Hans Thill (Hrsg.): In meinem Mund ein Bumerang

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Hans Thill (Hrsg.): In meinem Mund ein Bumerang

Thill (Hrsg.)-In meinem Mund ein Bumerang

GESTÄNDNIS

Erzähl es nicht weiter dass wir unseren Derrida nicht gelesen haben
dass am Horizont unseres Verstandes plötzlich ein Schuh aufblitzt
dass am Horizont unseres Körpers die Liebe erlischt
dass das alles nichts mehr zu bedeuten hat
erzähl es nicht weiter dass ich dich aufgegeben habe
für das Hemd eines anderen

erzähl es nicht weiter dass wir Dreck gegessen haben als Kind
dass wir uns in ein Grab gelegt haben und uns verwandelten
wie arglos wir einen Baum betrachten konnten
und warum jetzt ständig ein aschfahler Vater durch unsere Träume geht
erzähl es nicht weiter dass Väter für ihre Töchter
ein sehr überwindbares Hindernis sind 

erzähl es nicht weiter dass ich dich ansah und dabei sah
wie aus Schiffen ein Wrack wird und wie es anfing
an einem x-beliebigen Morgen als wir uns küssten
und ich plötzlich uns dreien zusah wie wir verglühten
in einem Topf überkochender Milch

erzähl es nicht weiter
sonst könnte der Tod aufwachen und dich von mir trennen

Gonca Özmen
Übersetzung Sabine Küchler

 

GESTÄNDNIS 

Erzähl niemandem dass wir Derrida nicht gelesen haben
Dass am Ende unseres Verstandes auf einmal ein Schuh beginnt
Ein Liebesakt am Ende unseres Körpers verlöscht
Dass der Sinn immer weiter und weiter in die Ferne rückt
Dass ich dich ohnehin gegen ein Hemd auswechselte erzähl niemandem

Erzähl niemandem von der Erde die wir als Kinder aßen
Dass wir Andere wurden und schliefen in einem Grab
Wie unerfahren wir waren während wir einen Baum betrachteten
Warum ein aschegesichtiger Vater ständig im Traum erscheint
Erzähl niemandem dass Väter Töchtern wie eine Türschwelle fehlen

Erzähl niemandem dass ich zuerst bei dir sah
Wie eine Fähre älter wurde
Wie explosiv der frühe Morgen war
Später unser Dreipersonenstück während wir uns küssten
Und anbrannten wie auf den Herd überschäumende Milch

Erzähl trotzdem niemandem was vorher war
Sonst wacht die Abwesende auf und nimmt dich weg von mir 

Gonca Özmen
Übersetzung Joachim Sartorius

 

 

 

Nachwort 

Ein Band wie dieser kann schnell den Eindruck wecken, dass die Auswahl an Autorinnen und Autoren, die vorgestellt werden, repräsentativ sei. Für Lyriktraditionen, die in deutscher Sprache wenig gelesen werden und insgesamt kaum bekannt sind, ist sowohl die Chance als auch das Risiko, die mit einer solchen Repräsentationsfunktion verbunden ist, höher als bei vielgelesener ausländischer Lyrik. Die Auswahl übernimmt zwangsläufig eine metonymische Funktion als Teil eines Ganzen, das dem Zielpublikum weitgehend unbekannt bleibt. Eine Auswahl bedeutet außerdem natürlich den Ausschluss vieler anderer Dichterinnen und Dichter, die ebenso hätten dabei sein können. Zu diesen gehört etwa Gülten Akın, die Grande Dame der modernen türkischen Poesie, die gerne teilgenommen hätte, aber aus gesundheitlichen Gründen nicht reisen konnte. Denn es wird vorausgesetzt, dass die geladenen Gäste eine Woche im Künstlerhaus in Edenkoben mit den deutschen Dichterinnen und Dichtern verbringen. Auch wenn der Band also keine Vorstellung ,der‘ zeitgenössischen türkischen Poesie sein kann, deutet er hoffentlich die Vielfalt in der türkischen Dichtung an und macht Appetit auf mehr. Für uns ist diese Sammlung vor allem auch das Ergebnis einer spannenden Übersetzungsarbeit, die sich vom ,gewöhnlichen‘ literarischen Übersetzen in vielerlei Hinsicht unterscheidet.
Die türkische Lyrik zu Gast bei Poesie der Nachbarn. Natürlich fanden wir die Idee gut und sagten ja, als Hans Thill uns fragte, ob wir das Übersetzungsprojekt begleiten würden. Wir haben es in die Übersetzungsübungen im MA-Studiengang Sprache, Kultur, Translation mit Türkisch als Arbeitssprache integriert, das heißt, es war eine Gruppe von Studierenden des Germersheimer Fachbereichs der Universität Mainz an der Erarbeitung der deutschsprachigen Vorlagen beteiligt. Die Zusammenarbeit mit dem Künstlerhaus hat uns allen großen Spaß gemacht, und dass die Studierenden auch nach Edenkoben kamen, um mitzuarbeiten, hat zu einer lebendigen Atmosphäre beigetragen. Das Engagement der Studierenden war groß. Denn es ging hier nicht um eine Trockenübung, sondern um einen ,echten‘ Einsatz ihrer Texte. Und die Möglichkeit, die Dichterinnen und Dichter kennenzulernen und über Tage hinweg mit ihnen zusammenzuarbeiten, hat sie begeistert. Die Kooperation der Universität mit dem Künstlerhaus ist schon aus dieser Sicht ein großer Gewinn. Die Lesung im Theaterkeller in Germersheim war ein Höhepunkt dieser Zusammenarbeit. Nachdem wir in Edenkoben gewesen waren, kam als krönender Abschluss das Künstlerhaus mit seinen Gästen zu uns nach Germersheim.

Die Sache mit dem ,Interlinearübersetzen‘
Die Aufgabe, die uns in dem Projekt zukam, war das ,Interlinearübersetzen‘. Wir hätten es nicht so genannt. Für uns ist das Übersetzen eine komplexe Handlung, die nicht auf lexikalisches und grammatisches Wissen reduziert werden sollte und deren Komponenten nicht einfach voneinander zu trennen sind. Wir haben uns dennoch der Aufgabe gestellt und mussten uns in den unterschiedlichen Phasen der Projektarbeit mit dem Begriff und den Anforderungen, die damit verbunden sind, auseinandersetzen.
Interlinearversionen sind Wort-für-Wort-Übersetzungen, die zwischen die Zeilen des Originals geschrieben werden, wie es etwa bei althochdeutschen Übersetzungen lateinischer Texte der Fall war. Sie nehmen keine Rücksicht auf den Satzzusammenhang und schon gar nicht auf den weiteren Kontext, so wird es jedenfalls in den Lexikoneinträgen und Begriffserklärungen behauptet. Interlinearübersetzer müssen über solide Kenntnisse der Grammatik und des Lexikons ihrer Arbeitssprachen verfügen, sie ermöglichen zum Beispiel Linguisten und Ethnologen einen Einblick in die Funktionsweise einer fremden Sprache. Das Problematische an der Bezeichnung ist, dass sie eine mechanische Eins-zu-Eins-Übertragung suggeriert, die unter jedes Wort und jede grammatische Funktion die Entsprechung in der anderen Sprache setzt. Dabei entsprechen sich Sprachen selten, und einige sind besonders schwer in parallele Strukturen zu pressen, wie es auch für das Sprachpaar Deutsch-Türkisch behauptet werden kann. Es kommt noch ein aus übersetzerischer Perspektive besonders bedenklicher Aspekt hinzu, nämlich die implizite (und zuweilen auch explizit formulierte) Forderung an den Interlinearübersetzer, sich aus dem Text ganz rauszuhalten, das heißt, von jeglicher Interpretation abzusehen. Nur so kann die Illusion eines möglichst unvermittelten Zugangs zum Ausgangstext entstehen, zur Textnähe und ,Treue‘. Die vermeintlich neutrale Übertragung, die sich möglichst an den kleinsten Texteinheiten entlanghangelt, ohne eine Eigenständigkeit für sich zu beanspruchen, soll quasi als ,Lesehilfe‘ dienen – eine als Transliteration verstandene Übersetzung.
Wenn man bedenkt, dass die Übersetzungswissenschaft in den letzten Jahrzehnten einen mühsamen Weg vom Wort zum Text als Ganzheit gegangen ist und essentialistische Versprechen zur sinn- oder formbezogenen Invarianz überwunden hat, wird unser Unbehagen vielleicht deutlich. Wir sind den Weg gegangen, das ,Interlinearübersetzen‘ als Experiment und als Herausforderung zu betrachten. Während wir von den Studierenden in der Regel erwarten, dass sie gut formulierte Übersetzungen verfassen, die als eigenständige Texte bestehen können, sollten sie nun möglichst davon absehen, sich zu Gunsten der deutschen Formulierungen von der Oberflächenstruktur der türkischen Texte zu entfernen. Das bedeutet freilich nicht, dass sie nicht interpretieren – jedes Verstehen ist ein Interpretieren. Es bedeutet vielmehr, dass sie anders, das heißt mit einem anderen Ziel (Skopos) vor Augen interpretieren, etwa um sich für dieses oder jenes Wort, für oder wider die Erwähnung eines Synonyms und so weiter zu entscheiden. Das Experiment mit den Studierenden hat gezeigt, dass bereits die Vorgabe, sie sollten interlinear übersetzen, aber so, dass die deutschen Dichter die Versionen ,verstehen‘, zum Teil zur Ratlosigkeit und vor allem zu unterschiedlichen Auslegungen und Vorgehensweisen geführt hat. Am schnellsten kamen sie an ihre Grenzen, wenn sie strikt interlinear arbeiten wollten. So begannen wir gemeinsam darüber nachzudenken, was im Rahmen der Zielsetzung sinnvoll wäre, das heißt, was die deutschen Dichterinnen und Dichter bräuchten, um die Texte gut weiterbearbeiten zu können. 

Ein Beispiel aus einem Gedicht von İzzet Yasar: 

erivandan – erivan-abl 

gelir – komm-aor 

akın – strömend

akın – in Strömen (Reduplikation)

Hier wurde ,Interlinearversion‘ in der Wörterbuchbedeutung ausgelegt. Sie gewährt in der Tat einen Einblick in die Wortfolge und die Zusammensetzung der Wörter. Sie macht auch deutlich, wie das Türkische als agglutinierende Sprache beschaffen ist: Wo das Deutsche auf Präpositionen zurückgreift („aus Erivan“), setzt das Türkische Endungen oder Postpositionen ein. Die in der Präposition enthaltene Information, die im Deutschen vorangestellt wird, kommt im Türkischen hinter dem Ortsnamen. Die Information ist für den Dichter sicherlich interessant, aber gerade wo es um durch die Sprachstruktur bedingte Verschiebungen geht, wird er nichts anderes tun können, als jedes Mal die Präposition vor das Substantiv zu setzen. Es kann nicht erstaunen, dass bis hierher die Versionen von Henning Ziebritzki und Klaus Reichert übereinstimmen („aus erivan“). Eine so strikte Interlinearversion wäre hier wohl nicht nötig gewesen, /erivandan/ könnte man auch als /aus erivan/ wiedergeben, womit man sich bereits ein Stück weit von der Anforderung, durch die Interlinearversion einen Einblick in die Sprachstruktur zu gewinnen, entfernt hätte. Es kam also die Frage auf, ob man tatsächlich immer und überall eine derart strikte Strategie verfolgen müsste oder ob diese die Lesbarkeit und damit auch den Zugang zum Ausgangstext für die deutschen Dichter nicht eher erschweren denn erleichtern würde. Die Dichter sahen es unterschiedlich; die einen freuten sich über möglichst viele grammatische Informationen, die anderen hätten gern weniger gehabt. Einige allgemeine Informationen über die Sprache waren sicherlich für alle wichtig, so zum Beispiel das Fehlen von Artikeln, von geschlechtsspezifischen Personalpronomina, die Häufigkeit des impliziten Subjekts, das heißt die Markiertheit einer Subjektexplizierung und ähnliches – all das machen eine Ökonomie und Vagheit im Türkischen möglich, die die deutsche Sprache nicht erlaubt. Käme das Subjekt des obigen Satzes nicht aus Erivan, sondern von der oder dem Geliebten, hieße es: „sevgilimden“ (Geliebte(e) mit Possessiv- und Ablativendung). Dann müsste es im Deutschen heißen: „von meinem/meiner Geliebten“; ein Wort in drei Worten. Auch die Unentschiedenheit, was das Geschlecht angeht, kann im Deutschen nicht beibehalten werden; die Sprachstruktur erzwingt eine Entscheidung. Auf die Frage, ob sie sich bei der/dem Geliebten eher einen Mann oder eine Frau vorgestellt hatten, antworteten die türkischen Dichterinnen und Dichter nur ungern.
Betrachten wir die Verszeile noch einmal im Licht der ,strikten‘ Interlinearversion. Die Form /gelir/ enthält den Verbstamm /gel-/ /komm-/ und die (sogenannte) Aoristendung (auf deren hochkomplexe und variable, zur weiteren Vagheit beitragenden Funktionen wir hier nicht eingehen werden). Die scheinbar einfache interlineare Information über dieses Wort hängt von der Interpretation der ganzen Strophe ab. Wir möchten versuchen, dies näher zu erläutern. Die Verben in der dritten Person Singular werden mit einer Nullendung konjugiert: 

1. Person Singular: /gelirim/
2. Person Singular: /gelirsin/
3. Person Singular: /gelir/

Außerdem bildet das Fehlen eines expliziten Subjekts in der türkischen Syntax den Regelfall, das heißt die Entsprechung für „ich komme“ wäre etwa „gelirim“; das Subjekt wird lediglich zur Betonung explizit gemacht: „ben gelirim“ („ich komme“, kein anderer). Daraus folgt, dass als Subjekt hier die dritte Person angenommen werden kann. Eine Übersetzung in „er/sie kommt in Strömen aus Erivan“ wäre grammatisch gerechtfertigt. Dann müsste man die Interlinearübersetzung um diese Angabe ergänzen. Nun kann aber auch bei einem Pluralsubjekt die Endung auf dem Verb wegfallen, falls das Subjekt explizit gemacht wird. Auch diese Angabe wäre also durchaus relevant. Betrachtet man die Verszeile im Zusammenhang der Strophe, kommen weitere Möglichkeiten hinzu. Am Ende der dritten Verszeile steht das Wort „aufwachen“ („uyan-“) in der ersten Person Singular: 

erivandan gelir akın akın
ölü bir kedinin postuna bürünmüş
yanık kokularıyla uyanırım 

Bei einer Reihung mehrerer Verben übernimmt die Endung auf dem letztgenannten Verb die Konjugation für die vorigen Verben mit – eine weitere Sparmaßnahme des Türkischen. Das heißt, dass /gelir/ auch als Verb in der ersten Person Singular betrachtet werden kann, das die Endung auf „uyan-“ mitnutzt. Dann müsste man doch aber eine entsprechende Angabe aufnehmen. Welche dieser Informationen sollten in eine Interlinearversion? Wohl alle. Gerade die Vagheiten, Unentscheidbarkeiten sind wichtig, und um allein auf der Ebene der Sprachstruktur (die erst den Anfang des Textverständnisses bildet) die Beschaffenheit dieser Strophe zu verstehen, sind die Erklärungen nötig, die wir auf den letzten Seiten angeführt haben – die aber passen nicht zwischen die Verszeilen. Also mehrere Versionen erstellen? Viele Fußnoten setzen, erklären? Was bleibt dann noch von der ,Interlinearversion‘ übrig?

Henning Ziebritzki und Klaus Reichert haben die Strophe so übersetzt:

aus erivan kommend in strömen
von menschen in das fell einer katze
gewickelt im brandgeruch wache ich auf

(Henning Ziebritzki) 

aus erivan strömen in strömen
ins fell einer toten katze gehüllt
mit brandgeruch wach ich auf

(Klaus Reichert)

Henning Ziebritzki hat sich für die dritte Interpretation entschieden. In seinem Text besteht ein expliziter Bezug zum Ich in der dritten Verszeile, das heißt das Ich ist hier zum Subjekt der ganzen Strophe geworden. Durch die Disambiguierung wirkt der Text verständlicher und weniger verschlossen als İzzet Yasars Original. In Klaus Reicheres Version wird der Bezug offen gelassen. Die Verszeilen sind hier deutlicher voneinander getrennt als im Türkischen, wo sie wie ein einziger Satz gelesen werden können und der Rhythmus weniger staccato-artig ist; dafür wurde die Ökonomie und syntaktische Ambiguität gewahrt. Interessant ist an Reicherts Version auch die Anlehnung an die Reduplikation im Original (akın akın), die eine Eigenschaft des Türkischen in der Übersetzung ,durchscheinen‘ lässt. Was am Ende in den Übersetzungen der deutschen Dichter steht, kann nicht kausal erklärt werden, aber klar ist, dass für ein Verständnis des Ausgangstextes linguistische Informationen nicht genügen. Das Nachzeichnen der Spuren, die Erklärung der vielen kulturellen und intertextuellen Bezüge und Informationen über das implizite Wissen der türkischen Leser, das in den Texten mitschwingt – das waren die eigentlich ,wichtigen‘ und die Dichterinnen und Dichter inspirierenden Auskünfte. Selbstverständlich kamen in den Gesprächen auch viele Fragen zur Form und zur Prosodie auf. Auch dort gilt: Grapheme haben unterschiedliche Lautentsprechungen, Klang ist nicht Klang, und die Wirkung von Reimen und Alliterationen ist auch in Relation zum jeweiligen literarischen Feld zu betrachten. 

Poesie der Nachbarn an der Uni – die Uni in Edenkoben: ein Werkstattbericht
Zum ersten Mal waren es nicht ein oder zwei Philologinnen/Philologen oder philologisch versierte Übersetzerinnen oder Übersetzer, die die Arbeitsgrundlagen für die deutschen Nachdichtungen lieferten und während des Workshops für die Dichterinnen und Dichter dolmetschten. Die türkischen Gedichte wurden im Sommersemester 2012 in einer Übersetzungsübung unter unserer Leitung mit 10 Studierenden erarbeitet und übersetzt. Die Endversionen der Studierenden haben wir dann in einem zweiten Schritt nochmals bearbeitet. Dadurch entstand eine Vielstimmigkeit, die sich auch in der Begleitung der Gespräche zwischen den deutschen und türkischen Lyrikerinnen und Lyrikern während des Workshops fortsetzte: Nicht nur wir als Leiterinnen des studentischen Übersetzungsprojekts waren als Dolmetscherinnen tätig, auch die studentischen Übersetzerinnen waren vor Ort – zwei waren bereits im Vorfeld als Praktikantinnen an den Vorbereitungen beteiligt. Die Studierenden haben in den Diskussionen während des Workshops an ihren eigenen Fassungen weitergearbeitet. Die Vorlagen blieben die ganze Zeit über dynamisch und veränderbar. Es war eine ganz besondere Erfahrung für sie, mitzuerleben, wie aus den türkischen Texten und ihren eigenen, im Laufe der Übersetzungsübung immer wieder überarbeiteten ,Zwischenversionen‘ teilweise schon im Gespräch neue Gedichte auf Deutsch entstanden sind. Sie konnten mitwirken und beobachten, wie verschiedene deutsche Dichter das gleiche türkische Original in unterschiedliche deutsche Gedichte gossen.
Im Vorfeld empfanden die Studierenden die Arbeit an den Interlinearversionen tatsächlich zunächst als eine Art Paradox: Sie sollten ,nicht interpretieren‘, und zugleich sollten sie den deutschen Nachdichterinnen und Nachdichtern den Zugang zum türkischen Gedicht und zum Dichter ermöglichen.
Am Anfang der Übersetzungsübung haben wir zunächst das Experiment mit den multiplen deutschen Übersetzungsvorlagen für ein und dasselbe Gedicht durchgespielt: Wir fingen mit jeweils einem Gedicht von allen fünf Lyrikerinnen/Lyrikern an, die alle Studierenden übersetzt haben. Das war eine wichtige Phase in der Bestimmung von rudimentären gemeinsamen Übersetzungsstrategien. So gab es unter den studentischen Erstfassungen die ganze Bandbreite: Eine Studentin klammerte sich stets an die türkische Syntax und versuchte diese im Deutschen abzubilden. Eine andere wollte sich nicht entscheiden und versuchte, immer alle möglichen Bedeutungsvarianten für eine Bezeichnung oder einen Begriff in die Interlinearfassung hineinzuschreiben. Auch gab es Studentinnen, die sich der Disziplinierung einer textnahen Übersetzungsstrategie widersetzten und schon an halbfertigen Gedichten herumbastelten. Wie erstaunt waren sie darüber, dass es ihnen so viel leichter fiel, sich für eine der Übersetzungsmöglichkeiten zu entscheiden als das Original in seiner Mehrdeutigkeit zu belassen. Einzelne Verszeilen konnten auf drei, vier, fünf verschiedene Arten verstanden und übersetzt werden. Genau diese Auffächerung verlangten die deutschen Nachdichterinnen und Nachdichter in den Gesprächen dann oft.
Die Studierenden, die sonst in ihren Fachübersetzungsübungen dazu angehalten werden, sich für einen Terminus, für eine Ausdrucksweise zu entscheiden, sollten nun also die Vielschichtigkeit der Poesie in ihren Übersetzungen wiedergeben. Einige Studierende haben versucht, implizite oder auch explizite kulturelle oder politische Verweise in einer Vielzahl von weit ausholenden, enzyklopädischen Fußnoten zu bändigen. Es war interessant zu beobachten, dass diese Erklärungsbegeisterung teilweise zu einem Übererläuterungsdrang wurde. Wie viele Fußnoten und wie viele linguistische, kulturwissenschaftliche, historische, politische, soziale Erläuterungen verträgt eine solche Vorlage? Bekommt die deutschsprachige Nachdichterin über diese Paratexte einen umfassenderen Zugang zum Gedicht – oder ist weniger doch mehr? Diese Fragen begleiteten uns den ganzen Übersetzungsprozess über. Einige, immer auch dichter(paar) spezifische Antworten konnten wir eigentlich erst im Workshop erhalten.
Jede Studentin befasste sich mit jeder Dichterin, jedem Dichter, das heißt die Gedichte wurden unter den Studierenden entsprechend verteilt. Somit wurden verschiedene Zugänge zu den türkischen Gedichten eröffnet; das verstärkte die Vielstimmigkeit der Übersetzungsgrundlagen. Zunächst haben sich die Studierenden mit den Biographien und Texten der türkischsprachigen Dichterinnen und Dichter auseinandergesetzt und in Teams Kurzbiographien auf Deutsch verfasst. Bei der Übersetzung der Gedichte, die ihnen zugewiesen wurden, haben sie oft in Tandems gearbeitet. Es hat meist eine deutschlandtürkische/deutsche Studentin mit einer türkeitürkischen Studentin recherchiert und übersetzt. Ihre Versionen wurden dann in der Gruppe besprochen. Jede hat anschließend ihre Version noch einmal überarbeitet. Für diese ,Versionen‘ haben wir bei der Arbeit mit den Studierenden meist die Bezeichnung ,Übersetzungsvorlage‘ verwendet: unfertige Prosaversionen, die eine Station auf dem Weg zum deutschen Gedicht sein sollten.
Während der vier intensiven Workshoptage standen dann Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit in der Zusammenarbeit zwischen den Dichterinnen und Dichtern der Nachbarländer und ihren Dolmetscherinnen im Mittelpunkt. Die türkischsprachigen Lyrikerinnen und Lyriker nahmen teilweise selbst detaillierte Erläuterungen vor und hatten Freude daran, von ihren Texten zu erzählen, so war es bei Azad Ziya Eren. Andere wie İzzet Yasar oder Nevzat Çelik haben eher auf Fragen gewartet und gezielt darauf geantwortet. Elif Sofya war der Hintergrund ihrer Gedichte und das Verständnis über ihre Position in der neuen türkischen Lyrik wichtig. Dafür war sie gern bereit, lange Erklärungen zu geben. Gonca Özmen interessierte sich sehr für die sprachlichen Potentiale des Deutschen im Vergleich zum Türkischen. Auch unter den deutschen Dichterinnen und Dichtern gab es ganz unterschiedliche Herangehensweisen. Mit Klaus Reichert zum Beispiel begab man sich auf eine lange Reise in die Tiefendimensionen der Sprache und in die Sprachgeschichte. Mit archäologischer Akribie wurde an den etymologischen und kulturwissenschaftlichen Wurzeln gearbeitet. Henning Ziebritzki wollte immer zunächst das Szenario eines Gedichts nachzeichnen; die Dolmetscherinnen mussten sich auf kriminalistische Fragen gefasst machen. Sabine Küchler stellte knappe, eher sachliche Fragen, um sich länger mit der Gestaltung ihrer Version zu beschäftigen. Sie kam mit gezielten Fragen auf die Dichterinnen und Dichter zu. Silke Scheuermann ließ lieber den Text als die Autoren auf sich wirken, sie führte eher kurze Gespräche. Die Art, wie sich die deutschen Dichterinnen und Dichter mit den türkischen Gästen und den Dolmetscherinnen unterhielten und ihr jeweils unterschiedlicher Weg des Interpretierens kann in den Übersetzungen nachgezeichnet werden.
Während des Workshops war es sowohl für die deutschen als auch für die türkischsprachigen Lyrikerinnen und Lyriker eine Erleichterung, dass sie bei den Dolmetscherinnen nicht Schlange stehen mussten. Durch die Anwesenheit von übersetzenden und dolmetschenden Studierenden und ihren zwei Dozentinnen entstand eine dynamische Atmosphäre. Es fanden gleichzeitig viele Gespräche statt, und es konnte an vorige Gespräche angeschlossen werden. Einige Fragen kamen den deutschen Dichterinnen und Dichtern erst am nächsten Tag in den Sinn; da war es sinnvoll, wieder mit derselben Dolmetscherin zu arbeiten. Manch eine Konversation ging über das vorliegende Gedicht hinaus: Ein genuiner Austausch von Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen konnte stattfinden. Wenn Joachim Sartorius über seine Reisen in der Türkei erzählte, wurden im Gespräch mit İzzet Yasar oder Nevzat Çelik auch die Politik des Landes, die gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahren angesprochen. Wenn Klaus Reichert über Textstellen alttestamentarische Bezüge herstellte und sein Wissen der Antike und der englischsprachigen Literatur heranzog, ging es nicht mehr um die einseitige ,Befragung‘ des türkischen Dichters. Auch für die Originaltextautoren bekamen ihre Texte neue Dimensionen.
Oft wurden die ersten Versionen der deutschen Nachdichtungen schon im vermittelten Gespräch, in der Unmittelbarkeit der Begegnung fertig gestellt. Es kam auch vor, dass ein deutscher Dichter oder eine deutsche Dichterin zu der spontan redigierten oder aus dem Stegreif durch die Dolmetscherin ganz neu erstellten Übersetzung einer oder mehrerer Zeilen nichts mehr hinzuzufügen hatte. Die Praxis dieses Workshops zeigte deutlich: Die Nachdichtungen trugen immer auch die Spuren der Übersetzungsvorlagen und der Gespräche, die zu den Nachdichtungen geführt hatten. Aus der Perspektive des Dolmetschens betrachtet, war das kein literarisches Dolmetschen, wie es im Literaturbetrieb bei Lesungen oder Podiumsdiskussionen üblich ist. Die Dolmetscherin hat mitgearbeitet und war aktiv an dem Schaffensprozess beteiligt.
Für die türkischsprachigen Lyrikerinnen und Lyriker war dieser rege Austausch so aufregend, dass einige von ihnen sofort auch Übersetzungen von Gedichten der deutschen Dichterinnen und Dichter ins Türkische anfertigen wollten. Elif Sofya arbeitete an Texten von Sabine Küchler. Gonca Özmen, Nevzat Çelik, Elif Sofya und İzzet Yasar erstellten jeweils eigene Versionen eines Gedichts von Hans Thill. Azad Ziya Eren beschäftigte sich längere Zeit mit einem Gedicht von Silke Scheuermann und zeigte uns bald seine ihm sehr eigene türkische Version. Das Bedürfnis der türkischen Dichterinnen und Dichter, im Gegenzug auch die Texte der deutschen Kolleginnen und Kollegen in die eigene Sprache zu übersetzen, zeugt davon, dass die Gäste sich in Edenkoben wohlgefühlt haben und dass sie die Projektidee, die hinter Poesie der Nachbarn steckt, mit Begeisterung aufnahmen. Das Übersetzen ist im Idealfall eine Gabe und eine Geste der Gastfreundschaft. In Edenkoben ist diese Geste gelungen. 

Wie schön wäre es, in Diyarbakır oder in İstanbul wieder zusammenzukommen! 

Şebnem Bahadır, Dilek Dizdar, Nachwort

 

 

Über dieses Buch

„fang gar nicht erst an mit diesem gedicht“ (Izzet Yasar), könnte so manche Zeile von Dichtern in der Türkei lauten. Seit Jahrzehnten, mit zunehmender Kritik an der jungen türkischen Republik, auch und gerade in der Poesie, sehen sich die türkischen Autoren mit staatlichen Anfechtungen und Zensur konfrontiert. Entsprechend ist der Stellenwert der Poesie in der türkischen Gesellschaft, sehr gut sichtbar an dem Verlauf der aktuellen Proteste um den Gezi-Park, mit ihren durchaus poetischen Aktionsformen. Somit ist der Band mit dem sprechenden Titel ein Querschnitt durch die zeitgenössische Lyrik der Türkei, präsentiert von den Hochschullehrerinnen Dilek Dizdar und Sebnem Bahadır, übersetzt von einer Riege prominenter deutscher Dichter. Der deutsche Leser kann nun Freundschaft schließen mit Gedichten des streitbaren Nevzat Çelik, der 7 Jahre als politischer Gefangener inhaftiert war, von Elif Sofya und Gonca Özmen, als Dichterinnen ebenso engagiert wie dieser, von Azad Ziya Eren und Izzet Yasar, die in ihrer Poesie das Imaginäre herausfordern. Die zeitgenössische Lyrik der Türkei hat große Dichtung zu bieten, es wird Zeit, dass man sie endlich zur Kenntnis nimmt. Das Nachwort berichtet über den Verlauf der Übersetzerwerkstatt und wagt eine translationstheoretische Einordnung.

Nevzat Çelik, Azad Ziya Eren, Gonca Özmen, Elif Sofya und Izzet Yasar, übersetzt von Sabine Küchler, Klaus Reichert, Joachim Sartorius, Silke Scheuermann und Henning Ziebritzki nach Interlinearversionen von Sebnem Bahadir und Dilek Dizdar.

Verlag Das Wunderhorn, Ankündigung

 

Beitrag zu diesem Buch:

Gerrit Wustmann: „fang gar nicht erst an mit diesem gedicht…“
fixpoetry.com, 15.12.2013

 

Informationsseite für Poesie der Nachbarn

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Hans Thill

 

Hans Thill zum Internationalen Lyrikertreffen Münster 2021 mit seinem Statement „Pathos“.

 

Hans Thill liest sein Gedicht „Kühle Religionen“.

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