– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Einfaches Bild“ aus Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. –
ROLF DIETER BRINKMANN
Einfaches Bild
Ein Mädchen
in
schwarzen
Strümpfen
schön, wie
sie herankommt
ohne Laufmaschen.
Ihr Schatten
auf
der Straße
ihr Schatten
an
der Mauer.
Schön, wie
sie
fortgeht
in schwarzen
Strümpfen
ohne
Laufmaschen
bis unter
den Rock.
Am 6. Januar 1960 schrieb der damals zwanzigjährige Rolf Dieter Brinkmann an Hans Bender, der zusammen mit Walter Höllerer die Literaturzeitschrift Akzente herausgab, im Begleitbrief zu einigen Gedichten, die Brinkmann der Zeitschrift anbot:
Für mich gilt die Zeit nichts, das heißt der folgerichtige Ablauf von Ursache zur Wirkung (…) – hingegen der Augenblick alles.
Damit hatte Brinkmann ein wesentliches Moment seiner fotografischen Poetik formuliert, die für den Lyriker in Zukunft so wichtig werden sollte.
Auch Brinkmanns „Einfaches Bild“ von 1967 ließe sich als Fixierung von Augenblickswahrnehmungen, als Folge von Standfotos lesen: Ein Mädchen kommt heran, wirft einen Schatten, geht fort. Das ist schlicht – und hoffentlich auch ergreifend. Mich zumindest hat dieses einfache Gedicht sofort berührt, als ich es vor mehr als dreißig Jahren zum ersten Mal gelesen hatte. Wobei, ich gestehe es, die schwarzen Strümpfe und die von ihnen verhüllten Beine ihr übriges dazu beigetragen haben mögen, einen jungen Germanistikstudenten von der Evidenz des Augenblicks zu überzeugen.
Wie oft hatte ich nicht selbst eine junge Frau herankommen, einen Schatten werfen und wieder verschwinden sehen. Ich freilich hätte darüber melancholisch oder gar verzweifelt werden und komplette Romane schreiben können. Brinkmann dagegen, und das konnte ich nur bewundern, reagierte weitgehend kühl und mit poetischer Konzentration und Sachlichkeit.
Allerdings nutzt auch Brinkmann bei aller deskriptiven Zurückhaltung das Bild des Mädchens nicht ausschließlich für die lyrische Demonstration eines poetologischen Grundsatzes. Auch sein Blick ist nicht frei vom begehrlichen Männerblick, denn er folgt den Strümpfen „bis unter den Rock“, ohne jedoch indiskret zu sein. Zumal er das Bild des Mädchens vollkommen intakt halten möchte. Gleich zweimal betont er die Tatsache, daß das Mädchen „ohne Laufmaschen“ daherkommt und daß dies für ihn zu der Schönheit des Augenblicks offensichtlich dazugehört.
Wobei man natürlich fragen könnte, ob denn so eine Laufmasche nicht auch ihren eigenen erotischen Reiz hat. Oder erst recht. Aber um diesen Reiz geht es Brinkmann nicht. Sondern eher um den glücklichen Moment, in dem wir schauen und nicht begehren. Einen Zustand der höheren Weisheit könnte man das nennen. Ein Zustand, von dem alle Getriebenen träumen. Erreichen tun ihn nur die Heiligen – oder aber die Dichter in einem Gedicht wie „Einfaches Bild“.
Bei Brinkmann ließe sich in diesem Zusammenhang noch ein zweites Gedicht nennen. Es heißt „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar“ und stammt aus dem Jahr 1975. Hier gibt es kein Mädchen mehr, sondern nur noch eine „frisch gewaschene schwarze Strumpfhose“, die auf einem Wäschedraht hängt und aus deren „verwickelten langen Beinen“ das Wasser tropft. Wer will, kann beide Gedichte zu einer Geschichte verbinden, auch wenn das ein wenig fahrlässig und gewiß nicht im Sinne des Dichters wäre. Er will schließlich keine Zeit, keine Ursache, keine Wirkung und damit keine Handlung. Er will den reinen Augenblick, der denn auch zum Still-Leben gefriert: zur Nature morte in ihrem schönsten, vergänglichsten und gelegentlich auch vielversprechendsten Moment.
Hans-Ulrich Treichel, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007
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