Hans Raimund: Kaputte Mythen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Raimund: Kaputte Mythen

Raimund-Kaputte Mythen

BARTLEBY

steh
wie aus eisernem Guß
mit grüßender Gebärde
im Schein der Straßenleuchte

seh
die trauten Schatten
im Bildschirmschimmer
hinter beschlagenen Scheiben

geh
fersenäugig     Schritt für Schritt
im Paßgang rückwärts
die Kastanienallee hinauf

weh
dem Wind mich überlassend
im Nebel eingeschleiert
mit den Wörtern fort

– Plastiksäcke
prallgeblasene
die in den Ästen sich verfangen
flattern     flattern …

 

 

 

„Der Mythos existiert nur im Wort“ (Valéry)

In seinem vierten Gedichtbuch sammelt der österreichische Lyriker Hans Raimund poetische Scherben von den „Mythen des Alltags“, aus Lebensaltern, Orten des Vorübergehens, des Verbleibens. Es entstehen Bildkreise zum Mythos Landschaft, Beziehung, Geschichte, Kunst, Kindheit, Wort, Gewalt, Angst, Wien… Gibt es noch „Drachen in unbeschriebenen Himmeln fischend“? Erübrigt es sich, „die Schrift der Zehen im Staub zu entziffern“, nehmen wir eher „zu Protokoll was wir aus dem Stegreif träumten“? Hier werden trüglicher Augenschein, betrogener (Geschichts-)Sinn ent-täuscht, Vorlautes, Heroisches, Verdrängtes entlarvt. Doch Desillusion, bittres Resumee („Wien-Lied“), nähren nicht die Resignation, der Zweifel feit und unvermutet heiterts auf im Bild. Wo kaputte gesichtet werden, wachsen vielleicht neue Mythen (der Zuversicht?). In diesen Gedichten, (Kinder-)Liedern, Märchen, Strophen, Zyklen und Kürzeln findet sich ein „Weiterschauen mit den Augen des richtigen Worts“ (Peter Handke) und aus den verworfenen Steinen der Weisen wächst Menschliches. Raimunds feine, von Musik gestimmte, poetische Witter-Gabe („witterst Lug, witterst Trug“) faßt das unwägbar Prekäre der menschlichen Existenz in diesen Fin de siècle-Zeiten in unausgewogene, verdichtete wie spielerische Sprachgebilde, deren Wort-Schärfe und Satz-Fügungen die Bilder auf eine Weise randen, die Lesende weiter ahnen läßt, übers Kaputte, Vertane, Verengte hinaus, ins Offene.
„Ich setz / dem Leben / Zwickel ein“. Hans Raimunds Dichtungen siedeln an Gestaden.

Wieser Verlag, Klappentext, 1992

 

Wut und Verklärung

– Kaputte Mythen voller Zauber: Gedichte von Hans Raimund. –

Duino bei Triest, das ist seit Rilkes Tagen auf den Landkarten der Phantasie und Sehnsucht ein Fixpunkt: der Fels, das Schloß, das Meer und die Erinnerung an den Dichter, der hier einst zu Gast gewesen, bilden eine unauflösliche Einheit. Hans Raimund, der siebenundvierzigjährige Österreicher, lebt und schreibt seit längerem schon an diesem Ort von magischem Klang. Gewiß, aus Zufall mehr denn aus ostentativer Verehrung für den Elegien-Meister. Sehr bewußt aber ist wohl die Ferne zu Wien gewählt und zu dessen Kulturbetrieb, die Abgeschiedenheit – wie sich in einem 1990 erschienenen Prosaband Raimunds nachlesen läßt – von „der Neidhammelei und Haxelbeißerei der Wiener Klein-Literaten, den Positionskämpfen und Intrigen der literarischen Lokalheroen“.
Nur der Rückzug eines stillen Verweigerers aus dem vermeintlichen Zentrum an die Peripherie? Vielleicht. Möglicherweise: aber auch eine Art Schutzmaßnahme dagegen, selbst in den Strudel aus Aggression und Mißgunst hineingezogen zu werden, dem sich auf Dauer so wenige zu entziehen vermögen. An einigen von Raimunds erzählenden Texten glaubt man nämlich  statt genuiner Sanftmut eher mühsam gebändigte Wut zu entdecken. Wie auch immer: In seiner jüngsten Veröffentlichung, der Lyriksammlung Kaputte Mythen, findet sich – gleichsam als Echo auf die oben angeführte Metropolenverdrossenheit – ein eigenes „Wien-Lied“, in dem der Verfasser nicht mehr bloß als öffentlicher Ankläger auftritt, sondern auch als Mitangeklagter: Wenn „das Gehabe neidischer / und stets beleidigter Voyeure“ kritisiert wird, folgt als unmittelbarer Nachsatz:

das auch das meine ist und bleibt.

Solche Souveränität wirkt angenehm, zumal da sie sich nicht auf Selbsterkenntnis beschränkt. Denn es gibt auf diesen knapp über 120 Seiten außerordentlich gelungene, einprägsame Arbeiten, die man immer wieder lesen kann, ohne daß sie dadurch Schaden an ihrer Ausdrucks- und Überzeugungskraft nähmen. Uns besticht die Genauigkeit eines Blicks, der auf den Dingen ruht, bis sie sich wie von selbst ins Wortbild fügen, das ungeachtet „gewöhnlicher“, beinah abgenutzter Begriffe ganz neu und unverbraucht scheint. Der alt österreichischen Tradition der Sprachskepsis ist auch dieser Autor in seinem selbstauferlegten Exil verpflichtet: Redewendungen und Phrasen bürstet er wider den Strich, und Metaphernfelder tastet er sorgsam ab. Und manchmal, wie in „Perpetuum mobile“ mit dem Leitmotiv „verhärtest dich“, offenbart sich schlagartig der Zwang, ja das Deformationspotential aller starren Formen und Formeln.
Des öfteren taucht der Lyriker Raimund in Kinderland hinab, und was er aus diesem versunkenen Kontinent mitbringt, hat kaum mit Idyll und Verklärung zu tun – eher mit Ängsten und Abrichtung, obendrein freilich mit dem kleinen, stets bedrohten Glück sinnlichen Weltbegreifens. Indes bricht wiederholt und plötzlich Gewalt aus, ist das Schöne eben nichts als des Schrecklichen Anfang. Trotzdem kann Hans Raimund wunderbar Stimmung herbeizaubern. Er beschwört sie nicht raunend, er beschreibt so einfach wie präzise, was er wahrgenommen. Zeile für Zeile erleben wir das Unvorhergesehene und doch Vertraute, wird Anschauung Vers – zuweilen so berückend wie in dem Duino-Gedicht „Hier wo“, darin „das Meer dem Horizont sein Wasser reicht“.

Ulrich Weinzierl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.6.1992

Der Virtuose am Sprachklavier

– Zu Hans Raimunds neuem Gedichtband. –

Der Dichter Rainer Maria Rilke lebte im Schloß, als Gast des Fürsten und Bewohner des Elfenbeinturms; vor ihm lag nichts als die Weite des Meeres und die Unendlichkeit des Himmels. Der Dichter Hans Raimund lebt in einer gemieteten Wohnung, nahe an einer Straße, zu ebener Erde, und oft auch darunter, im Keller, von ihm „tavernetta“ genannt.
Der Ort, an dem beide Dichter wohn(t)en, nur wenige hundert Meter voneinander entfernt, heißt Duino. Doch während Rilke sich dort mit Engeln zu unterhalten pflegte, ist Raimund allem Irdischen ausgesetzt – und das rückt ihn uns, bei aller Bewunderung für seinen illustren Vorgänger, in eine sympathische, menschliche Nähe.
Das Duino von Hans Raimund ist kein Ort, der mit Engelszungen beschworen werden könnte. Zwar gibt es dort Alleen auch, und Rosen, doch stehen sie in „abgesunkenen  Gärten“, „verschossen rot“, „gewärtig, daß die Bora sie mit ihrer Schere schneidet.“ Das Meer im Duino Hans Raimunds riecht wie das wirkliche Meer in Duino „nach Fellen, Schwefel und Fäkalien“. Boote überwintern in der Bucht, die der Frost „wetterseitig sprengt“, und alte Fischer flicken alte Netze – wohl aus Zeitvertreib, denn wer fährt noch hinaus auf solch ein Meer?
Die Wellen umspülen hier keinen wie immer gearteten Mythos vom sonnigen Süden. Des Dichters – und seines Nachfahren, des Touristen – unstillbare Sehnsucht nach dem Meer, sie ist dahin.
Dahin, für immer, ist auch die Kindheit – „jäh alles innen und er / innert“. In Raimunds Gedichten ist jedoch auch die erinnerte Kindheit nie das, was ihr ein anderer hartnäckiger Mythos anzudichten pflegt: das Paradies, in dem wir alle einmal wohnten, bevor der grausame Gott des Erwachsen-werden-Müssens uns daraus vertrieb. Das Kinderparadies (zum Entsetzen) eine verkleinerte Erwachsenenwelt, „auf Dreiradpanzern / hocken Buben / richten das Geschützrohr / auf die plüschenen Tiere / die zum Erschießen / an der Hauswand lehnen.“
Zu tief sind die Wunden, die eine Nachkriegskindheit in Hinterhöfen („um Kracherl und Schnitten mußt auch schön bitten“) geschlagen hat, nachzulesen im gleichnamigen Gedicht, das dem slowenischen Lyriker Tomaž Šalamun gewidmet ist.
Was scheinbar harmlos war („alles war gelassen / einst im Gleichgewicht / wenn auch nur zum Schein“) wird jetzt, so viele Jahre später, hinterfragt. Darin beweist Raimunds Lyrik wahre Meisterschaft: Die Kunst des Ver-setzens, mit der er vor unseren erstaunten Augen das Gewohnte in Neuland führt.
Im Gedicht „Was ich lernte“ wird das Kind zum typischen Österreicher erzogen: „Die Dinge nicht beim Namen zu nennen“; „nicht Farbe zu bekennen“; „mir die Zunge ja nicht zu verbrennen“. Da wird das tugendhafte Sich-Bescheiden gelehrt und gleichzeitig das Mißtrauen allem Fremden gegenüber. Und: „Weinen nicht / Jammern Klagen / ohne zu leiden“, Weisheiten einer österreichischen Lebensart, die sich stets mit dem Diminutiv begnügt, die kein Crescendo und schon gar kein Furioso kennt. Nur ein Eingeklemmt- und Verklemmtsein, das einen dann sein Leben lang begleitet. Diese Erziehung erzeugt jenen Menschen, der in „Perpetuum mobile“ treffend beschrieben ist. Seine Regeln für den zwischenmenschlichen Verkehr (und diese Wörter zitieren wir aus der allgemeinen deutschen Sprache, ohne sie deswegen unter Anführungszeichen zu setzen), sind stets auf Rückzug ausgerichtet. Ein Abwehrkampf ist hier das Leben, nie ein Aufeinander-Zugehen.
Zu dieser Wesensart gehört auch die Portion Masochismus, wie sie in dem Gedicht „Eisstoß“ zum Ausdruck kommt, einer Art Selbstporträt vom Dichter als im Winter zugefrorener See, mit der Aufforderung an die anderen: „Lauft auf mir Schlittschuh“, oder: „Zerkratzt mich mit euren Zacken.“ Bei alledem spielt Hans Raimund virtuos auf dem Klavier der Sprache, in (Fast-)Sonetten, (Kinder-)Liedern, Strophen, Zyklen, Kürzeln, ein lyrisches Repertoire, das alle Register zieht.
Nie dichtet Raimund ins Beliebige – und das ist ihm angesichts der poetischen Inflation unserer Tage hoch anzurechnen. Voraussetzung dafür ist freilich nicht nur solides Handwerk allein. Eines der schönsten Gedichte des Bandes – eine Liebeserklärung besonderer Art, eben eine des Dichters an seine Lebensgefährtin, das Wort – ist jenes „Märchen“, jene Parabel vom Wort, in der dieses die große weite Welt der zufälligen Verbindungen erst durchlaufen muß, um draufzukommen, daß es, wenn es alles bedeutet, gleichzeitig nichts mehr bedeutet; auf einem Wettlauf der Bedeutungssucht hat es für immer seine ursprüngliche Bestimmtheit verloren.
Raimund, der im Ausland lebt, in einer notwendigen, selbstgeschaffenen Distanz zum sogenannten österreichischen, sprich: Wiener Kulturbetrieb, kann sich, frei von dessen Zwängen, eine Sicht erlauben, die wohltuend nicht mit dem dazu-gehörenden Ruhm kokettiert. So ist ihm Wien die Stadt der plakativen Dichterposen – die Gestirne von gestern, heute und morgen. Doch wenn er, wie etwa in seinem „Wien-Lied“, jene Gesten aufzählt, die ihn an dieser Stadt so stören, verleugnet sein kritisch-distanzierter Blick niemals die Nähe dieser Ferne. Deshalb ist Wien vor allem die Stadt seiner Doppelgänger, die Stadt, in der er ständig wie in einen Spiegel blickt, und aus welchem ihm zurückblickt:

Das Gehabe neidischer
und stets beleidigter Voyeure
das auch das meine ist und bleibt.

In Wien gibt es seit neuestem eine Schule der Dichtkunst. Ich kann nicht in diese Schule gehen. Soviel ich weiß, ist dort auch nicht Hans Raimund, sondern Wolfgang Bauer zum Lehrer bestellt. Deshalb versuche ich zu Hause zu lernen, etwa an Hand eines Gedichts, das „Aubade con abbellimenti“ heißt und auf Seite 46 der wunderbaren Sammlung steht.

Ilse Pollack, Literatur und Kritik, Heft 263/264, April 1992

Nah am Alltag

– Neue Gedichte von Hans Raimund. –

Der österreichische Dichter Hans Raimund, der jetzt seinen vierten Lyrikband vorlegt, hat von Buch zu Buch immer deutlicher eine unverwechselbare Sprache gewonnen. Raimund bleibt nahe an der Alltagssprache und verwendet mit Vorliebe Redewendungen, das idiomatische Sprechen. Er verändert die abgegriffenen Wendungen ein wenig, ver-rückt sie, und schon entsteht ein Staunen, eine neue Sicht auf die so abgedroschene, malträtierte Sprache. Die hohe Sprachbewusstheit macht ihn hellhörig für den inflationären Gebrauch von Wörtern:

viel geredet
nichts gesagt
mit gespitztem Mund
nach dem Wort gepfiffen
wie nach einem fremden Hund.

Wovon handeln seine neuen Gedichte? Wie ihre Sprache, so sind auch ihre Themen nah am Alltag: politische Gedichte, ein Gedicht über eine Abtreibung, Gedichte über die Angst in der Stunde des Wolfs, am frühen Morgen, Gedichte, die der Erinnerung auf der Spur sind und dem Traum. Der Titel der neuen Sammlung, Kaputte Mythen, ist nicht sehr poetisch, dafür präzis. Hans Raimund schreibt gegen alle Romantik an, gegen alle Naivität, gegen die Geborgenheit, die den Menschen, der im Mythos zu Hause war, vor dem Ausgesetztsein schützte. Unser Jahrhundert hat dem mythischen Erleben, dieser Grundform menschlichen Erschliessens der Wirklichkeit, theoretisch grosse Aufmerksamkeit gewidmet. Der Mythos, die bildliche Sinndeutung der Wirklichkeit, die den Menschen von seinen Uranfängen her begleitet, ist nach Ansicht des Dichters Raimund zerbrochen. Wie stellt er das dar? Zunächst in vielen Gedichten, die von Kindern handeln. Die Assoziation zur heilen Kindheit stellt sich sofort ein. Bei Raimund ist sie nicht mehr heil:

Auf Dreiradpanzern
hocken Buben
richten das Geschützrohr
auf die plüschenen Tiere
die zum Erschiessen
an der Hauswand stehen.

Mythos hat immer mit Geheimnis zu tun. Raimunds Gedichte, vor allem seine Tiergedichte, enthalten solche Geheimnisse:

Aus
zwitscherlichtem
flügelschwerem
traumerpichtem Schlaf
erwacht
die Amsel
stürzt
schlägt auf
auf dem Beton
bleibt liegen
schon
den Schnabel hochgereckt
die Flügel weggestreckt
die Augen offen.

Wird hier ein Vogel erschossen? Wir wissen es nicht; es ist vielleicht auch nicht wichtig zu wissen. Das Bild haftet im Gedächtnis, im Gefühl.
Eines der erstaunlichsten Gedichte ist wohl „Im Schneider“. Hier finden sich kühne Wortbildungen, die doch nur zusammengesetzt sind aus gebräuchlichen Wörtern:

ich fädle
das Licht
ins Augenöhr

ich stichle
die Finsternis
mit Pupillennadeln

ich säume
den Tag
mit Wimpemborten

ich nähe
Falten
in die Nacht

ich setz
dem Leben
Zwickel ein

der Tod
sitzt mir
wie angegossen.

Freilich, nicht jedes Gedicht des neuen Buches ist gleich nachvollziehbar. Bisweilen bleibt ein ungelöster Rest – der Leser fühlt sich vom Verständnis ausgesperrt; doch dieser Eindruck ist wohl subjektiv und bei jedem verschieden.

Sylvia M. Patsch, Neue Zürcher Zeitung, 21.5.1992

Mit gespitztem Mund nach dem Wort gepfiffen

Der österreichische Dichter Hans Raimund hat von Buch zu Buch immer deutlicher eine unverwechselbare Sprache gewonnen. Sie ist gekennzeichnet von plastischer Genauigkeit. Raimund bleibt nahe an der Alltagssprache und verwendet mit Vorliebe Redewendungen, das idiomatische Sprechen. Er verändert abgegriffene Wendungen ein klein wenig, ver-rückt sie und schon entsteht ein Staunen, eine neue Sicht auf die so abgedroschene, malträtierte Sprache. Die hohe Sprachbewusstheit macht ihn hellhörig für den inflationären Gebrauch, den Menschen von Wörtern machen.

viel geredet,
nichts gesagt,
mit gespitztem Wort,
nach dem Wort gepfiffen,
wie nach einem fremden Hund.

Wie die Sprache der Gedichte, so sind auch ihre Themen nah am Alltag: politische Gedichte, Gedichte über die Angst in der Stunde des Wolfs, am frühen Morgen, Gedichte, die der Erinnerung auf der Spur sind und dem Traum. Der Titel Kaputte Mythen ist weniger poetisch als präzis. Hans Raimund schreibt gegen alle Romantik an, gegen alle Naivität, gegen die Geborgenheit, die den Menschen, der im Mythos zu Hause war, vor dem Ausgesetztsein schützte.
Unser Jahrhundert hat dem mythischen Erleben, dieser Grundform menschlichen Erschließens der Wirklichkeit, theoretisch große Aufmerksamkeit gewidmet. Der Mythos, die bildliche Sinndeutung der Wirklichkeit, die den Menschen von seinen Uranfängen her begleitet, ist nach Ansicht des Dichters Raimund zerbrochen. Die Liebesgedichte in dem Buch haben in ihrer Schlichtheit die Aussage, dass auch eine Liebe, die sich nicht mit der mythischen von Tristan und Isolde vergleichen lässt, Halt geben kann.

Endlich
Schritte draußen,
vor den Luken
kreischt der Riegel
quietscht das Gatter
pawlowsch prompt
spring ich auf
stampf hinauf, die Wendeltreppe:
dir ist kalt,
du hast Hunger,
du bist müd,
– du bist da,
endlich.

Es wäre falsch, Hans Raimund nur als einen Dichter sehen zu wollen, der die zerbrochene Welteinheit beklagt: Dazu ist er zu ironisch.
Im Gedicht, „Im Schneider“ finden sich kühne Wortbildungen, die doch nur zusammengesetzt sind aus gebräuchlichen Wörtern.

ich fädle
das Licht
ins Augenöhr

ich stichle
die Finsternis
mit Pupillennadeln

ich säume
den Tag
mit Wimpemborten

ich nähe
Falten
in die Nacht

ich setz
dem Leben
Zwickel ein

der Tod
sitzt mir
wie angegossen.

Sylvia Patsch, Der Standard, 26.2.1993

Im Streit mit Fassaden

– Hans Raimunds Lyrik legt sich mit der Welt an. –

Rowohlts Autoren-Lexikon deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts kennt Hans Raimund nicht. Der Leser nimmt dies mit Verwunderung zur Kenntnis. Ist der aus Petzelsdorf in Niederösterreich gebürtige Lyriker doch einer, der sich mit Fug und Recht ein Dichter nennen darf. Kein Wunder also, wenn sich Häme, gepaart mit verletztem Dichterstolz in Raimunds an Wien (aber auch an dessen Dichter-Protagonisten Jandl) gerichteten Texten verbirgt.

Ich geh im Streit durch diese Gassen
im Streit mit den Fassaden den Gesichtern
den scheelen Blicken die mich messen
im Wegschauen das Urteil sprechen

Ich bin ein Gast in dieser Stadt
in der ich vierzig Jahre lebte
mit Menschen die ich zu gut kenne:
ihr Grinsen ihre Gesten und Gebärden

 das Schulterzucken Stirnerunzeln
das Treten auf der Stelle Umdrehen auf
dem Absatz – das Gehabe neidischer
und stets beleidigter Voyeure

das auch das meine ist und bleibt

heißt es im „Wien-Lied“, keinem starken Gedicht, aber doch einem biographisch aufschlußreichen.
Raimunds Stärken liegen dort, wo sich seine Texte der vorschnellen Einsicht verweigern: im Sinnbildlichen, in der Verrätselung. „Atlantis sagt er“ – so der Titel eines der schönsten Poeme im dritten Gedichtband des seit 1984 als freier Schriftsteller in Duino bei Triest lebenden Raimund:

da sitzen     sagt mein Bruder
die Gescheiten
denken
die Rücken rundgekrümmt
die Schleimhäute entzündet

und keiner     sagt er
denkt daran
das Denken einzustellen
sich aufzurichten
grad zu stehen
kotzend
sich zu übergeben…

Welt aus Papier!     sagt er
aabunt und leis     ohne Drang
aaoder
aavorlaut kindisch sich gebärdend

Preßspanwelt!     sagt er
aazerschnitten in plausible Formen
aamit des Denkens Säge

Ablichtwelt!

… Von Fall zu Fall
gelingt es mir:
da bin ich
aufrecht
leer.

Doch ist es nicht eine im Experimentellen verwurzelte, bildersüchtige Resignation, die Raimunds Gedichte ihrem Grundton nach bestimmt. Im Gegenteil: Der Dichter, der zornig und im Geist des 68er Jahres abrechnet mit einer Welt, die wenig fragt, um Antworten so marktgerecht wie möglich feilzubieten, plädiert mit Leidenschaft für den Mut zur Sehnsucht, zum Traum, zur Illusion.
Wo Kaputte Mythen dem Alltag zynische Gesichter schneiden, macht er in kritischer Selbstanalyse jene Gefühle ausfindig, die sich – verborgen unter den Schichten der Angst – als wahr behaupten können: Im Liebesgedicht zum Beispiel, aber auch im immer wieder beschworenen Versuch, ich zu sagen.
In der freien, allegorischen Assoziation gelingen Raimund die schönsten Texte:

IM SCHNEIDER

ich fädle
das Licht
ins Augenöhr

ich stichle
die Finsternis
mit Pupillennadeln

ich säume
den Tag
mit Wimpemborten

ich nähe
Falten
in die Nacht

ich setz
dem Leben
Zwickel ein

der Tod
sitzt mir
wie angegossen.

Dann wieder ist es die sachdienliche Beschreibung, die dem Dichter als Instrument für sein Handwerk dient. Im politisch motivierten Gedicht, wie in „Zeig ihm den Herren“ rückt Raimund neofaschistische Machtallüren ins Bild, ganz ohne psychologisches Understatement: Der gedemütigte Körper des Opfers versinnbildlicht die Scham, die der Täter in dumpfer Herrenmenschenhaltung nicht zu empfinden vermag.
Raimunds Gedicht suggeriert eine Aufforderung, in der die besondere poetische Kraft des Textes liegt:

Pack ihn
am Nacken mit der Rechten
an den Beinen mit der Linken
reiß ihn hoch
mit jähem Ruck
beutle ihn
wirf ihn auf den Boden
richt starr auf ihn den Blick
sperr wie zum Schrei den Mund auf
heb wie zum Schlag den Arm
stell einen Fuß auf seinen Leib…

Für seine Übersetzungsarbeiten aus dem Italienischen und dem Französischen erhielt Hans Raimund 1991 den österreichischen W.H. Auden-Übersetzerpreis; als Schriftsteller blieb er bisher ungeehrt.

Elisabeth Grotz, Die Presse, 13.7.1992

Zustand nach der Zerstörung

– Zwischen Wien und Duino. –

Als Fazit einer ganzen Generation möchte man jene Zeilen lesen, die der  österreichische Schriftsteller Hans Raimund, Jahrgang 1945, an den Anfang seines neuen Lyrikbandes stellt:

Die Diebstähle der Elstern verschliefen wir
Nicht von Belang!    Es erübrigte sich
Die Schrift der Zehen im Staub zu entziffern
Eher nahmen wir zu Protokoll
Was aus dem Stegreif wir träumten

Ein wenig an Günter Eich erinnert die Diktion dieses lyrischen Vorworts, ein wenig aber auch an die berühmte Stelle aus den Hofmannsthalschen Terzinen, wo es heißt:

Wir sind aus solchem Zeug, wie das zu Träumen.

Damit aber hat es denn auch sein Bewenden und jeder weiterführende Vergleich mit Hofmannsthal verbietet sich von selbst: Die Träume in den Gedichten Hans Raimunds haben ihre kindliche Unschuld längst verloren und nicht umsonst lautet der Titel des vorliegenden Bandes: Kaputte Mythen.
Ähnlich wie in den bisher erschienenen Gedichten und Prosatexten von Hans Raimund fungieren auch im neuen Band die Stadt Wien und das italienische Duino als Ziel- und Ausgangspunkte seiner lyrischen Erkundungen. Beide geographischen Orte verweisen, jenseits der individuellen biographischen Bedeutung für den Autor selbst, auf Mythisches im weitesten Sinne. Das Städtchen Duino bei Triest, zur literarischen Chiffre geronnen durch Rilkes Duineser Elegien, bezeichnet nicht zuletzt auch einen Ort, wo die alten europäischen Kulturen einst ihre jeweilige Eigenart einander mitteilten. Längst schon kommt solchen Orten im Zentrum Europas keine historische Mittlerrolle mehr zu. Der blutige Wahnwitz der Geschichte in unseren Tagen läßt es wenig wahrscheinlich erscheinen, daß die Traditionen interkultureller Verständigung wiederbelebt werden könnten.
Als „Schuttwiese“ erscheint denn auch bei Hans Raimund die Karst-Landschaft im Grenzland von Italien und Slovenien. Zivilisations- und Geschichtsschrott finden Verwendung bei seinen lyrischen „Karstspielen“. Kinderspiele, denen das kindliche Vergnügen längst abhanden gekommen ist, fügen sich zu Endzeit-Szenarien.
Der Zustand nach der Zerstörung des Mythos wird ohne Larmoyanz konstatiert. Hans Raimund findet – bei aller drastischen Schilderung des Zerstörten – immer wieder erstaunlich formbewußte lyrische Bilder. „Hier wo / die Alleen im Streulicht gilben / in abgesunkenen Gärten Rosen einzeln / stehen verschossen rot gewärtig daß / die Bora sie mit ihrer Schere schneidet…“ – so beginn eines der schönsten Gedichte. Zu den „kaputten Mythen“ dieses Bandes zählt auch die Stadt Wien, das „Totenschauhaus“ mit „all den liebevoll betreuten Gräbern“. Dieser Nekropole des geschichtlichen Einst ist nur noch im Paradoxen beizukommen: „Ich bleibe Gast in dieser Stadt / in der ich nicht mehr leben will“ lautet bündig die Schlußfolgerung.
Auch jenseits der geographischen Bezüge findet der Mythos allein als pervertiertes Fragment sein fragwürdiges Unterkommen im Gedicht. Die einzelnen Texteinheiten des Bandes werden durch kurze lyrische Einschübe, „Strophe“ genannt, voneinander getrennt. In diesen „Strophen“ scheint gewissermaßen die dunkle, barbarische Seite mythischer Erzählungsmuster auf: eine Jagdschilderung trägt Züge eines archaischen Gemetzels, mythisch befrachtete Symbol-Requisiten fallen der Zerstörung anheim.
Solche Texte versagen sich dem leichtherzigen Zugriff des schnellen  Lesens. Sie fungieren gewissermaßen als nützliche Widerhaken, die ihren Leser zum Querlesen und Querdenken verleiten.

Dagmar Lorenz, Wiesbadener Kurier

Entfesselungsgedichte

Die Verflechtung des menschlichen Lebens mit den Mythen kann bis in den Nebel der Urzeiten zurückgeführt werden. In ihrer ursprünglichen Bedeutung als symbolischer Ausdruck gewisser Urerlebnisse der Völker, in der sie Aufschluß über die Welt und ihre Erscheinungen geben, sind Mythen Träger magischer Kräfte. Als eine symbolische und frappante Geschichte (z.B. die griechischen Mythen des Prometheus und Orpheus), als Legende (von Faust, Don Juan, der Atlantis) oder als idealisierte Vorstellung einer fiktiven Vorzeit oder der Zukunft der Menschheit (das goldene Zeitalter, das verlorene Paradies) aufgefaßt, oder aber in ihrer uns in diesem Kontext interessierenden Auffassung als vereinfachte, oft illusorische, vom Menschen entworfene und akzeptierte Vorstellungen über Personen und Fakten, spielen die Mythen eine entscheidende Rolle als Instrument der Machtausübung. Wenn der Einzelne beginnt, Zweifel zu hegen an den von der kollektiven Phantasie bzw. der Tradition übertrieben oder entstellt überlieferten Tatsachen und Persönlichkeiten, dann beginnt der Prozeß der Entmythisierung der Befreiung von einer kollektiven Mystifizierung.
Im neuen (und vierten) Gedichtband des Österreichers Hans Raimund geht es um die zur verdichteten Aussage gewordenen Ergebnisse des Strebens, die in Bilder gekleideten Erkenntnisse über Landschaft, Gesellschaft, Geschichte, die Hauptstadt Wien, Kindheit, Erziehung, Sprache und  Kunst  zu einem Gesamtbild von Überholtem und Abgenütztem zusammenzufügen. Seine Absicht, „kaputte Mythen“ aufzuzeigen, führt ihn zur Enthüllung alles tradiert Verlogenem, Verdrängtem, Vertanem und Verengtem, Trügerischem, Heroisch-Pathetischem, sowie von sozialer Ungerechtigkeit Geprägtem. Die Ausländerfeindlichkeit der Gesellschaft wird ebenso bloßgestellt wie die Voyeurhaftigkeit der Menschen, ihr Neid in der von Mief, Greisentum, Tod und einem enormen Friedhof geprägten Stadt. Der seit Jahren in Triest Lebende fühlt sich heute als Gast in Wien, in dessen Gassen er „Streit sucht mit den Fassaden, den Gesichtern“. Unter die Lupe genommen wird die Erziehung mit ihren Klischees und alldem, was dahintersteckt, die Kunst, die das Prekäre der menschlichen Existenz verdrängt, die von Fremdwörtern durchwebte und immer weniger prägnante Sprache sowie der sich perpetuierende Nazi-Geist seiner (früheren) Landsleute („Churchill habe das falsche Schwein geschlachtet“) und die Wendehalsigkeit der Politiker („zuerst nach links, und dann nach rechts schauen“). Sogar die an die Kindheit in der Nachkriegswirklichkeit anknüpfenden Gedichte und der Zyklus Höfe – ein Sich-„Wiederfinden“ im Gleichgewicht („wenn auch nur zum Schein“) der erinnerten Kindheit – sind entlarvend. Ausgeschöpft wird auch der symbolische Wert der Bilder einer gefährdeten Landschaft. Der Dichter will ergreifen und verwandeln, er lebt im Bewußtsein der Verantwortung für das einmal ausgesprochene Wort und ist bemüht, die Augen seiner Mitmenschen für die Gefahr bedrohlicher Wertverluste zu öffnen, wenn er auch oft den Eindruck hat, ein „Theater“ nur für sich selbst zu spielen. Die Strophen lassen manches über die Enttäuschung einer militanten jungen Generation  in  einem konservativen und sich vor Neuerungen verschließenden Land ahnen.
Zwar weisen die Gedichte keinen geschlossenen einheitlichen Charakter auf, sie lassen sich aber nach der sich auf die gleichen Gedanken beschränkenden Thematik in Zyklen, „Strophen“, „Kürzel“, Kinderlieder und Prosagedichte einordnen. Sie werden von einer verdichteten, von innerer Musik bestimmten, scharfen, sensiblen, aber auch verspielten Bildersprache unterstützt. Die sprachliche Ausführung, die auch  aus  dem Reservoir der Idiomatik schöpft, die Gefallen im Spiel milder Mehrdeutigkeit, mit der Parodie, mit dem lapidarischen Erfassen der Essenzen findet, die mitreißend ist und sich oft nur durch die Atempause der Zäsur bändigen läßt, ist etwas unausgewogener,  weil uneinheitlicher.
Die Frage, ob die Entmythisierung nicht zum Pessimismus führt, liegt auf der Hand. Sicherlich führt sie zum Zweifel, der aber die Sinne schärft und unverwundbar macht, sie führt zwar zur zeitweiligen Orientierungslosigkeit, aber zu keiner Resignation. Die Entthronung überlebter Mythen ermöglicht in diesem ausgehenden Jahrhundert, in dem so viele Hüllen unserer Auffassung fallen, die auf Entstehen neuer Mythen gesetzte Hoffnung. Raimunds Gedichte benennen keine neuen Wege, sie weisen bloß auf die abwegigen, irreführenden alten hin. Dabei wollen sie nicht als schauerliches Menetekel, nicht als Dauerklage verstanden werden. Gerade indem sie „dem (enggewordenen) Leben Zwickel einsetzen“, verhelfen diese Gedichte ins Offene, Unbegangene.

Julia Schiff, Der Literat, Dezember 1992

Kaputte Mythen

Kaputte Mythen als effektvoller Titel spannt ein modernes Allerweltswort, rund um den Globus in den Motorstationen überall verständlich, mit einem weniger präzisen Begriff der Gedankenwelt zusammen, und zwar zu einer Parte, nur viel origineller als die üblichen Todesanzeigen: der Roman ist tot, die Symphonie, das Bild sind tot, worauf sich in den Reihen der Kulturbetriebsamen ein Erleichterungsgefühl einstellt. Derzeit übt ja genau so wie in der Hochblüte der Romantik die „Nekromantik“ einen unwiderstehlichen Reiz aus, scheint es doch, als brächte er in das allgemeine, pluralistische Chaos so etwas wie eine „Richtung“ hinein.
In diesen Tagen, da großmächtige Mythen wie zum Beispiel der dialektische Materialismus, der kapitalistische Fortschrittsglanz, die Naturbeherrschung, das erlösungstiftende Proletariat usw. am laufenden Band kaputt gehen, andere Mythen jedoch wie das „Volk als Rechtsquelle“ ein neu frisiertes Haupt erheben, ist man aufs höchste gespannt, was ein so bedeutender und tiefschürfender Autor wie Hans Raimund dazu zu sagen haben wird.
Doch siehe da: „Wie unpolitisch ihr jungen Leute heute schreibt!“ (Seite 99) Von der aktuellen Geschichtskrise der Mythen ist also hier keine Rede. Hans Raimund packt das Problem ganz anders an.
Würde man an seinen Gedichten statistisch untersuchen (an Christine Bustas Gedichten ist eine solche Studie von Kurt Adel durchgeführt worden), wie sich die Anzahl der Tätigkeitsworte zu der der Hauptworte verhält, so müßte sich – wie ich vermute – ein Quotient ergeben, den kaum eine andere Lyrik der Gegenwart erreicht. Dem Tätigkeitswort kommt ein ganz ungewöhnlicher Stellenwert zu. Das verleiht Raimunds Lyrik einen dramatischen Charakter, einen voranstürmenden Elan, der vom Tänzerischen bis zur davongaloppierenden Flucht, ja zum verzweifelten Amoklauf reicht (… verhärtest dich … zehn Mal in einem „Perpetuum mobile“ wiederholt und gesteigert, Seite 76).
Das Gedicht wird zur Action. Die Metapher, keineswegs ein statisches, sondern kinematisches Bild, drängt als Geschehen unaufhörlich in An- und Aufbrüchen über den sprachlichen Rahmen hinaus, so wie in einem barocken Deckenfresko ein Fuß oder eine Hand über das Gesimse der Scheinarchitektur hinauslangt.
Wie Hans Raimund das Tätigkeitswort einsetzt und dadurch Rollengedichte „mythisch“, dem griechischen Wortsinn entsprechend, als archetypisches Geschehnis verlebendigt, darin erweist sich eine Meisterschaft, welche einiger dieser Gedichte zu Paradestücken in modernen Anthologien machen werden, wie zum Beispiel „Im Schneider“ (Seite 94). Bereits nach erstem Lesen wird einem unvergessen bleiben, wie sich ein berühmter österreichischer Poet „die Kippe auf die Unterlippe pickt…“. Solche Dynamik bewahrt die polemischen Einfälle (wie zum Beispiel Seite 31, 74, 79) davor, in abgeschlossene Allegorien zu münden.
Auch gelingt es ihm, das zu überwinden, was er die „schlampigen Gefühle“ nennt. Aus ihnen gehen ja die „Mythen des Alltags“ hervor: Gewalt, Angst, falsche Autorität, Hörigkeit gegenüber den jeweils modischen Formen des Aberglaubens. Von all dem unangefochten bleibt die Beziehung von Mann und Frau, wie sie sich in einigen ebenso schlichten wie ergreifenden Ehegeschichten ausdrücken. (Seite, 19, 21, 67, 68, 69.) Sie haben etwas Seltenes erreicht: die reine Bewegung des Für ohne Aber, Tiefe des Empfindens bei größtmöglicher Schlichtheit. Sobald man aber in die Epoche hineinwirken will, darf und kann man sich von deren Untiefen und Verschrobenheiten nicht ausschließen. Und so verstecken sich denn die Dämonen, welche Namensverbot bekommen haben, in das Nein und Kein (Seite 39). Von deren Einsilbigkeit erhoffen sich die Dämonen mit höchster Ökonomie, die Welt aus den Angeln heben zu können. Das ist am Kinderspielplatz (Seite 119) nicht anders als bei den Erwachsenen (Seite 104). Bleibt nur die Frage, welcher Welt sie fortan den Türlschnapper ersparen wollen, der papierenen / theoretischen / „Ablichtwelt“, „zerschnitten in plausible Formen mit Denksäge“ (Seite 35) oder der echten Lichtwelt des Kosmos? Sofern man nicht beide haarscharf unterscheidet, nimmt man sich wie Don Quixote im Windmühlenkampf aus. Doch auch die „Ablichtwelt“, also die sogenannte Kultur, hat dialektischerweise ihre guten Seiten. Ohne dichte Türen wird’s recht windig und unwirtlich auf der Welt.
Hans Raimund hat in seiner Kindheit und Jugend viel „Unwirtliches“ erfahren. Davon legen weite Partien dieses Buches Zeugnis ab. In einem Gedicht „Kinderzimmer“ stellt er Marcel Prousts „Kindheitsluxus“ den erbärmlichen Wohnverhältnissen proletarischen Lebens gegenüber. Ist dies wirklich das Schlüsselerlebnis für eine Entwicklungs- und Schicksalsalternative? Wenn wir, von Hans Raimunds dichotomischen Gedicht herausgefordert, Marcel Prousts Werk und Hans Raimunds 5 Gedichtbände vergleichen, so stellt sich folgendes heraus: die mit Affirmation überfütterte Kindheit und Jugend hat in dem guten und lieben Marcel keineswegs dazu geführt, affirmativ gesicherte Bahnen zu gehen. Ganz im Gegenteil, gründlich und tieferschürfend, aber auch ohne jedes Ressentiment und ohne jegliche Selbstschonung hat er seine Mitwelt analysiert. Marcel Prousts analytische Schärfe stammt nicht vom „Nein“, diesem kaputten Mythos, sondern aus der Tiefe der Einfühlung. Und insofern mag Hans Raimund doch recht haben: Der Gutenachtkuß der Mutter wirkt weiter, wird zur Glimmlampe, welche durch das ganze Werk hindurchleuchtet. Solches blieb Hans Raimund versagt. Umso schwieriger war es für ihn, sich aus dem Mythos des Neinsagens, aus der höhnischen Inventur unserer riesigen Defizite an Humanität zu dem letzten Gedicht durchzuringen (Seite 126). „da war in ihm ein Ermatten, ein Erschlaffen so wie ein Finden ein Als ob und ein FürgutBefinden ist“

Franz Richter, Literarisches Österreich 3/1992

Hans Raimund: Kaputte Mythen. Gedichte

Hans Raimund, 1945 in Niederösterreich geboren und seit 1984 in Duino lebend, gewinnt aus der Distanz zu seiner Heimat ein wichtiges Thema für seine Gedichte. In seinem „Wien-Lied“ heißt es:

Ich suche Streit in diesen Gassen
den Streit mit den Fassaden den Gesichtern
Ich bleibe Gast in dieser Stadt
in der ich nicht mehr leben will

Wo und wie, ja ob zu leben ist, dieses große Thema bekümmert auch diese Lyrik. Ein Amsterdam-Gedicht spricht vom „Heimweh nach den / blutigroten Hainen an Dolinenrändern / Talismane Spielzeug vager Nostalgien/ zwischen den nervösen Fingern eines Grachten- / läufers ohne Schatten“.
Hans Raimund ist ein Meister der knappen Fügungen und emblematisch gesetzten Bilder, des geistreichen Umgangs mit tradierten Formeln, verfügter Sprache, spannungsreichen Bildgesten. Das Gedicht „Perpetuum mobile“ antwortet sozusagen auf das berühmte Biermann-Lied „Du laß dich nicht verhärten“, indem es hartnäckig die Zeile „verhärtest dich“ wiederholt. Dazwischen stehen neun sechszeilige Strophen, die aus Redewendungen gebaut sind, was zeigt, wie erfinderisch Volksmund war und ist, wo es um das Sich-Durchbeißen geht. Auf die Skatsprache geht der Titel „Im Schneider“ zurück: „aus dem Schneider“ zu sein, bedeutet dort, einer doppelten Verlustzone entronnen zu sein. Raimunds Gedicht nimmt auch metaphorisch Sprachgesten der Schneidersprache auf:

ich fädle
das Licht
ins Augenöhr

ich stichle
die Finsternis
mit Pupillennadeln

ich säume
den Tag
mit Wimpernborten

ich nähe
Falten
in die Nacht

ich setz
dem Leben
Zwickel ein

Das Gedicht endet mit der überraschenden, an Erich Fried gemahnenden Sentenz:

der Tod
sitzt mir
wie angegossen

Raimunds Gedichtband hat einen fünfteiligen Aufbau. Er beginnt und endet mit Bildern aus der Kindheit, die als Spiele, Gesten und Rhythmen, als obsolete Gestalten auftauchen – nur die Erinnerung weiß sie noch zu einem Humanum zu verknüpfen. Dazwischen stehen Hinblicke auf die italienische Landschaft, gutteils an das Regenbogensymbol gebunden, den Bogen, „den ich erklimm und himmelquer / bis an sein Ende geh und stets / am Anfang steh“. Besonders gelungen erscheinen mir die als Schlußteil beigegebenen Gedichte unter dem Titel „Höfe“, die zeigen, was ein lyrisches Erinnern zu bedeuten vermag:

bin Ich in Höfen bin
Kind ist Wiederfinden
Gehen in Gedanken
durch Gewesenes kein
Bedenken ein Sichtrauen
an Türen Klopfen Fenster
Öffnen Räume Auftun
Schritt für Schritt begangen
Hinter Licht und Bauern
Höfe wo der Schlaf ein
Spiel war Aug in Auge
mit dem Traum und hell
wie Bellen

Spielen, Träumen, Öffnen, Sichtrauen gehen plötzlich zusammen, verketten sich in einer Form, für die man in der Rhetoriksprache den Terminus Klimax oder Anadiplose bereit hat: das Schlußwort einer Zeile gibt den Gedanken, gibt das Stichwort für die nächste Zeile vor. Es ist ein Nachlaufen der Sprachverkettungen, welches die frühe Kindheit bestimmt:

wenn ich spiel
dann träum ich mich

wenn ich träum
dann trau ich mich

trau ich mich
dann bell ich (…)

Und schließlich heißt es: „Träumen Trauen Bellen / sind ein Spiel“, aber dem wird als Schlußzeile, die eine ganze Strophe vertritt, hinzugefügt:

sehr Ich.

Solche Sprach- und Form-Erkundigungen nach dem, was das Ich hervorbringt, sind der ureigenste Stoff der Lyrik, die ja als Andeutungssprache solche Möglichkeiten wahrnimmt und bewahrt.
Ein anderes kindheitsprachlich inspiriertes Modell ist die metonymische Definition (Metonymie meint einen Bild-Zusammenhang sachlicher Art), die frühe Wahrnehmung, daß etwas aus etwas anderem ist, in etwas anderem ist. Raimund baut ein sechszeiliges Gedicht nach diesem Muster, das es so vorher nicht gegeben haben dürfte:

Katz ist aus Haar
Kratzen ist Krallen an Katzen
Woll ist aus Schaf
Knäuel ist ein Zuviel
Weiß ist ein Zuwenig
Schlaf ist aus Müdsein

Weiterhin gibt es Märchenanklänge, Chansons, musikalische Spiele, mythisch inspirierte Motive, auch einmal eine Ski-Suada, Rollenlyrik und satirische Verse, eine Abteilung mit emphatischen Du-Gedichten.
Eine durchaus eigene Bedeutung haben in Raimunds Lyrik die Ausdrucksgesten nichtsprachlicher Natur. So entwickelt er das Bild des Bruders / des Mannes / des erfolgreichen Mitmenschen von einer solchen Geste her:

mein Bruder gibt mir Unterricht
im Stehen und im Kotzen
das hilft sagt er
gegen das Denken

Das Bild „kerzengrad“ setzt hier den geübten Auswurf voraus, das Ausspeien von allem Eingelöffelten, von aller Tradition auch:

wenn ich die Augen schließe
seh ich
des Bruders Gradheit glänzen
weithin übers Brockenmeer

Die „Gescheiten“ sind der Gegenpol, gelten vor diesem zynischen Erledigungskonzept als Gescheiterte, doch was bleibt übrig? Die Schlußworte heißen „aufrecht / leer“.
Demgegenüber mag intellektuelle Arbeit als „Theater“ erscheinen, wie es ein Gedicht exponiert. Aber die Leerformel, mit der es endet, widerspricht dem Phantasma „aufrecht“, und zwar in der Figur der Beugung: durch die Tautologie, die Rückwendung des Ichs zum Ich, was die Textarbeit als Selbstvermittlung begreift und aufnimmt:

ich sage ich.

Alexander von Bormann

Hellhöriges aus südlichem Keller

Ich suche Streit in diesen Gassen
den Streit mit den Fassaden den Gesichtern
Ich bleibe Gast in dieser Stadt
in der ich nicht mehr leben will.

So resümiert der Poet den sporadischen Wien-Besuch, einer Stadt, in der er lebte, von der er im übrigen gerne fortzog. Ein übliches Schimpfen über dieses verfilzte Österreich? Den einen zermalmen Gesteinsformation oder die alles bestimmende, die typische Tracht,  den anderen ruinieren die ausgelassenen Hunde, Wachhunde und zumal auch Schoßhunde –, das dürfte zur Flucht des einen oder anderen immer schon sehr leicht ausgereicht haben. Aber ein flüchtender Autor ist bisweilen, was die noch zu erwartende Zeugenschaft des Überlebens betrifft, auch immer besser als ein toter, könnte man sich da plump einreden. Noch besser als Flucht jedenfalls wäre für den Autor die Replik auf sein wahrliches Wesen, Schritt für Schritt durch sein Gehirn, durchs Herz hindurch. Dann entweiche er nicht den Tatsachen, wäre er hinter ihnen sogar her. Und Bilder gibt es immer, auch die Wörter scheinen nicht auszugehen. Die Wörter reichen, um mit fernen Mühlen zu fechten. Er gibt nur Sehnsucht und Willensschaum. Nur?
Man kann demnach, als Leser andererseits, buchstäblich nachfahrend und grenzüberschreitend dem Autor auf der Spur, durchaus von der südlichen autostrada herunter und abbiegen nach rechts, zum kleinen Duino, ein paar Kilometer vor diesem Narren-Triest, den Wagen drunten im Hafenkomplex fest verankern und daraufhin das bewußte Buch hervorkramen. Er, Raimund säße dann ein paar Häuser oberhalb in seinem Keller-Studio („die Tavernetta / um halbneun in der Früh“) und wüßte nichts, rein gar nichts, von unserer wahrscheinlich nicht nur imaginären Anwesenheit. Wir läsen sein neuestes Buch Kaputte Mythen: das sind die Gedichte eines Hellhörigen, das sind die Verdichtungen hinter dem matten Harnisch („dem blanken Antlitz der Sonne entgegen“). Es ist dieses Duino vielleicht ein simpler Modus des karstischen Seins, eine Anspielung zumal auch auf einen anderen Österreichischen, das erlesene Buch indes zerhackte sogleich recht fein: daß Hans Raimund, der heutige Dichter, seit vielen Jahren dort lebt und leben will – und es vielleicht sogar muß. Muß er? Nun gut, diese Flucht dorthin wäre ihm am Ende bei seiner Entdeckung behilflich gewesen –, ach was Entdeckung?, lassen wir das einmal vorläufig.
Wir läsen, irgendwie vorweg schon sehr irritiert, den vino rosso hinunterkippend, in einem entbrannten Passus, schon braute sich ein Tumult zusammen, „Zeilenweise“, so der Titel eines Gedichtes, gewidmet dem Slowenen Šalamun), seitenweis näherte man sich einer bestimmten Hölle in der Buchmitte, zwar wäre man ängstlich vor dem, was schließlich jetzt kommt, aber die Lektüre selbst wäre eine heilsame, insofern als sich der Mut ein resistentes Gefühl, daß das Erlebte endgültig in einen hineinzerrt, spätabends dann doch noch regte und sich im innersten Gekröse verfänge und „die Finger im Finstern / ertasten’s, erfassen’s“ (wem immer das gilt). Mut zu einer Liebe, die den Magnetismus aktiviert, jenseits psychologischer, Vulgärkategorien. Gegen die grassierende Unruhe.
Dennoch: „mir standen Schutt und Trümmer bis zum Hals“, ist da zu entnehmen und dass „sie im Finstern schon wieder Messer wetzen“. Es wird ein symptomatologisches Bild gezeichnet vom Zustand nach der Zerstörung von diversen Mythen. Den Mythen als solchen wird in jenem Buch ja nicht unbedingt nachgetrauert, vielleicht wird ausgedrückt, daß die Spur eines Erlebten, was sich gleichsam schon Nervenbahnen zu bilden begonnen hat, vorzeitig abgerissen ist. Rätsel! Was mag das wohl für eine Praxis gewesen sein? Resistenz.
In dieser flautenhaften Zeit österreichischer Lyrik gibt es freilich und tatsächlich wieder einen Wind von besonderer und heftiger Art: das ist diese frühlingshafte Bucherscheinung, man hätte es fast nicht mehr für möglich gehalten. Der Wind kommt aus gestirnter Bucht. Gesänge im Keller der Produktion. Schatten auch welche. Schritt für Schritt die wiederkehrende Wolke. Dann aber kommt es zur weiteren Strophe.
Genug der schönfärberischen Gedichte in völlig aseptischer Beliebigkeit, genug der Gedichte, die letztens weder sonderliches Sprachspiel mehr waren, noch sonstwas, wozu es sich gelohnt hätte, sie lesend anzupacken. Jetzt kommt noch einmal Wind aus anderen Versen hervor, unverhofft und ohne es so richtig zu wollen. Wohl ein zu verspürender literarischer Wind, dessen „Dilemma und Kommentar“ es zu sein scheint, „das Blut der Väter an meinen Händen“ nicht einfach verdünnen oder wegmachen zu können, sondern noch für eine Weile stehen zu lassen in Form von „Strophen“, seien sie noch so melancholisch wie diese da: „Nie wieder wird eine Taube / aus unserem Mund steigen.“ – Das Aufdecken bestimmter Mythen, vor allem jener im Zusammenhang mit Gewalt und anderer Herrlichkeit, ist ein mühsames Treiben. Vor allem, weil – kaum hat der Tag mit seinem Aufgedecktwerden, seiner Entzifferung geendet – sich schon ein anderer Mythos breitgemacht hat und sei es der des Aufdeckens selber. Oder hat die Herrlichkeit etwa schon ausgespielt? Das Kaputte von Mythen ist auf ersten Blick ja nicht zu sehen. Unbehindert zirkulieren manche weiter, treten ein ins Haus, gestalten die weiteren Beziehungen unter den Menschen. Als wären sie von Menschen losgelöste Entitäten, fächelnde Segmente einer verschlingenden Verschwörung.

Schlägst dir die Nacht um die Ohren
hörst das Gras wachsen
witterst Lug, witterst Trug
trabst auf und ab im hohlen Ärmel
fällst in Galopp
läufst aus

der Lebensmoment des Gedichts bewirkt eine Art künstlerische Erfahrung, speziell gegen die Verhärtung, gegen das ungeschriebene Gesetz. Hier wird ein Ursprungsort schreibend aufgeschlossen, so einer wie Oase, dem fortschreitenden Selbstzerstörungsprozess zum Trotz, Ort ohne ideologische Bemühungen um Funktion von Form oder Nichtform, sondern Ort, in dem auch der Kopfstand so manchen Inhalts nicht ausgeschlossen ist, – durchaus sektiererisch. Im Gedicht „Kürzel“ werden die Antwort in Form von Fragen versucht:

stärker?
stolzer?
endlich genesen
von der Krankheit
schlampiger Gefühle?

Wir können Hans Raimunds Kaputte Mythen jetzt zur Seite legen. Wir starten das Auto. Es hat dieses Duino, eine Wimper an Träumerischem und unterirdischem Feuer. Den eisernen Schuh angeschnallt, bewegen wir uns auf die Grenze zu. Hat er eine schmächtige Hand, dieser Raimund, mit der er etwa einen Schwur tut? Und welchen Schwur? Wir sind in Klagenfurt zu Hause. Ein sickernder Sturzbach des Hundertsten und Tausendsten erwartet uns. Die Lektüre dieses Buches indes war imstande, diese menschenunartige Brühe zu stoppen. An der Grenze zur Welt entstand so eine poetische Vegetation.

Ingram Hartinger, Die Brücke, 2/1992

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Hans Raimund: „Kaputte Mythen“
oe1, 3.11.2017

 

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram +
ÖM + Kalliope
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

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