BIOGRAPHISCHES
Wenn man von zeitgenössischer deutscher Lyrik spricht, muß man über die Lyrik Sarah Kirschs sprechen, und das erste Problem, vor das man sich gestellt sieht, ist die Tatsache, daß sie sich nicht einfach in ein Schubfach wie ,DDR-Literatur‘ oder ,Neue Innerlichkeit‘ u.ä. stecken läßt. Mit Etiketten kommt man ihr nicht bei, auch wenn man damit das Besondere ihrer Lyrik betonen will und diese halb spöttisch, halb bewundernd mit dem Wort ,Sarah-Sound‘ belegt, wie dies Peter Hacks getan hat. Sie gehört zu einer Gruppe von DDR-Autoren, die in die Bundesrepublik gekommen sind. Und selbst um dies auszudrücken, muß man in der Wahl der Worte schon vorsichtig, um nicht zu sagen: betont ungenau sein, um sie nicht auf etwas festzulegen, was sie entweder nicht ist oder nicht sein will, eine Unterscheidung, die die Mehrdeutigkeit ihrer Gedichte widerspiegelt. Eins ist aber in all diesen implizierten Negationen deutlich: vereinnahmen, festlegen auf etwas, was sie nicht ist oder sein will, läßt sich Sarah Kirsch nicht. Sie ist keine begeisterte Anhängerin der Frauenbewegung. In ihrer Person und in ihrem Werk ist sie unverwechselbar sie selbst, kein Abklatsch literarischer Richtungen und Programme, kein Instrument politischer Direktiven; eine sensible, komplizierte, auf Verwirklichung und Aussprache ihrer selbst und ihrer Gedanken gerichtete Person.
Ihr Name war nicht Sarah, sondern Ingrid, Ingrid Bernstein, und als solche wurde sie am 16. April 1935 in Limlingerode im Südharz, im Pfarrhaus ihres Großvaters, geboren. Sie wuchs in Halberstadt auf, wohin ihre Eltern ein Jahr nach ihrer Geburt umgezogen waren. Ihr Vater war von Beruf Fernmeldemechaniker; außerdem war er Vegetarier und Antialkoholiker und orientierte sich an anthroposophischer Literatur. Den Namen Sarah hatte sie aus Protest angenommen gegen die Verfolgung und Massenvernichtung der Juden während des Dritten Reiches und gleichzeitig als Protest gegen den Antisemitismus des erst vor wenigen Jahren 78jährig verstorbenen Vaters, der das Radio abstellte, wenn etwas von Kaiman gespielt wurde – denn Kaiman war Jude. Dabei war es im Dritten Reich schwer für den Vater gewesen, den Ariernachweis zu erbringen. „Aber es ist ihm gelungen“, sagte Kirsch in einem Interview, „obwohl ja Bernstein auf Jüdisches hindeutet und, wie ich später aus den Familienpapieren entnahm, so mancher David dabeigewesen ist.“ Während des Krieges hatte ihr Vater, wie viele Deutsche, auf einer Landkarte mit bunten Nadeln die deutschen Frontlinien abgesteckt.
Genauso gläubig hörte er dann nach 1945 die Nachrichten. Wenn Karl-Eduard von Schnitzler sprach, mußten wir alle schweigen. Er hatte nie den leisesten Zweifel an dem Staat, in dem er lebte. Wenn ein Westsender im Rundfunk war, schimpfte er.
Die Mutter nahm die junge Ingrid auf langen Spaziergängen durch die Wälder mit. Sie kannte überaus viele Pflanzen, jedes Blümchen am Wege mit Namen, wie man es jetzt auch noch bei der Tochter in ihren Texten wiederfindet. Ein drei Jahre jüngerer Bruder starb im Alter von drei Jahren an Diphtherie.
Ihre Kindheit verbrachte Ingrid Bernstein in einem großen Fachwerkhaus an der Stadtmauer von Halberstadt, das dem Großvater mütterlicherseits, einem Schlossermeister, gehörte. Heute ist das Haus zwar abgerissen, aber die Dichterin erinnert sich noch so genau an alles, daß sie in Gedanken darin spazierengehen kann. In der Bibliothek des Großvaters begegnete sie zuerst der deutschen Literatur, vor allem dem Werk Adalbert Stifters mit seiner Andacht zum Kleinen, der Ehrfurcht vor der Natur.
Diese Eindrücke waren immerhin so mächtig, daß Sarah Kirsch nach dem Abitur zunächst eine Forstarbeiterlehre begann, die Voraussetzung für ein Studium der Forstwirtschaft war. Doch schnell kam die Desillusionierung, ging es dabei doch nicht um eine liebevolle Beschäftigung mit dem Walde, sondern um Raummeterberechnung und Sägen:
Es war nicht das, was ich gedacht hatte. Es war nicht der Wald, den ich liebte.
So brach sie die Lehre ab und begann in Halle Biologie zu studieren, belegte Präparierkurse und war mit Fischerbooten und großen Schleppnetzen unterwegs, beringte Enten und studierte das große Milbenbuch des Grafen Vitzthum auf holländisch. Zwischendurch arbeitete sie in einer Zuckerfabrik, dann in der Heimerziehung und in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Ihr Studium schloß sie 1959 mit dem Diplom ab. Für die Diplomarbeit stellte sie ein Jahr lang um Halle herum zum Mäusefang Fallen auf, denn die Arbeit hieß: „Über Ektoparasiten bei Muriden in und in der Umgebung von Halle“ – auf gut deutsch: über Läuse, Flöhe und Milben bei Mäusen.
Aber schon vor Abschluß des Studiums wußte Sarah Kirsch, daß sie den Beruf einer Biologin, in dem sie zunächst arbeitete, nicht für immer ausüben wollte. Ein Jahr vorher, 1958, hatte sie nämlich den 24jährigen Studenten der Geschichte und Philosophie Rainer Kirsch kennengelernt, der Gedichte schrieb und seine Faszination für Literatur auf sie übertrug. Jetzt hatte die angehende Biologin gefunden, was sie immer gesucht hatte. Rainer Kirch war damals gerade aus der Partei ausgeschlossen und von der Universität relegiert worden, da er ein Anhänger des später (1961) in die Bundesrepublik gegangenen Philosophen Ernst Bloch war und eigenwillige, nichtkonforme Gedichte geschrieben hatte.
Er mußte sich in der Produktion bewähren, arbeitete in Halle in einer Druckerei, wo er mit einem Fußhebel Löcher in Schulblocks zu stampfen hatte.
Die beiden heirateten und wohnten in einer Dachkammer. Aber auch Sarah wurde jetzt aktiv in die Literatur hineingezogen: Sie und ihr Mann verkehrten in einem Zirkel junger Autoren in Halle. „Die Mitgliedschaft bedeutete so eine Art Kandidatur für den Schriftstellerverband; nach fünf Jahren konnte man aufgenommen werden, wenn man bis dahin eine Veröffentlichung vorgelegt hatte – aber darum ging es eigentlich gar nicht. Jeden Monat tagte diese junge Arbeitsgemeinschaft zwei Tage lang, und ihr Leiter war damals Gerhard Wolf [der Mann Christa Wolfs], ein kluger, kritischer Mentor. Ich habe einfach so, aus freiem Impetus, zu schreiben angefangen, ich hatte bis dahin sehr wenig Gedichte gelesen, eigentlich nur solche, die auch mal in Zeitungen veröffentlicht werden. Diese meine Naivität war eigentlich mein Glück, denn ich meinte, das muß ja ganz leicht sein, das könnte ich viel besser! Erst viel später bekam ich ein Auge für die sogenannte große Literatur und für die Gedichte anderer. Kurz, wenn ich von Anfang an zum Beispiel Germanistik studiert hätte, wäre ich vielleicht zu sehr vorbelastet gewesen und hätte es wohl nicht mehr so hingekriegt. Gerhard Wolf hat uns von den großen philosophischen Themen ferngehalten und uns beigebracht, über die Sachen zu schreiben, die uns umgeben, die wir wirklich kennen. Das war der sogenannte ,kleine Gegenstand‘, wie das dann bald unter Germanisten hieß. Und wir machten Gedichte über die kleinen Gegenstände, über ein Frühstück oder über das Aufwachen, über den Marktplatz von Halle und dergleichen.“ Mit der Aufnahme in den Schriftstellerverband ergab sich auch die Möglichkeit zu größeren Stipendien und zur Weiterbildung. Auf diese Weise konnte Sarah Kirsch von 1963 bis 1965 das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig besuchen und fast eine Art Literaturstudium nachholen. Es gab dort „Vorlesungen in Weltliteratur, in sowjetischer Literatur und Philosophie usw. Es gab eine sehr gute Bibliothek, wo man auch Camus und viele andere lesen konnte, was in der DDR damals nicht so einfach war. Vor allem gab es das Lyrik-Seminar von Georg Maurer: ein im Ausland leider unterschätzter Dichter, der uns sehr viel bedeutet hat. Er brachte es fertig, in uns über die Auseinandersetzung mit der Lyrikproduktion dieses oder früherer Jahrhunderte ein rechtes Gefühl für die eigenen Arbeiten zu entwickeln – etwa an der Sprachkunst eines Brockes oder der Droste-Hülshoff die eigenen Naturgedichte, die wir gerade fertig hatten, zu überprüfen.“
Es war die Zeit des Bemühens um eine Integration von Arbeitswelt und Literatur, die mit dem Begriff ,Bitterfelder Weg‘ verknüpft ist. Schriftsteller sollten in die Betriebe hineingehen, um sich mit der Produktion vertraut zu machen und anschließend auch darüber zu schreiben. Auch Sarah Kirsch wurde einmal in eine LPG, also einen landwirtschaftlichen Betrieb, geschickt, ein andermal in einen industriellen Großbetrieb. Obwohl sie im Anschluß daran selbst nicht über die Welt der Arbeit und Produktion geschrieben hat, ist diese dann, wenn auch nur am Rande, in einigen Erzählungen des Bandes Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See (1973) und indirekt in dem Band Die Pantherfrau (1973) in der Lebenserzählung einer Arbeiterin in Erscheinung getreten.
Durch das Studium am Literaturinstitut kamen Sarah und Rainer Kirsch mit einer Reihe anderer junger Autoren in Kontakt. Bernd Jentzsch und Volker Braun, die in Jena und Leipzig studierten, lernten ebenfalls von Georg Maurer. Eine ganze Gruppe von jungen Lyrikern war miteinander befreundet, die alle zu den um 1934/35 Geborenen gehörten, außer den Genannten Karl Mickel, Richard Leising und Heinz Czechowski. Es entwickelte sich eine Teamwork-Atmosphäre, die wohl für damalige DDR-Schriftsteller charakteristisch ist. Man kannte sich gut, lebte zum Teil zusammen, besuchte sich, legte einander seine Arbeiten vor und diskutierte und kritisierte sie. Die Freundschaften, die damals geschlossen wurden, hielten zum großen Teil auch an, als ein Teil der Gruppe später im Westen lebte.
Die Lyrikbewegung, die am Anfang der sechziger Jahre aufkam und der Sarah Kirsch angehörte, ging ihrer eigenen Aussage nach auf das Vorbild von Lyrik-Lesungen in Moskau zurück, mit der dort von Dichtern gepflegten Tradition, vor dem Puschkin- oder Majakowski-Denkmal ihre Gedichte zu lesen, eine Praxis, die in der DDR nachgeahmt werden sollte. So forderte Stephan Hermlin im Sonntag alle jungen Leute, die Gedichte schrieben, zur Einsendung auf. Dann ließ er die besten Texte von den jungen Dichtern an einem Abend in der Akademie der Künste einem großen Publikum vortragen. Volker Braun und Karl Mickel lasen vor, Sarah und Rainer Kirsch; Wolf Biermann sang hier seine Lieder zum erstenmal, und es gab viele ähnliche Veranstaltungen, bis diese von der FDJ übernommen und zensiert wurden.
Seit 1960 trug Sarah Kirsch Gedichte vor und veröffentlichte sie unter dem Vornamen-Pseudonym Sarah. Ihr erstes Gedicht erschien im SED-Zentralorgan Neues Deutschland. Nach Abschluß ihres Studiums in Leipzig und einjähriger Arbeit als Diplombiologin war sie freie Schriftstellerin, ein Beruf, der sich in der DDR wegen größerer staatlicher Förderung in Form von Stipendien relativ leichter wagen läßt als in der Bundesrepublik. Ihre erste Lyriksammlung erschien 1965, geschrieben zusammen mit Rainer Kirsch, unter dem Titel Gespräch mit dem Saurier. 1967 kam ihr zweiter, nun selbständiger Lyrikband Landaufenthalt heraus, und schon geriet sie ins Kreuzfeuer der offiziellen Kulturpolitik. Auf dem VI. Schriftstellerkongreß 1969 in Ost-Berlin wurde sie wegen ihres Gedichts „Schwarze Bohnen“ scharf angegriffen. Bezeichnenderweise wurde dasselbe Gedicht auf dem nächsten Schriftstellerkongreß vier Jahre später nochmals verlesen, diesmal als Beispiel für die Vielfalt der DDR-Lyrik. Inzwischen (4. Tagung des Zentralkomitees der SED 1971) hatte Erich Honecker den Schriftstellern größeren Freiraum bei der inhaltlichen und formalen Gestaltung ihrer Werke zugesichert, solange sie „von den festen Positionen des Sozialismus“ ausgingen. Auf dem nächsten Schriftstellerkongreß im gleichen Jahr 1971 trat Franz Fühmann als der Verteidiger Sarah Kirschs auf und sagte:
Was soll es, wenn einer der bedeutendsten Lyrikbände deutscher Sprache der letzten Jahre […] damit abgetan wird, daß man diesem zauberhaften Buch Schwermütigkeit vorwirft und durch diese Denunziation bereits die Kritik geleistet glaubt? In einer Welt, die auf meinen Schmerz nur mit Heiterkeit antwortet, kann dieser Schmerz zur Verdüsterung wachsen, und wenn man mir dann noch einzureden versucht, daß mein Leid gar nicht existiere oder eine ideologische Fehlleistung sei, kann der Schmerz böse werden, eine schwärende Wunde.
Damit war Sarah Kirsch offiziell rehabilitiert, und frühere, als zu systemkritisch aufgefaßte öffentliche Äußerungen waren anscheinend vergeben und vergessen.
Kritisch war sie schon immer gewesen. So hatte sie in der Ostberliner Zeitschrift Forum ziemlich hochmütig behauptet: „Wenn ich sie, die technische Revolution, brauche, wird sie mir schon in die Zeilen steigen“, und auf die Frage, vor welchen hauptsächlichen Schaffensproblemen sie zur Zeit stehe, hatte sie betont salopp erklärt:
Das der Tag nur 24 Stunden enthält, es in Halle keinen guten Kognak und kein Kohlepapier gibt, demzufolge es ebenso schwer ist wie vor der technischen Revolution, gute Gedichte zu machen.
Das Jahr 1968 hatte große persönliche Veränderungen in ihrem Leben mit sich gebracht. Nach zehnjähriger Ehe ließ sie sich von Rainer Kirsch scheiden und zog von Halle nach Ost-Berlin um. Sie hatte sich inzwischen in den Lyriker Karl Mickel verliebt, der der Vater ihres 1969 geborenen Sohnes Moritz ist. Während ihrer Schwangerschaft lebte Sarah Kirsch bei Freunden.
Als ich im neunten Monat war, kriegte ich ein Zimmerchen, weil eine Bezirksbürgermeisterin das große Rühren packte, als sie mich sah. Damals lernte ich, selbständig zu sein. Das war hart. Ich hab’ im Anfang von 300 Mark im Monat gelebt, hab’ ein bißchen übersetzt.
Von den Lyrikbänden konnte man nicht satt werden. Schließlich bekam sie im 17. Stock eines Hochhauses auf dem Prenzlauer Berg (Fischerinsel 9) eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung mit dem Blick auf die Glaskugel des Ostberliner Fernsehturms, unter sich das Staatsratsgebäude. 1974 lernte sie den Westberliner Lyriker Christoph Meckel kennen; eine Beziehung von vierjähriger Dauer zu dem von ihr durch die Mauer Getrennten entwickelte sich, die in Rückenwind (1976) widergespiegelt ist.
Im November 1976 unterschrieb sie, gemeinsam mit elf anderen Autoren, den Brief, in dem die DDR-Behörden gebeten wurden, die Ausbürgerung Wolf Biermanns zu überdenken. Die Folgen waren gravierend: Sie wurde aus der Berliner Bezirksdirektion des DDR-Schriftstellerverbandes und aus der Partei ausgeschlossen, und am Schwarzen Brett des Hochhauses, in dem sie wohnte, wurde ein Zettel angebracht mit der Aufforderung, „die Dame aus bewußtem Geschoß“ möge gefälligst ausziehen. Unter diesen Umständen konnte sie in der DDR nicht mehr arbeiten, fühlte sie sich wie gelähmt, zu abhängig „von einer Politik, die sich nicht traut, den Menschen Mensch sein zu lassen in aller Unberechenbarkeit“, und siedelte, als ihrem Ausreiseantrag stattgegeben wurde, am 28. August 1977 zunächst nach West-Berlin über, 1981 in ein Dorf in Niedersachsen (bei Bremen) und 1983 schließlich in ein ehemaliges Schulhaus in dem Dorf Tielenhemme/Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein. Mit ihrer Ausreise aus der DDR folgte Sarah Kirsch anderen Schriftstellern, die freiwillig oder gezwungen gegangen waren: Wolf Biermann, Reiner Kunze, Thomas Brasch und Bernd Jentzsch, um nur ein paar zu nennen.
Mit Preisen war sie schon vor ihrer Ausreise aus der DDR sowohl dort wie auch im Westen ausgezeichnet worden. 1965 erhielt sie, zusammen mit Rainer Kirsch, den Kunstpreis der Stadt Halle, im selben Jahr die Erich-Weinert-Medaille und den Kunstpreis der Freien Deutschen Jugend, 1973 den Heinrich-Heine-Preis der DDR, 1976, als sie noch in der DDR lebte, zusammen mit dem westdeutschen Lyriker Ernst Meister, den hochdotierten westlichen Petrarca-Preis. Den mit 20.000 Mark dotierten Thomas-Dehler-Preis, den man ihr nach ihrem Umzug nach West-Berlin zuerkennen wollte, lehnte sie ab, um nicht politisch vereinnahmt zu, werden. 1978 war sie ein halbes Jahr lang als Stipendiatin der Villa Massimo in Rom, wo sie den Komponisten Wolfgang von Schweinitz kennenlernte. 1981 wurde sie mit dem Österreichischen Staatspreis für Literatur und dem Kritikerpreis für Literatur ausgezeichnet, 1983 mit der Roswitha-Gedenkmedaille der Stadt Bad Gandersheim und 1984 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg. 1988 wurde ihr von der Stadt Mainz und vom Zweiten Deutschen Fernsehen der Stadtschreiber-Literaturpreis zuerkannt; im Zusammenhang damit konzipierte sie für das ZDF einen Film über die aus Mainz stammende Anna Seghers.
Im selben Jahr erhielt sie den mit 40.000 Mark dotierten Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein: sie habe das Land, in dem sie lebt, zum Gegenstand ihrer Poesie gemacht, hieß es in der Preismitteilung.
Dem Urteil des DDR-Kritikers Adolf Endler („Das Abenteuer der Dichtung von Sarah Kirsch, wie das der jüngsten DDR-Lyrik insgesamt, ist nicht anders denkbar als unter den besonderen und sozialistischen Bedingungen unseres Landes“) stimmt Sarah Kirsch, zumindest in dieser Zuspitzung, nicht bei. Obwohl sie glaubt, daß sie in ihrer Biographie der DDR, dem Kontakt mit den Menschen der DDR, der Zusammenarbeit mit den dortigen Dichtern und Kollegen sehr viel verdankt, meint sie andererseits, „daß andere Lebensverhältnisse sich auf das Resultat letzten Endes nicht so unterschiedlich ausgewirkt hatten“. In der Bundesrepublik empfindet sie sich nicht im Exil: „[…] das wäre zu hochgestapelt. Es ist dieselbe Sprache.“ – „Ich habe keine Schwierigkeiten“, sagte sie 1979 in einem Interview, „mich in eine andere Mentalität einleben zu müssen. Ich empfinde mich als einen deutschsprachigen Schriftsteller weiter nichts. Es ist nicht so, daß ich mich nun mein Leben lang als „DDR-Schriftsteller fühle. Ich habe dem Land eine Menge zu verdanken, das Land hat mich auch irgendwie geprägt, aber es hat mich auch fortgebracht. Ich sehe das alles nicht so tragisch. Ich bin nicht traurig, daß ich nicht mehr dort lebe. Und ich fühle mich überhaupt nicht im Ausland. Ich habe manchmal – ein bißchen übertreibend – gesagt, ich bin nur umgezogen. Und wenn es mir in einer Stadt nicht mehr gefallen hat, da bin ich eben von Halle nach Berlin und von Ost-Berlin nach West-Berlin gezogen. Sie können mir das abnehmen oder auch nicht.“ Aus dem letzten Satz spricht zweifellos eine defensive Haltung, und für die euphemistische Vokabel des „Umzugs“ von Ost nach West gibt es eine Tradition, die mindestens bis zu Uwe Johnson zurückreicht. Ganz überzeugen wollen die Worte der Dichterin nicht; die Anpassung an eine neue Umgebung war aber im Falle von Sarah Kirsch viel leichter zu leisten als im Falle aller derer, deren literarische Produkte von der politischen Spannung zwischen Ost und West thematisch lebten; in der Lyrik der Sarah Kirsch tritt hingegen das Politisch-Gesellschaftliche zumindest nur relativ sporadisch und selten plakativ auf. Die nach ihrer Niederlassung im Westen dort erschienenen Publikationen zeigen jedenfalls, daß ihr die Anpassung gelungen ist: Sie brauchte tatsächlich nur im selben Stil, mit derselben subjektiven Thematik weiterzuschreiben wie vorher. Daß ihre Texte später in der DDR in neuaufgelegten Anthologien ausgelassen wurden, steht zwar auf einem anderen Blatt; daß aber nach ihrem Umzug nach West-Berlin in der DDR bei Reclam in Leipzig noch eine Lyrikanthologie Musik auf dem Wasser (1977; in der Bundesrepublik 1978 unter dem Titel Katzenkopfpflaster), mit einem Nachwort der Lyrikerin Elke Erb, sowie eine Neuauflage der Zaubersprüche erscheinen konnte, ist ohne Beispiel. So stellte auch der DDR-Literaturhistoriker Hans Kaufmann in einem 1978 in der führenden Literaturzeitschrift der DDR, Sinn und Form, veröffentlichten Vortrag fest, die Lyrik der Sarah Kirsch zähle zu den „besten Kunstleistungen unserer Literatur“, und der DDR-Schriftsteller Günther Deicke nannte den Namen Kirsch (ohne Vornamen) 1988 in einem Aufsatz in derselben Zeitschrift zusammen mit denen von Kunert, Bieler, Biermann, Christa Wolf und Heiner Müller, Schriftstellern, die „am heftigsten unter offizielle Kritik gerieten“, die „so der latenten Gefahr des Provinzialismus entschlüpften und Werke schufen, die auf der internationalen Szene Aufsehen erregten“. – Bis auf Christa Wolf und Heiner Müller sind alle genannten Autoren entweder aus der DDR ausgebürgert worden, oder sie leben (Günter Kunert) mit einem DDR-Paß in der Bundesrepublik.
(…)
RESÜMEE
Sarah Kirsch läßt sich nicht glatt als DDR-Autorin bezeichnen, denn sie lebt in der Bundesrepublik. Es ist keine Frage, daß sie ihrem Herkunftsland viel verdankt, daß nicht nur ihr frühes Werk von ihm geprägt wurde, sondern daß die DDR auch in dem 1988 erschienenen Buch Allerlei-Rauh in der Erinnerung voll gegenwärtig ist. Aber wenn man von einigen Aspekten des journalistischen Teils absieht, richtete sich ihr Werk nie nach den Tagesgeboten der DDR-Kulturpolitik. Sie war schon immer Individualistin: einige ihr zusagende Aspekte des sozialistischen Weltbildes bejahte und gestaltete sie, andere ironisierte sie, vieles nahm sie nicht zur Kenntnis. Durch ihr immer wieder zum Ausdruck kommendes starkes persönliches Gefühl und ihr wenig verschleiertes Glücksverlangen entziehen sich ihre Werke der politischen Vereinnahmung von Ost und West. Ihre Gedichte handeln immer wieder von Liebe und Erotik, sie handeln vom Reisen, von der Natur und vom Landleben. Leicht läßt sich zeigen, wann und wo sie entstanden sind, auf wen oder was sie sich beziehen, aber es sind keine reinen Gelegenheitsgedichte; sie sind, den Worten der Dichterin zufolge, eher Gedichte, „die sich aus einer Gelegenheit entfalten“, d.h. daß auch ihre Wirkung nicht auf die Gelegenheit beschränkt ist, sondern daß sie immer über sie hinausweisen auf Allgemeineres. Es wäre deshalb falsch, sie nur vom Biographischen her festzulegen und zu interpretieren, den Gehalt der Liebesgedichte etwa durch Identifizierung einer bestimmten Beziehung ,erschließen‘ zu wollen. Trotz allem handeln die Gedichte immer nur von der persönlichen Erfahrung, also vom Ich der Autorin, was ihre Dichtung eigentlich nur zu einem langen Ich-Monolog macht. Auch in ihren Naturgedichten geht es ja oft nicht etwa um eine objektive, minuziöse Beschreibung, sondern um den Hinweis auf das Gefährdetsein der Natur, die Brechung der Idylle, z.B. durch Umweltverschmutzung.
Die Tatsache, daß Sarah Kirsch keine vordergründig politische Dichterin ist, bedeutet nicht, daß sich in ihren Gedichten etwa nichts Politisches fände; im Gegenteil, sagte sie einmal kurz vor ihrer Ausreise aus der DDR:
Meine Gedichte sind auch politisch. Aber auf eine andere Weise als etwa Gedichte von Volker Braun, die viel zupackender sind, die ich für sehr wichtig halte. Aber ich kann nur meine Gedichte machen. Die Lyrik eines Landes besteht aus vielen Stimmen.
Politisch seien ihre Gedichte in einem sehr weiten Sinn, „Indem ich eigentlich nur will, daß das Lebensgefühl einer bestimmten Zeit sich in diesen Gedichten widerspiegelt.“
Nur Persönliches wäre für sie uninteressant, überflüssig:
Ja, mir ist eine Zeitlang immer gesagt worden, ich schreibe private Gedichte. Ich glaube aber nicht, daß sie privat sind. Privat würde ich als Schimpfwort empfinden. Es sind Gedichte, die von mir ausgehen. So kann es und muß es bei Lyrik eben sein.
Gerade in ihrem Fall kann das Unpolitische leicht zum Politikum werden, und wer zu lesen versteht, wird viele Gedichte auch politisch deuten können. Eine solche Mehrdeutigkeit, ja selbst einen Bedeutungswechsel der Gedichte hat die Autorin sogar selbst befürwortet; sie möchte „eigentlich Gedichte schreiben […], in denen für den Lesenden noch Spielraum ist, wo er selbst auch etwas machen kann. Ich möchte meine Leser nicht völlig festlegen. Sie müssen nicht dasselbe empfinden, was ich empfunden habe. Es sind nur kleine Anstöße, und jeder kann sich in den Zeilen noch bewegen –.“
Schließlich ist bei ihr eine Affinität zum Märchenhaften nicht zu verkennen, zum Magischen, zum Zauber, wie er vor allem in Zaubersprüche und zuletzt wieder in Allerlei-Rauh und in Schneewärme deutlich geworden ist. – Im Ganzen gesehen ist es eine bunte Palette, ein vielfarbiges Bild aus Farbtupfen, die doch eine unverwechselbare Einheit bilden, so wie der bunte Mantel der Märchenheldin Allerlei-Rauh, selbst eine Einheit aus Heterogenem, in dem sich das bisherige Gesamtwerk der Dichterin spiegelt.
Andrea Marggraf: Ein Besuch bei Sarah Kirsch
Versprengte Engel – Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch ein Briefwechsel
Lesung in der Quichotte-Buchhandlung in Tübingen am 8.12.2023 mit Wilhelm Bartsch und Nancy Hünger sowie Marit Heuß im Studio Gezett in Berlin.
Begrüßung: Wolfgang Zwierzynski, Buchhandlung Quichotte
Einleitung: Katrin Hanisch, Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft e.V.
Jens Jessen: Versteckte Aggressivität
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.1995
Jürgen P. Wallmann: Verspielte Vision
Rheinische Post, 14.4.2000
Heinz Ludwig Arnold: Ein paar Abgründe überwinden
Frankfurter Rundschau, 15.4.2000
Peter Mohr: Meine schönsten Akwareller sint weck
General-Anzeiger, Bonn, 15./16.4.2000
Jürgen Israel: Das Herz hat einen Riss
Unsere Kirche, 16.4.2000
Horst H. Lehmann: Bibliophile Werkausgabe auf Büttenpapier
Neues Deutschland, 17.4.2000
Hans Joachim Schädlich: Sarah. Ein Geburtstagsgruß
Neue Rundschau, Heft 3, 2000
Marion Poschmann/ Iris Radisch: Man muss demütig und einfach sein. Gespräch
Die Zeit, 14.4.2005
Michael Braun: Landschaften mit Endzeit-Boten
Basler Zeitung, 15.4.2005
Unter dem Titel Idyllische Apokalypse
Stuttgarter Zeitung, 15.4.2005
Helmut Böttiger: Hier ist das Versmaß elegisch
Badische Zeitung, 16.4.2005
Michael Braun: Die Schmerzzeitlose
Der Tagesspiegel, 16.4.2005
Johann Holzner: Das Leben verlängern
Die Furche, 14.4.2005
Christian Eger: Unter dem Flug des Bussards
Mitteldeutsche Zeitung, 16.4.2005
Alexander Kluy: Den Himmel vergleichen
Frankfurter Rundschau, 16.4.2005
Dorothea von Törne: Schütteln und weiterleben
Literarische Welt, 16.4.2005
Gunnar Decker: Fisch, der am Grund lebt
Neues Deutschland, 16./17.4.2005
Samuel Moser: Verse vom Rand der Welt
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.4.2005
Hans-Herbert Räkel: Ein Elefant muss über die Alpen
Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2005
Sabine Rohlf: Läuse bei Mäusen in der Umgebung von Halle
Berliner Zeitung, 16./17.4.2005
Andrea Marggraf: „Bevor ich stürze, bin ich weiter“
Deutschlandradio Kultur, 13.4.2010
Erich Malezke: Natürliche Distanz zur Außenwelt
SHZ, 15.4.2010
Jürgen Verdofsky: Remmidemmi in Tielenhemmi
Frankfurter Rundschau, 15.4.2010
Wilfried F. Schoeller: Hier bin ich gern und immerdar
Der Tagesspiegel, 15.4.2010
Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
Thüringer Allgemeine, 16.4.2010
Rebekka Haubold: Sarah Kirsch feiert 75. Geburtstag
Radio für Kopfhörer, 16.4.2010
Gunnar Decker: Pirol unter Krähen
Neues Deutschland, 16.4.2010
Brita Janssen: Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
BZ, 16.4.2010
Peter Mohr: Meine Naivität war mein Glück
literaturkritik.de, Mai 2010
Michael Braun: „Alles ist auffindbar in meinen Spuren“
Konrad Adenauer Stiftung, April 2010
Heidelore Kneffel: 1997 bei Sarah Kirsch in Tielenhemme
nnz, 5.5.2018
Karin Kisker: Zum zehnten Todestag der Dichterin Sarah Kirsch
Neue Nordhäuser Zeitung, 5.5.2023
Wulf Kirsten: Rede auf Sarah Kirsch zur Verleihung der Ehrengabe der Heine-Gesellschaft 1992.
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