, weil ich mich dem Autor freundschaftlich verbunden fühle und sein Leid vermindert sehen möchte, oder weil ich ihn für einen wichtigen Schriftsteller halte und weiß, daß ihn das Unvermögen, den Faschismus ,aus der Wäsche zu kriegen‘, quält und entmutigt. Die selbstbiografischen Abhandlungen in diesem Band bieten dazu reiches Anschauungsmaterial – aber man will sich ja nicht damit abfinden, daß die Illustration einer gezwungenen Existenz wichtiger sei als das Glück, ein gutes Leben zu finden. Von diesem guten Leben künden Raimunds „Strophen einer Ehe“, seine Briefe, in denen sich uneitle Fürsorge äußert, seine Telefonanrufe hin und wieder, die dem Gesprächspartner Gewähr bieten, nicht allein zu sein in den Fallen des Alltags. Der Mensch Raimund besitzt die Güte, anderen jenen Trost zu spenden, den sich der Prosaautor Raimund versagt. Vor zwölf Jahren, bei Erscheinen des Gedichtbandes Der lange geduldige Blick, hat Konstantin Kaiser dem Lyriker Hans Raimund den Begriff der scharfsichtigen Melancholie zugeordnet.

Sie gilt der vertanen Lebensmöglichkeit, konstatiert die Zerstörung umso schärfer, als sie darauf verzichtet, irgend etwas im Nachhinein besser zu wissen.

Diese scharfsichtige Melancholie, in der Raimunds Größe und Grenze liegt, läßt den Umschlag in Erwartung, auf den Kaiser gehofft hatte, nicht zu. Durch Raimunds Werk zieht sich die Spur einer schmerzhaft klaren Verzweiflung, wonach jeder für sich dahingehe, es zu spät sei, Platz zu machen für Neues Heuriges, man verlernt habe, zerfetzte Drachen reulos gelassen zu flicken. Die genaue Wahrnehmung seiner Umwelt, in „Duino. Ahnungen von Natur“, ist die Suche nach einem Ort, an dem eine Balance der eigenen Regungen entsteht (Kaiser) – und mündet in einem zwischen Selbstironie und Hoffnungslosigkeit austarierten Eigenporträt:

und ich (mit allen Apokalypsen gewaschen, eschatologisch gewieft, den Kopf voll Metaphern, die mir am Herzen, im Magen liegen, auf nichts mehr bauend als auf die Hartlebigkeit der Gräser, oder besser: der Steine, täglich redlich wahrnehmend, schauend, riechend, hörend, spürend).

Ich wollte, es möge diesem anderen Ich, meinem Bruder letztlich, gelingen, auf mehr noch zu bauen.

Erich Hackl, Vorwort

 

Inhaltsverzeichnis

– Vorwort von Erich Hackl: Nachricht von einem, der auf Hartlebigkeit baut
– Wien: Spiegelungen
– Nummer 174 517 / Primo Levis Berichte über Auschwitz
– Ersatzwelten / Notizen zur Fantastik
– Auden und die Musik
– André Gide – Wer?
– Konstantin Kavafis / Historie und Erotik im Gedicht…
– „Blanc et immobile“ / Erik Satie und die Rosenkreuzer
– Auden und das Libretto
– Travelling: Unterwegs / Leseerfahrungen mit Michael Hamburgers Lyrik
– Auden als Übersetzer
– „Ich bin der letzte Reim“ / Über Hermann Hakel
– „Ich bin ein zu harter Knochen für euch“ Über den sizilianischen Lyriker Lucio Piccolo
– Sandro Penna / Ein Hinweis
– Umberto Saba / Noch ein Hinweis
– Slatapers Karst
– Die Selbstbeschränkung / Über Natalia Ginzburg
– Nicht gehaltene Dankesrede anlässlich der Überreichung des Wystan-Hugh-Auden-Übersetzerpreises
– Die Sprache der Poesie / Über den Triestiner Dichter Virgilio Giotti
– Das Raue in mir / Ein ausländischer Schriftsteller in Triest
– „Hütet euch, einer den andern“ / Über den Lyriker Richard Exner
– Wulf Kirsten / Einleitende Worte
– Rainer Maria Rilke in Duino / Eine Notiz
– Ausrisse Abrisse / Selbstreflexion
– Träume von Räumen
– Ein Kulturbrief
– „Mit allem bin ich eines“ / Über Hedwig Katscher
– Landnahme / Autobiografische Betrachtungen anhand eines obsoleten Wortes
– Triest: Ein Nachtrag
– Nachweise der Erstveröffentlichungen

 

Heimatlos zwischen Wien und Triest

– Hans Raimund schreibt über Das Raue in mir. –

Dass der 1945 geborene Hans Raimund einer der bedeutendsten österreichischen Lyriker ist, wissen nur wenige; die wenigen aber wissen es. Seine Gedichte, mittlerweile in sieben Bänden veröffentlicht, sind in viele Sprachen übersetzt worden und freilich allesamt in kleinen Verlagen erschienen. Weil er zuweilen ruppig gegen Konventionen des Literaturbetriebs verstösst, hat man ihm das Etikett des ungeselligen Aussenseiters verpasst, um den man sich besser nicht schert. Es fällt daher immer noch ungebührlich leicht, Hans Raimund nicht zu kennen.
Nun hat er seine in den letzten zwanzig Jahren geschriebenen Aufsätze und Essays gesammelt, und es nimmt nicht wunder, dass sich darin viele Porträts von Dichtern finden, die totgeschwiegen, an den Rand gedrängt, um ihre Wirksamkeit gebracht wurden. Raimund hat lange in Italien gelebt, und der italienischen Literatur gilt auch seine besondere Vorliebe. In seinen Porträts deutet sich der Umriss einer anderen italienischen Moderne an, deren Repräsentanten nicht die von aller Welt gerühmten Ungaretti und Montale, sondern die ausserhalb Italiens kaum bekannten Lucio Piccolo und Sandro Penna sind; zwei Aussenseiter, der eine ein sizilianischer Baron, der eine zum Raffinement entwickelte Poesie verfasste, der andere ein Homosexueller, der die Liebe zu Männern feierte, als derlei noch nicht den Beifall der Szene, sondern den Ausschluss aus der Gesellschaft eintrug.
Namentlich die Triestiner Literatur hat in Raimund einen genauen Kenner und kundigen Kommentator; aber es sind auch hier nicht die grossen Namen, mit denen er seine Leser konfrontiert, nicht Italo Svevo also, den er nebenhin mit einer Verächtlichkeit abtut, die kaum zu begreifen ist, und nicht Claudia Magris, der nur als Schemen auftaucht. Sein Plädoyer gilt vielmehr randständigen Gestalten wie Scipio Slataper oder Virgilio Giotti. Letzterer „verdiente seinen Lebensunterhalt als Handlungsreisender für Spielzeug, als Zeitungs- und Buchhändler, später als Spitalsbediensteter“ und schrieb in einem artifiziellen Dialekt von Triest, „seinen Menschen, seinem Volksleben, den Vororten, dem Hafen, den Gassen, den kleinen Bars und Läden“. Der mit 27 Jahren gestorbene Scipio Slataper wiederum, der Dichter des Karst, vereint schon in seinem Namen jenes doppelte nationale Erbe, mit dem Triest, „die faschistischste Stadt Italiens“, bis heute so schlecht zu Rande kommt. Die Mutter Slatapers war Italienerin, der Vater Slowene, und aus solchen Konstellationen ist in Triest nicht selten ein italienischer Chauvinismus erwachsen, der das slawische als das vermeintlich rückständige Element rücksichtslos zu verleugnen, zu unterdrücken, auszustossen sucht.
Raimund lebte zwischen 1983 und 1997 in Duino bei Triest, und da es seinem Naturell entspricht, im Zweifelsfalle eher barsch seine eigene Wahrheit als charmant die allgemein akzeptierte Unwahrheit zu sagen, hat er über diese hinter Legenden und Mythen verborgene Stadt ein paar höchst unangenehme Dinge mitgeteilt. Etwa dass ausgerechnet hier, an der Kreuzung vieler Völker, ein „alles Fremde instinktiv abstossender, herablassend indifferenter spiritus loci“ herrsche, der es verhindert, dass sich Zuwanderer irgendwann aufgenommen, ja auch nur wahrgenommen fühlen dürfen. Am Ende, schreibt Raimund in seinem „Nachtrag“, spricht für Triest fast nur, dass diese Stadt „nicht Wien ist“.
Wien, das ist sein anderer geographisch-kultureller Bezugspunkt. „Die Landschaft meiner Träume ist stets Wien, trüb und vertraut“, notierte er schon 1982. Auch wenn er seit seiner Heimkehr aus Italien im burgenländischen Lockenhaus wohnt, ist Österreich für Raimund vornehmlich Wien geblieben, die Stadt, in der so viele Menschen lebten, die für ihn wichtig waren. Da ist vor allem der Vater, mit dem er sich 1995 in dem Prosaband Trugschlüsse in einem kurzen, beklemmend dichten Text auseinandergesetzt hat. Erich Hackl, der jetzt für den Essayband ein warmherziges. Vorwort beigesteuert hat, hält diese „Totstellen“ betitelte Rechenschaft für den „ehrlichsten und aufwühlendsten der vielen Vatertexte“ in der österreichischen Literatur.
Der Vater war Polizist und bis ins hohe Alter ein unbelehrbarer Nazi, der sich nach dem Krieg trotzig der Welt verweigerte und sich gewissermassen „totstellte“. Der Sohn, der des Vaters Ansprüchen nie genügen wird, empfindet bald Scham für ihn und an seiner Statt; doch vererbt der Vater auf den Sohn „sein Neinsagen, seine Verschlossenheit, seine Verhärtung, sein Sich-tot-Stellen“ angesichts von Verhältnissen, die, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen, als feindselig empfunden werden. So leidet der Sohn an der nazistischen Verstrickung des gerade daran keineswegs leidenden Vaters, doch findet er über dessen österreichische Lebenslüge nicht hinaus zu einem historischen Gegenentwurf.
Anstelle des antisemitischen Vaters erkürt sich der angehende Autor einen jüdischen Übervater, den Literaten Hermann Hakel. Der überwältigende Rhetor Hakel, lebenslang verwundet von den antisemitischen Exzessen, deren Zeuge er in Wien wurde, geschwächt durch die Internierung im KZ, war im Nachkriegs-Wien der Widerpart des auf die Förderung junger Talente abonnierten Hans Weigel. Wer sich auf Hakel einliess, der erfuhr zwar eine intellektuell-moralische Prägung fürs Leben, er ging aber auch in eine Schule, in der nicht der Erfolg, sondern das Scheitern gelehrt wurde. So sind denn alle drei österreichischen Autoren, die sich auf Hakel als ihren Lehrmeister berufen, so sehr unter ihrem Wert geschlagen worden wie dieser selbst: Gerhard Amanshauser, der bedeutende Essayist, Walter Buchebner, der 1964 aus dem Leben geschiedene Dichter, und eben – Hans Raimund. In dessen vierzig Seiten langem Porträt von Hermann Hakel, den er „nicht als singenden“, sondern als „raunzenden Rebbe“ charakterisiert, ist ein faszinierender Anreger und Autor kennen zu lernen.
Ob er über Konstantin Kavafis, Wulf Kirsten, Michael Hamburger oder W.H. Auden schreibt, Raimund, der Lyriker, hält sich als Essayist mit Bildern, Vergleichen, Metaphern zurück. Er schreibt einen schmucklos präzisen wie gehärteten Stil, der nicht Brillanz vorgaukelt, sondern komprimierte, höchst subjektiv gedeutete Information bietet. Nicht selten verstört die Unversöhnlichkeit des Autors, der sich selbst dort, wo er Sympathie empfindet, mitleidloser Randbemerkungen nicht entschlägt. Wie er sich anlässlich des Todes von Fulvio Tornizza, dem Erzähler der convivenza, des Miteinanders der mitteleuropäischen Völker, an die letzte Begegnung mit diesem erinnert – mit einem so kalten Blick auf kleine menschliche Schwächen –, das muss man als – Leser erst einmal verkraften; es muss sich aber vorher ein Autor auch erst selber zugemutet haben, so verstörend genau zu sehen und es dann auch noch schriftlich festzuhalten.
Hans Raimund ist ein Autor, dessen Grösse und Grenze eine „schmerzhaft klare Verzweiflung“ (Hackl) ist, eine Verzweiflung, die ihn jedes Anzeichen trügerischer Hoffnung bei sich selbst erkennen, ihn aber auch allergisch auf die Illusionen anderer reagieren lässt. Ein Autor also, der es weder sich noch uns leicht macht.

Karl-Markus Gauss, Neue Zürcher Zeitung, 13.3.2002

Allerleirauh

– Hans Raimund zwischen Karst und Meer. –

Als die Gerüchte sich verdichteten, daß die Einrichtung von Schloß Duino bei Triest versteigert werden solle, verließ die Gemahlin eines bekannten Pariser Antiquars ihren Laden an der Rue Bonaparte, machte sich nach Duino auf, besichtigte das Schloß eingehend und veröffentlichte danach in einer großen deutschen Tageszeitung einen ehrsam gerührten Bericht über jene Interieurs; ja sie identifizierte sogar den inzwischen etwas wackeligen Stuhl, auf dem Rainer Maria Rilke seine Duineser Elegien geschrieben habe. Damit nicht genug, riskierte sie auch die Feststellung, daß die unvergessene Kaiserin Sissy den Dichter dort besucht habe, und zwar auf ihrer letzten Reise, als sie sich über Triest nach Sarajevo begab, um dort für Österreich-Ungarn zu sterben.
Da die Kaiserin zwar tatsächlich einem Attentat zum Opfer gefallen war, aber nicht in Sarajevo, sondern schon 1898 in Genf, da Rilke vom Oktober 1911 bis zum Mai 1912 auf Schloß Duino geweilt hatte, aber nicht 1914, erhielt der Feuilletonchef jenes angesehenen Blattes einige entsetzte Leserbriefe. Gedruckt wurde keiner, denn es sei, wie man mir schrieb, angesichts der heutigen Weltsituation doch völlig gleichgültig, welche Erzherzogin wann und wo zu Tode gekommen sei. So schrieb es mir sinngemäß jener frankophile Feuilletonchef, ein schöner Mann von Rang und Namen und flog nach Sankt Helene, wo das berühmteste Opfer der Habsburger eines elenden Todes gestorben war.
Duino also, ein Schloß aus dem vierzehnten Jahrhundert und malerisch über der Adria gelegen, bildet Legenden, bänigt Absurdes, ist ein Haut Lieu des Abendlandes beinahe wie der Mont Saint Michel. „Leben und nicht verlieren, wer’s doch könnte“ klagte Rilke im November 1911 auf Duino gegenüber Rudolf Kassner, und weil so wohlklingende Namen, vor allem von Schlössern, Sponsorengelder lockermachen, entstand im Schatten des Schlosses das Collegia del Mondo Unito dell’Adriatico, ein „britisch dominiertes, englisch-sprachiges Ghetto einer internationalen Schulgemeinschaft“ (Raimund). Dank einer in dem hier zu besprechenden Sammelband nicht genauer definierten Lehrverpflichtung von Frau Raimund lebte das Ehepaar hier dreizehn Jahre, und diese Jahre waren es wohl, die wegen der zwanghaften Nachbarschaft der Vielsprachenstadt Triest die Übersetzergabe in dem Dichter Hans Raimund weckte, gedeihen und bald auch dominieren ließ. Denn mit einer einzigen Sprache hier zu leben, das war schon James Joyce nicht geglückt, und der hatte sich schließlich, als Erzähler, vorsorglich seine eigene Welt mitgebracht.
Nach sieben Lyrikbänden verzweigte sich fortan das Werk von Hans Raimund; statt sich in einer Gemeinschaft zu integrieren, die er selbst nur als Ghetto bezeichnet, öffnete er sich in den adriatischen Raum, und es spricht für ihn, daß er – wohl aus seiner eigenen Randexistenz heraus – sich schon früher für weniger bekannte oder gar verkannte Autoren der Stadt Triest und ihrer Umgebung interessierte und beinahe mit Bedacht jene Dichter und Kritiker umkurvte, die als Lokalmatadore die Literaturszene zwischen Karst und Adria beherrschten. Damit entglitt das Werk des nunmehr über Fünfzigjährigen vollends allen Erwartungen. Sammlung und Ordnung erschienen angezeigt, ja überfällig, und da Raimund inzwischen in verschiedenen Sprachen publizierte und seine verstreuten Studien, Hinweise, Kritiken und methodischen Darlegungen in der Vielfalt zu verlieren fürchtete, begrüßte er dankbar die von der Literaturedition Niederösterreich gebotene Möglichkeit einer An Rettungs-Grabung, einer Sicherung des Verstreuten auf 350 Seiten.
Die wie vielen Autoren auch mir wohlbekannte, für ihr Verständnis zu rühmende Herausgeberin des Bandes hat die Raimundsche Kardinalthemen getreulich gepflegt, die Ausführungen über W.H. Auden, über Hermann Hakel, Natalia Ginzburg, Umberto Saba und all die anderen. Sie hat ihm auch seinen Willen gelassen, als er über Richard Exner schrieb, ohne dessen säkuläre Untat zu erwähnen – daß er nämlich Claire Goll auf vermeintliche Plagiate Paul Celans aufmerksam machte, harmlose Anklänge, da Celan nun einmal Goll übersetzt hatte. Man weiß, wie es endete, man weiß, daß wir ohne die Boutade des damals noch sehr jungen Exner einen reifen Paul Celan hätten erleben dürfen mit Dichtungen, die man nur erahnen kann, weil er eben Ende April 1970 aus dem Leben schied.
Aber man hätte es auch mit etwa den gleichen Mitteln ganz anders machen können. Wäre ich nicht in München Klein-, sondern in Sankt Pölten Großverleger (quel frisson), ich hätte Raimund, der als Übersetzer ja an Aufträge gewöhnt ist, mit drei Themen betraut: Das erste wäre aus den Kapiteln Wiener Spiegelungen und Landnahme zu einem 200 Seiten-Werk auszugestalten gewesen und hätte die kostbaren dreißig Seiten über Hermann Hakel ebenso eingeschlossen wie die zwanzig ungeschriebenen über Hans Weigel, damit wir verstehen, welch sicherer Instinkt den sehr jungen Hans Raimund unter Verzicht auf Würden, Förderungen und Lancement die Nähe des unansehnlichen Hakel suchen ließ (den er in einzigartiger Formulierung einen raunzenden Rebbe nennt) und nicht die Pseudohofhaltung eines Hans Weigel.
Das zweite Buch wäre eine rare Plaquette geworden über die schwarze Romantik im ausklingenden Jahrhundert: Satie und die Esoterik oder: worin unterscheiden sich die Geheimnisse des kleinen alten Honfleur von den Schauermärchen von Kirchstetten mit Auden als Orpheus und Weinheber als Buddha.
Und das dritte Buch wäre natürlich einem Triest zu widmen gewesen, dem Triest nach Claudio Magris, aber auf dem Rückweg nach Österreich-Ungarn, einem neuen, europäischen Triest, um das sich eine junge Generation von Wiener Germanisten – allen voran Renate Lunzer – inzwischen bemüht, dem Triest, in dem Umberto Saba trotz schlechten Mundgeruchs in die Rolle des unsterblichen Wiener Antiquars Lanyi hineinwachsen konnte und in dem Yirgilio Giotti beinahe so etwas wie ein Triestiner Peter Altenberg geworden ist.
Die verdienstliche Sammlung über das Raue in Hans Raimund mag ihn beruhigt haben, geholfen hat sie ihm nicht. Ich muß zum Schluß, da wir von einem Buch reden, ein wenig ins Fachliche des Handels mit Büchern eintauchen. Er ist schwierig, denn die Sortimenter, wie man den Ladenbuchhandel in der Hoffnung nennt, daß er tatsächlich sortiert sei, die Sortimenter also haben den begreiflichen Wunsch, das zu verkaufen, was sie im Laden haben. Sie schreiben nicht gern, das kostet einmal Porto, sie lassen sich nicht gerne Bücher auf Bestellung schicken, das kostet noch einmal Porto, und wenn der Kunde nicht kundig oder hartnäckig oder beides ist, sagen sie ihm: Das Buch von Raimund haben wir nicht, nehmen Sie doch einen Dietmar Grieser. Das sichere Gegenmittel ist die ISBN-Nummer, mit der man zu jedem Buch den Autor und den Verlag ermitteln kann, wo immer es erschien, und das Stichwortverzeichnis des VlB (des Verzeichnisses lieferbarer Bücher). Mit den Stichworten W.H. Auden, Triest, ja selbst mit Hermann Hakel fände jeder, der will, Hans Raimund und würde ihn nicht nur kennenlernen, er wird ihm auch danken. Es gibt Länder, in denen es Randerscheinungen nicht leicht haben, weil sich die Literatur in einem Punkt konzentriert; Marlen Haushofer, Anna Mitgutsch, der große Übersetzer Wilhelm Muster sind zu Rowohlt, zu Claassen, zu Klett abgewandert, aber es muß bei Übersetzern und Essayisten nicht so sein. Onetti und Muster sind für den deutschen Leser untrennbar verbunden: ohne Hans Schiebelhuth, den unbekannten Lyriker, wäre Thomas Wolfes Schau heimwärts, Engel nicht zum Kultbuch geworden. Und war es nicht der große Stefan George, dem wir die überzeugendsten Mallarmé-Übertragungen verdanken?
Das Raue oder auch das Rauhe in Hans Raimund ist ein Krampf, den er empfindet, den er bedauert, den er dem Umstand zuschreibt, daß er kein Erzähler ist. Erzählen, vor allem, wenn man von sich selbst sprechen darf, ist Allerleirauh, wie die Brüder Grimm es nannten, ist unbefangene Buntheit und ein neues, überraschendes Kleid. Raimund hat noch Zeit, es anzuziehen.

Hermann Schreiber, Literatur und Kritik, Februar 2002

Rau(h)e Worte

– Hans Raimunds Aufsätze zu Literatur und Autobiografisches. –

„Noch heute stecken mir in den Knochen die Erschütterungen der letzten Kriegsmonate, (…)“ – die bizarre Wortstellung lässt aufhorchen, nachempfinden die Gefühle in den Knochen des Autors Hans Raimund. Das Raue in mir lautet der Titel seines Sammelwerks von Aufsätzen zur Literatur und von autobiografischen Schriften, verfasst in den letzten 20 Jahren.
Nicht allein die Prosa der Texte ist rau, auch die Orthografie, das Changieren zwischen neuen und alten Regeln, die Setzung der Anführungs- und Betonungszeichen, vor allem aber die Sujets, denen sich der Georg-Trakl-Preisträger widmet: Nicht den in aller Munde Seienden, sondern den zu Unrecht Verkannten, den bereits Vergessenen gilt seine Zuneigung: Nur wenige wollen an Wystan Hugh Auden erinnert werden, kaum jemand vermag mit den Namen Hermann Hakels oder Hedwig Katschers Rechtes anzufangen – sie und viele andere, vor allem die von ihm geschätzten italienischen Lyriker, versucht Raimund vom jenseitigen Ufer der Lethe zurückzurufen in eine digital und visuell überfrachtete Welt, worin die Schriftstellerei ein so obsoletes Handwerk ist „wie etwa das des Korbflechtens, eine zeitferne, längst versunkene Insel, irgendwo mitten im unübersehbar weiten Medien-Ozean, ein Mythos aus früheren Jahrhunderten – was aber nur die Schriftsteller selbst noch nicht wissen.“
Eingestreut dazwischen berührende topografische Skizzen: Von Duino, wo ratlose japanische Germanisten vor den verschlossenen Gedenkstellen Rilkes verharren, von Triest, eher jenem des Umberto Saba als jenem des Claudia Magris, von Wien, Raimunds Heimatstadt, die er doch nur partiell zu kennen meint, vom Burgenland, jener rauen österreichischen Provinz, in der er heute lebt.
Eingestreut ebenso berührende autobiografische Notizen, die ahnen lassen, warum Raimund, wie Erich Hackl sagt, obstinat auf Hartlebigkeit baut. So schildert er aus seiner Schulzeit den ihn prägenden „Deutschlehrer, eine vom Anzug umschlotterte, hochgewachsene Gestalt mit schönen Händen, deren Finger von Nikotin gelb waren – als Lehrer eine Katastrophe: mit schwingendem Schritt und immer zu spät betrat er die Klasse, eine Tageszeitung unterm Arm, und redete die ganze Stunde über die aktuellen Schlagzeilen, und trotzdem: als einer der damals wenigen überzeugt und überzeugend antifaschistischen Lehrer beeindruckte er zwar weniger die konservativen, auf wienerische Art gepflegt antisemitischen Mitschüler, wohl aber mich, den Sohn eines Unbelehrbaren, ewig Gestrigen, und er öffnete mir mit seinen endlosen, klugen Kommentaren zur Geschichte und Weltpolitik die Augen.“ Der indirekte Weg der Selbstreflexion ist Raimund der liebste. Sich selbst vorsätzlich in den Mittelpunkt des Schreibens zu stellen bereitet ihm „ein fast unüberwindliches Unbehagen“. Aber das Indirekte genügt, die Rauheit seiner Seele wahrzunehmen.
Rauheit und Schönheit der Sprache: der Lyriker Raimund ist auch als Prosaschriftsteller einer, der das Wort mit dem Ohr des Musikers wahrnimmt. Nicht umsonst ist das Land seiner Kindheit jener Wiener „Häuserblock, der durch zwei Gassen, die Heumühlgasse und die Kettenbrückengasse, und zwei Strassen, die Schönbrunnerstrasse und die Margaretenstrasse begrenzt wurde“ – ebendort wuchs Hans Raimund auf, geschah seine „kindliche Landnahme“, wo Franz Schubert starb.

Rudolf Taschner, Der Standard, 27.4.2002

Hans Raimunds Essayband Das Raue in mir

Das Buch ist nicht nur schön gebunden und gedruckt (und leider auf neue Rechtschreibung umgestellt – das „Raue“ anstelle des „Rauhen“ im Titel befremdet), es ist vor allem auch in einer Sprache geschrieben, der man sich getrost überlassen kann. Der leicht schmierende Kugelschreiber, der einem als ewigen Lektor und Korrektor schon mit den Fingern verwachsen dünkt, bleibt unangetastet, der Sack voller Beistriche, der wie der winterliche Sandstreukasten des Wiener Straßenbahners unter dem Schreibtisch bereit steht, unaufgeschnürt. Die Sätze, die Hans Raimund bildet, sind sich selbst durchsichtig, die Wörter, die er gebraucht, hat er in ihren Nuancen erfaßt. Immer findet er die Balance zwischen der gelassenen Darlegung des Faktischen und dem vorwärtstreibenden Schwung, den seine Essays gleichwohl nicht vermissen lassen.
Die Essays zeichnen sich durch große Instruktivität aus, welche bei den Autorinnen und Autoren, die er uns vorstellt, oder bei den spezifischen Aspekten eines Werks, auf die er eingeht, auch erforderlich scheint. Denn Raimunds Ort ist so wenig der philosophierende Gemeinplatz als die Schleppe der Prominenz, an die sich andere hängen. Er schreibt über Lucio Piccolo, Sandro Penna, Umberto Saba, Scipio Slataper, Natalia Ginzburg, Virgilio Giotti, über Wulf Kirsten, Hedwig Katscher und Hermann Hakel, dem er persönlich und als Mitarbeiter der Zeitschrift Lynkeus sehr verbunden war. Lese- und Lebenserfahrung durchdringen sich: Somit ist es nur konsequent, daß dem Band auch einige autobiographische Skizzen beigefügt sind.
„Nachricht von einem, der auf Hartlebigkeit baut“, gibt Erich Hackl in seinem genauen, liebevollen Vorwort. „Durch Raimunds Werk“, meint Hackl, „zieht sich die Spur einer schmerzhaft klaren Verzweiflung, wonach jeder für sich dahingehe, es zu spät sei, Platz zu machen für Neues, Heutiges…“. Vielleicht liegt in dem, was ein Hans Raimund, der eben keinen Roman, immer ,nur‘ Lyrik, Kurzprosa, Essays geschrieben hat, versäumt hat, worüber er sich ausschweigt, eine Wahrheit, die er uns nur auf diese Weise mitteilen, deren Kontur er nur durch ihre Aussparung zeichnen kann.
In seinem Essay über Natalia Ginzburg ordnet Raimund dieser „Charakteristika der Schreibweise“ zu, die auch für ihn gelten könnten:

… die unbedingte Ehrlichkeit im Umgang mit der nur auf der eigenen Anschauung basierenden Wirklichkeitserfahrung und deren Wiedergabe durch das Wort und die soziale Gewissenhaftigkeit in Form der dezidierten Hinwendung zum Mitmenschen und der Hintanstellung der eigenen Person…

An anderer Stelle, in einer Reflexion über das Übersetzen, notiert er über sich:

Sowohl als Dichter wie als Übersetzer bereite ich ein schon vorhandenes Material – Wirklichkeit, Gedanken, Sprache… – auf möglichst kreative Weise zu.

Und in einem schönen, Igor Strawinsky entlehnten Bild bezeichnet er sich als den, der den Glockenstrang zieht – „… was klingt, das ist die Glocke, was klingt, das bin nicht ich…“
In den Charakteristika realistischen Schreibens, die er der nach katholischem Ritus bestatteten Ginzburg und mit gewissem Vorbehalt auch sich zuordnet, findet er „eminent Jüdisches“: Hierin liegt das große Hemmnis für Raimund, der sich machtvoll zu dem Jüdischen hingezogen fühlt, sich zugleich aber als ein Nachgeborener der erbarmungslosen Verfolger der Juden beschämt zurücknimmt. Die „unbedingte Ehrlichkeit“ (eine Wendung übrigens, derer sich auch Theodor Kramer bedient hat) läßt Raimund immerzu fragen, worauf er wirklich bauen kann. Mit großem Gewinn können wir dem Essayisten Raimund dabei über die Schulter schauen.

Konstantin Kaiser, Zwischenwelt, Nr. 3, Dezember 2002

Hans Raimund: DAS RAUE IN MIR

Aufsätze zur Literatur und Autobiografisches sind in dem Band Das Raue in mir von Hans Raimund versammelt. Von diesen 28 Einzelstücken von unterschiedlichem Umfang sind drei Viertel in Wochenendbeilagen von Tageszeitungen, Literaturzeitschriften oder Berichtbroschüren über Symposionsergebnisse abgedruckt worden.
Trotz der Vielfalt der thematischen Auffächerung und dem Punktuellen und Anlaßbezogenenen des Entstehens lassen sich Schwerpunkte ausmachen. W.H. Auden (seine Beziehung zur Musik, seine Positionierung als Librettist, seine Verdienste als Übersetzer), aus dem jahrelangen Aufenthalt in Triest Motiviertes und die daraus resultierende Bemühung um das Verständnis für italienische Autoren (Primo Levi, Lucio Piccolo, Sandro Penna, Umberto Saba, Natalia Ginzburg, Virgilio Giotti sowie Triest als Stadt, die eigene Rolle als ausländischer Schriftsteller in Triest und Rainer Maria Rilke in Duino), die Schaffens-Charakteristika von homosexuellen Dichtern (André Gide, Konstantin Kavafis und eben W.H. Auden), Lese- und Lebenserfahrungen mit zu Unrecht nicht in höhere Stufen des Bekanntheitsgrades Katapultierten (Michael Hamburger, Hermann Hakel, Richard Exner, Hedwig Katscher) und letztlich Autobiografisches, das Raue in sich selbst, das Wien-Trauma, das Leiden an mit dem masochistischen Vergrößerungsglas betrachteten herkunftsmäßigen Defiziten, an den Ausgrenzungen des sozialen Underdogs in den Zirkeln sogenannter Eliten (Theresianum!), an der Wahl des Lebensentwurfes des freien Schriftstellers, der auf das sichere Einkommen seiner im bürgerlichen Sinn eine Karriere absolviert habenden Ehegattin angewiesen ist.
Dieses Erkennen, Erleben und Erleiden der eigenen Schwierigkeit verstärkt im Zusammenwirken mit hoher Sprachbegabung und Musikalität die spezifischen positiven Komponenten in Hans Raimunds Lyrik und Prosa – die scharfsinnige Melancholie, die Balance zwischen Selbstironie und Hoffnungslosigkeit.
Von einem, der sich selbst nicht verschont, kann man nicht Nachsicht gegenüber den Gebrochenheiten, Inkonsequenzen, Verlogenheiten und Anmaßungen der anderen einfordern. Und dort liegt das Faszinosum dieser auf Hartlebigkeit bauenden Notate.
In der rigorosen und eindeutigen Zuweisung und Zuordnung von Sympathie und Antipathie, in den Korrekturversuchen des common sense, in der Attacke auf Verdrängungs-Mechanismen, in der Attitude des zornigen und nicht mehr gar so jungen Mannes, im fatalen Hang, eines Tages das, was er eine Zeitlang manisch, mit allen seinen Kräften angestrebt, vielleicht sogar erreicht hat, von einem Augenblick zum anderen hinzuschmeißen, abzuhauen, auszureißen, das zu lang Gewohnte, das zu gut Gekannte hinter sich zu lassen, zu verschwinden, unterzutauchen, um eine Zeitlang noch woanders aufzutauchen, schließlich gar nicht mehr aufzutauchen.
Das Vorwort von Erich Hackl zeugt von einer Freundschaft, in der Durchblick, Genauigkeit der Erkenntnis, hohe Wertschätzung und Güte zueinander zu einem staunenswert redlichen compositum mixtum verschmelzen.

Alfred Warnes, Literarisches Österreich, 1/2002

Raimund, Hans: Das Raue in mir

Raimund versteht es ausgezeichnet, das Interesse des Lesers auch auf weniger berühmte Schriftstellerkollegen zu lenken wie z.B. die Triestiner Dichter Saba und Slataper, den deutschen Lyriker Michael Hamburger oder die weitgehend nicht wahrgenommene bzw. vergessene österreichische Dichterin Hedwig Katscher. Das gelingt ihm wohl deshalb so gut, weil er selbst Lyriker und Übersetzer (vor allem aus dem Italienischen) ist. An Hand eines Gedichtes von Kavafis wird die Problematik des Übersetzens demonstriert. Wie gelingt es, dem Ton des Originals nahe zu kommen und dem Auftrag der Vermittlung gerecht zu werden? In diesem Zusammenhang kommt Raimund auch immer wieder auf Auden zu sprechen. In dem Kapitel „Auden und die Musik“ wird auf die Gefahr, Analogien wie Identitäten zu behandeln, hingewiesen. So kommentierte Auden die Forderung, Dichtung sollte weitgehend Musik sein, so:

Ich vermute, dass die Leute, aus deren Mund solches kommt, gänzlich unmusikalisch sind.

Hat da nicht Ingeborg Bachmann in ihrem Essay „Musik und Dichtung“ einen ganz anderen Standpunkt vertreten! Wie dem auch sei, die Diskussion solcher Themen ist spannend und verschafft immer wieder ein „Aha“-Erlebnis.
Offensichtlich nicht so gern, wenn auch nicht weniger gut, schreibt Hans Raimund über sich selbst. Die Schwierigkeit, mit selbstbewusster Stimme zu erzählen, bezeichnet er als einen sozialen Minderwertigkeitskomplex:

Ich bin nicht im Stande, meine Geschichte oder die Geschichten anderer, die ich als meine Geschichte erzählen will, so wichtig zu nehmen, dass sie mir als mitteilenswert erscheinen…

Dennoch hat der Autor sieben Gedichtbände und zwei Prosabände veröffentlicht. In dem „Rauen in mir“ berichtet Raimund über seine Kindheit in Wien, über die dreizehn Jahre, die er in Duino verbracht hat, und das ebenfalls etwas raue Triest, Amüsantes über Schriftstellerkongresse, über seine Begeisterung für Literatur und das Misstrauen gegenüber dieser Leidenschaft.

Der Literaturedition Niederösterreich gebührt höchstes Lob, einen so „skandalös unterschätzten Autor“ (Erich Hackl im Vorwort), der sich äußerst geistreich und dabei vollkommen uneitel zu Wort meldet (eine nicht gerade häufige Erscheinung), einem breiteren Publikum bekannt zu machen.

Ingrid Kainzner, bn.bibliotheksnachrichten, 3, 2002

„Die Prosa zu lyrisch, die Lyrik zu prosaisch“

– Lieber ruppig als verbindlich: Hans Raimund. –

Was ist „das Raue“ in Hans Raimund? Erich Hackl charakterisiert den 1945 geborenen Lyriker und Übersetzer Hans Raimund im Vorwort zu dessen Essayband als „im Zweifelsfall lieber ruppig als verbindlich“. Raimund selbst beschreibt die eigene Rauheit anhand seiner Isolation in der „paradoxen Stadt“ Triest, wo er 13 Jahre als „Langzeit-Sommerfrischler“ also Dauer-Fremder! – gelebt hat. Die eigene Affinität zur Rauheit des Karstes, aber auch der Gedichte Umberto Sabas oder Virgilio Giottis haben ihm ermöglicht, der „desinteressierten Arroganz der Menschen dieser Stadt“, zu trotzen und teilweise sogar heimisch zu werden.
Dabei geht es Raimund nicht um eine Abrechnung. Seine Situation empfindet er als exemplarisch für den heutigen (österreichischen) Lyriker, dem seine Arbeit kaum eine Existenzgrundlage verschafft. Dieses Unbehagen könne auch durch das „Literaturbetriebsspiel“ bestenfalls kurzzeitig unterdrückt werden:

Der Schriftsteller ist heute der Fremde schlechthin (war er es vielleicht immer?). Sein Handwerk, die Schriftstellerei, ist, im Zeitalter der visuellen Medien, so obsolet, wie etwa das des Korbflechters.

„Das Raue in mir“ enthält 28 zum Teil neue „Aufsätze“ – die Gattungsbenennung ist bezeichnendes Understatement – aus den vergangenen 20 Jahren. Zum größten Teil sind es subtile Porträts von Autorinnen und Autoren, die in der literarischen Öffentlichkeit eine Randstellung einnehmen, wie etwa Richard Exner, Wulf Kirsten oder Lucio Piccolo. Hierzu zählen auch einige Autoren, die aufgrund ihrer sexuellen Präferenz gleich doppelt ausgegrenzt waren, etwa Konstantin Kavafis oder Sandro Penna, da in ihrem Fall zur sozialen Ächtung noch der Umstand hinzukam, daß explizit homoerotische Lyrik im 20. Jahrhundert auf wenig öffentliche Aufmerksamkeit hoffen konnte.
Engagiert widmet sich Raimund auch Autorinnen und Autoren, die wegen ihrer religiösen Herkunft und/oder politischen Einstellung von den Faschisten verfolgt waren, wie etwa Natalia Ginzburg, Hedwig Katscher oder Hermann Hakel, den Raimund durch Veröffentlichungen im Lynkeus, dessen Herausgeber Hakel war, kennengelernt hatte und der für ihn zu einer Art geistigen Vater wurde.
Die unsystematische Anlage des Buches mag zuenst befremden. Essays zu Literatur, Übersetzungsproblematik, Librettistik und Musik sind mit autobiographischen Zeugnissen verbunden, erst bei genauer Lektüre enthüllt sich ein myzelartiges Geflecht an literarischen und außerliterarischen Korrelaten. Der Band enthält – „Autobiographisches“, auch wenn Raimund meint, daß ihm „Selbstreflexionen, gar Selbstinterpretationen seit jeher zuwider“ gewesen seien. Er löst die Schwierigkeiten autobiographischen Erzählens, indem er den Umweg über präzise Notationen persönlicher Leseerfahrungen wählt, was auch einen wesentlichen schöpferischen Aspekt enthält, denn Raimunds eigenes Schreiben erwächst „direkt aus dem Lesen“.
Was ein Dichter liest und was nicht – bei Raimund etwa jene Autoren, deren Bücher man gelesen haben muß“ –, zeigt unverfälscht das Verhältnis zu ureigenen Materien. Ein wichtiger und oft vernachlässigter Akt der Kulturvermittlung ist die Tätigkeit des Übersetzers (wie oft steht sein Name nicht einmal auf dem Titelblatt!).

Ich bin ein Dichter, der auch übersetzt, vor allem aber bin ich ein Leser.

Diese Reihung nach Wertigkeit ist sehr aufschlußreich, bestätigt sie doch das Verständnis des Übersetzers als „einzigen authentischen Leser eines Textes“, wie Raimund Gesualdo Bufalino zitiert. Raimunds mit sprachlichem.Purismus gepaarte Freude am Spiel mit Worten läßt sehr präzise Texte entstehen, wenn er auch kritisch anmerkt, daß seine „Prosa zu lyrisch“ und seine „Lyrik zu prosaisch“ seien.
Aber nicht nur um seiner selbst willen ist Raimund lesenswert: Es wird wohl kaum jemanden geben, der in diesem Buch nicht zumindest einen interessanten und nahezu vergessenen europäischen Autor für sich wird „entdecken“ können. Eine solche Vermittlungsfunktion hängt aber wesentlich von vorurteilsfreien, verständigen Viellesern ab, die sich bevorzugt abseits des Literaturkanons des 20. Jahrhunderts bewegen.

Markus Hildenbrand, Spectrum, 20.7.2002

 

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

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