– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Enigma“ aus Ingeborg Bachmann: Werke. Band I: Gedichte. –
INGEBORG BACHMANN
Enigma
Für Hans Werner Henze aus der Zeit der ARIOSI
Nichts mehr wird kommen.
Frühling wird nicht mehr werden.
Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.
Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen
wie „sommerlich“ hat –
es wird nichts mehr kommen.
Du sollst ja nicht weinen,
sagt eine Musik.
Sonst
sagt
niemand
etwas.
Ein Traumpaar. Zwei Königskinder der Kunst. Inge und Hans. Wie von Thomas Mann erdacht. Jedoch zwei Königskinder ganz eigener Art, denn sie konnten sehr wohl zueinander kommen. Allerdings nicht als Liebende oder gar als Ehepaar. Aber als Komponist und Librettistin, Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann waren in Freundschaft verbunden und in der Intimität gemeinsamer Produktivität. Es entstanden unter anderem Texte für ein Ballett sowie die Opern Der Prinz von Homburg (1958/1959) und Der junge Lord (1964). Letztere erlebte nach der Premiere im Jahr 1965 mehr als sechzig Aufführungen an der Deutschen Oper Berlin. Heute knallen schon die Korken, wenn eine neue Oper auch nur sechsmal wiederholt wird. Doch jedes Fest geht einmal zu Ende. Auch das der gemeinsamen künstlerischen Arbeit. Nach dem so erfolgreichen Jungen Lord begann Ende der sechziger Jahre die zunehmende persönliche Entfremdung und damit die Arbeit des Sich-voneinander-Entfernens, wenn wir es einmal so nennen wollen. Denn auch die will getan und geleistet sein und ist anstrengend genug.
Ingeborg Bachmann widmete ihr 1966 oder 1967 entstandenes und zuerst 1968 in Enzensbergers Kursbuch publiziertes Gedicht „Hans Werner Henze aus der Zeit der ARIOSI“. Das ist die Zeit um 1963/1964, in der Henze seine „Ariosi für Sopran, Violine und Orchester“ komponierte und in der Bachmann am Jungen Lord arbeitete. In Bachmanns Gedicht wird sie zur Jetztzeit. Der Pessimismus und die Traurigkeit des Gedichts, das seine Hauptbotschaft gleich in der ersten Zeile verrät, scheinen unmittelbar gegenwärtig:
Nichts mehr wird kommen.
Eine biographische Lesart könnte den Text auf Bachmanns Trennung von Max Frisch im Herbst 1962 beziehen, die ein gravierender Einschnitt im Leben der Autorin war. Oder aber auch darauf, dass sie schon ahnte, dass es nach dem Jungen Lord keine weitere Zusammenarbeit mit Henze mehr geben würde. Ein vorweggenommener Abschiedsschmerz. Beide Lesarten hätten etwas für sich, und das Rätsel, das der Titel uns verspricht, wäre keines. Denn nichts ist verständlicher als die Erfahrung, dass die Trennung von einem geliebten Menschen uns vorkommen kann wie das Ende von allem. Kein Frühling mehr. Kein Sommer. Alles zu Tode erstarrt. Nur die Musik vermag noch zu sprechen:
Du sollst ja nicht weinen.
Aber ob das ein Trost ist, bleibt ungewiss.
Doch so leicht dürfen wir es uns mit der Lektüre des Gedichts nicht machen. Ingeborg Bachmann, nicht nur eine Leidende, sondern auch eine Wissende, eine poetria docta, hat ihr Gedicht mit einer Anmerkung versehen, die wie ein Arbeitsauftrag für musikwissenschaftlich gebildete Philologen daherkommt: „Dieses Gedicht ist eine Collage“, heißt es dort. Und:
Enigma zitiert, in der ersten Zeile, die Peter-Altenberg-Lieder von Alban Berg, in der vorletzten Strophe den Kinderchor aus der Zweiten Symphonie von Gustav Mahler.
Wo eben noch ein uns unmittelbar berührendes Gedicht war, eröffnet sich uns nun gleichsam ein Forschungsprojekt. Sonst sagt niemand etwas? Es ist durchaus möglich, über „Enigma“ eine längere Antrittsvorlesung zu halten. Oder einen zwanzigseitigen Aufsatz zu schreiben. Das müssen wir uns an dieser Stelle leider versagen. Kein Wort also über Alban Berg. Keines über Peter Altenberg und sein „Nichts wird kommen für meine Seele“. Nichts über Mahlers 2. Symphonie. Nichts auch über drei weitere mit „Enigma“ betitelte Gedichte Bachmanns, wovon eines mit „Am Nil in der Nacht“ beginnt. Und schon gar nichts darüber, dass es in der 2. Symphonie von Mahler das genannte Zitat gar nicht gibt. Und einen Kinderchor auch nicht. Wohl aber im 5. Satz der 3. Symphonie. Wir schweigen und machen der Stille Platz.
Hans-Ulrich Treichel, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013
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