– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „An Heinrich von Kleists wintereinsamem Waldgrab in Wannsee“ aus Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke Band 3: Jugendgedichte. –
RAINER MARIA RILKE
An Heinrich von Kleists wintereinsamem Waldgrab in Wannsee
Wir sind keiner klarer oder blinder,
wir sind Alle Suchende, du weißt, –
und so wurdest du vielleicht der Finder,
ungeduldiger und dunkler Kleist.
Eng und ängstlich waren dir die Tage,
bis dein Weh den letzten wild zerriß –
und wir Alle klagten deine Klage,
und wir fühlten deine Finsternis.
Und wir standen oft an tiefen Teichen,
denen schon das Nachten nahe war,
und wir nahmen Abschied von den Eichen,
und wir kamen unsern Bräuten reichen
letzte Rosen aus dem letzten Jahr.
Aber zagend an dem Rand der Zeit
lernten wir die leisen Laute lieben,
und wir sind im Leben lauschen blieben
still und tief und wund von jungen Trieben –
und
da wurden uns die Wurzeln breit.
Im Jahr 1897 siedelte Rainer Maria Rilke von München nach Berlin über und besuchte dort regelmäßig Kleists Grab, das zu Fontanes Zeiten einmal eine Pilgerstätte gewesen war, nun aber vergessen und vernachlässigt schien: „Ich ging als junger Mensch immer gern an sein Grab“, erinnert sich Rilke im Jahr 1913 in einem Brief an Maria von Thurn und Taxis, „damals wars noch eine Wildnis herum obwohl die Bahn nahe vorübergeht, ein Kranz von der Sorma war dort, aber das Gitter rostete in Vergessenheit…“
Das war zu einer Zeit, als Rilke mit dem Werk Kleists noch nicht allzu vertraut war. Wohl aber kannte er das Schicksal des Dichters und die Umstände von Kleists Tod, der im November 1811 zuerst die drei Jahre jüngere, verheiratete und an Krebs erkrankte Henriette Vogel mit einem Schuß ins Herz und dann sich selbst durch einen Schuß in den Mund tötete.
Der Tod des lebensmüden Paares gehört zu den traurigsten Episoden der deutschen Literaturgeschichte, und wer heute Kleists Grab unweit des Kleinen Wannsees besucht der wird der Untröstlichkeit des Geschehens noch immer gewahr, auch wenn das – erst viele Jahre nach Kleists Tod – auf dem Grabstein angebrachte Prinz Friedrich von Homburg-Zitat „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!“ diese zu mildern sucht.
Rilkes am 14. Januar 1898 in Berlin-Wilmersdorf entstandenes Gedicht, das er in keine seiner Sammlungen aufgenommen hat, deutet Kleists Selbstmord nicht als katastrophische Tat eines Verwirrten oder gar psychisch Zerrütteten, sondern als Konsequenz einer menschlichen Verzweiflung, die uns alle heimsuchen kann, denn „wir sind Alle Suchende“. Doch im Unterschied zu Kleist schießen wir uns keine Kugel in den Kopf. Wir halten vielmehr aus, wenn auch „zagend an dem Rand der Zeit“, und wenden uns der Welt und vor allem ihren „leisen Lauten“ zu.
Wenn es etwas an Rilkes Gedicht zu rätseln gibt, dann sind es nicht die „tiefen Teiche“ oder „letzten Rosen“ – dort haben wir auch schon gestanden und letztere auch schon verschenkt. Rätselhaft bleibt vor allem die Aussage, daß er Kleist, der mutmaßlich nur als zum Sterben Entschlossener so etwas wie einen Moment an Lebensheiterkeit gefunden hatte, einen „Finder“ nennt. Hier ließe sich Rilke mit einem gewissen Recht vorwerfen, daß er von Kleists Tod fasziniert gewesen sei, und Rilke hat sich im oben zitierten Brief an Marie von Thurn und Taxis auch selbst in diesem Sinne geäußert:
Gott, ich kannte wenig von ihm und meinte seinen Tod, den seltsamen, weil ich nur das Seltsame verstand, jetzt aber meine ich sein Leben, weil ich langsam anfange vom Schönen einen Begriff zu haben und vom Grossen, so daß mich der Tod bald nichts mehr angeht…
Zwar ist diese Äußerung nicht so präzise, wie wir sie uns vielleicht wünschten. Aber sie weist deutlich genug darauf hin, was Rilke in seinem Gedicht als Rettung vor Verzweiflung betrachtet: daß wir weder dem Leben entsagen noch uns dem Lärm der Welt überlassen sollen, sondern „im Leben lauschen“ bleiben.
Rilke wäre nicht der erste Künstler, der den Anfechtungen des Lebens und den eigenen Daseinsnöten zu widerstehen sucht, indem er das Leben belauscht, statt in es einzugreifen. Diese Form des kontemplativen oder auch ästhetischen Daseins mag keine Erlösung sein und auch nicht zum großen Lebensglück führen. Aber es war nicht zuletzt der Weg Rilkes selbst, um im Dasein Wurzeln zu schlagen und nicht wie Kleist „von den Stößen desselben Sturms, der sein Leben war“, so Rilke in einem Brief an Sidonie Nádherný, erdrückt oder entwurzelt zu werden.
Hans-Ulrich Treichel, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010
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