Hans Raimund: Immer noch Gedichte?

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Raimund: Immer noch Gedichte?

Raimund/Trachsel-Immer noch Gedichte?

1 BOGLIASCO 2003

Alle waren sie hier
Melville Dickens Twain
Lear und Henry James Vir
Ginia Woolf Skrjabin
Berrbohm Auberon Waugh
Pound Isaiah Berlin
Und Scholem Aljechem!…

GLAS
Papier
Des Hähers Kreischen schmirgelt
Knorpel rauh   Im Dachstuhl lauten
Siebenschläfer   Aus den Tramen
Klopfen Würmer   Rieseln
Staub und Stille..

 

LUST
Der Möwen
Klage fädelt sich in Muscheln
Peitschensanft   Und übern Kies – Schau! –
Ahnungen von Echsen   Schatten   Wände
Beben   Züge sprengen Felsen hohl
Pfiff und Donner…

(Villa dei Pini)

 

IMMER NOCH GEDICHTE
oder
EINE LANZE FÜR DEN NIEDEREN TON

1995 fragte ich mich in einer in der österreichischen Literaturzeitschrift Literatur und Kritik abgedruckten Selbstdarstellung „Warum schreibe ich immer noch Gedichte (…)?“ Ich ließ damals die Frage unbeantwortet. Wenn ich mir heute, 15 Jahre später und noch immer Lyrik verfassend, wieder diese Frage stelle, antworte ich : ich schreibe immer noch Gedichte, weil, in meinen Augen, das lyrische Gedicht, in seiner Kompaktheit, Prägnanz und Präzision, in seiner bedingungslosen Bestimmung durch Sprache und Form die interessanteste, herausforderndste, reinste, die meinem, von der Musik geprägten ästhetischen Empfinden gemäßeste aller literarischen Gattungen ist. Das Gedicht ist für mich ein Sprach- und Form-Ereignis, ein intensives Ton-Erlebnis. Wovon das Gedicht „handelt“, steht für mich nicht im Vordergrund. Nichts ist mir fremder als eine realistische, Wirklichkeit simulierende Literatur, die durch das von ihr Dargestellte Kritik üben, unterhalten, belehren, Änderungen im Bewußtsein der Leser bewirken will usw., sich also, einem aufklärerischen Impuls folgend, als Träger einer (Heils-)Botschaft gebärdet. Das ist, scheint mir, eine Schöne Literatur, die ihre Herkunft vergessen hat, die nämlich aus dem schieren Spiel mit dem Werkzeug Sprache : ein Spiel, aus dem, wird es gut gespielt, der Ernst des formvollendeten Objekts aus Sprache wird, das in dem, der es verwendet, also im Leser, ein zwar vages, recht flüchtiges, aber beliebig wiederholbares Vergnügen, ja Entzücken oder gar Glück zu erzeugen vermag. Ich bin unfähig, Gedichte zu lesen (oder gar zu schreiben!), die vor allem das geistige Leben des Menschen, die Religion, die Esoterik, kurz alles, was das materiell Physische übersteigt, zum Gegenstand haben. Als einem, der in der Religion – welcher auch immer – einen der fatalen Grundirrtümer der Spezies Mensch zu erkennen glaubt, lehne ich jeden metaphysischen Anspruch jeglicher Kunstgattung, also auch der Lyrik, entschieden ab. Ich kann sowohl einer religiös phrasierten, als auch einer hoch und hehr tönenden „metaphysischen“ Lyrik über Abstrakta wie Gott, das Leben, den Tod, die Liebe, das Gute, das Böse etc. kaum etwas abgewinnen. (Umgekehrt können aber auch – so meine Erfahrung – Menschen mit religiöser, „metaphysischer“ Orientierung mit meinen Gedichten kaum etwas anfangen.) Die von mir bevorzugte Ausstattung der Gedicht-Welt ist das schlichte Physische, das alltäglich Gewöhnliche, in manchen Augen Banale, an dem für mich so viel Verwundbares und genügend Verwunderbares ist. Schlichtheit, Verhaltenheit, Zurücknahme des Individuellen usw. sind Eigenschaften des Texts, die anzustreben, meine ich, die Mühe lohnt. Allerdings : ein, der Lyrik im allgemeinen – auch der modernen Lyrik – fremdes Element, auf das ich beim Schreiben von Gedichten nicht verzichten möchte, wahrscheinlich, meinem Wesen gemäß, gar nicht verzichten kann, ist die Ironie.

P.S.
Nicht machbar, aber eine reizvolle Vorstellung : die Übertragung der von Schlichtheit und Natürlichkeit geprägten, jeder Gesuchtheit aus dem Weg gehenden ästhetischen Qualität einer frühen Symphonie oder eines Streichquartetts von Joseph Haydn auf einen literarischen Text…

 

 

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram +
ÖM + Kalliope
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Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

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