– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Deutschland, du Blondes, Bleiches“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –
BERTOLT BRECHT
Deutschland, du Blondes, Bleiches
Deutschland, du Blondes, Bleiches –
Wildwolkiges mit sanfter Stirn!
Was ging vor in deinen lautlosen Himmeln?
Nun bist du das Aasloch Europas.
Geier über dir!
Tiere zerfleischen deinen guten Leib
Dich beschmutzen die Sterbenden mit ihrem Kot
Und ihr Wasser
Näßt deine Felder. Felder!
Wie sanft deine Flüsse einst!
Jetzt vergiftet von lila Anilin!
Mit nackten Zähnen raufen
Die Kinder das Getreide aus vor Hunger
Aber die Ernte schwimmt in das
Stinkende Wasser!
Deutschland, du Blondes, Bleiches
Nimmerleinsland! Voll von
Seligen! Voll von Gestorbenen!
Nimmermehr, nimmermehr
Schlägt dein Herz, das vermodert
Ist, das du verkauft hast
Eingepökelt in Salz von Chile
Und hast dafür
Fahnen erhandelt!
O Aasland, Kümmernisloch!
Scham würgt die Erinnerung
Und in den Jungen, die du
Nicht verdorben hast
Erwacht Amerika!
Brechts Deutschlandgedicht von 1920 ist Antwort und Reaktion auf das, was Historiker die Urkatastrophe der deutschen Geschichte unseres Säkulums genannt haben: den Ausgang des Ersten Weltkrieges, den Absturz von hochbürgerlichem Weltmachtswahn zu grenzenloser nationaler Erniedrigung. Die Fallhöhe von den „lautlosen Himmeln“ zu „Aasloch Europas“ beschreibt das Schicksal eines Landes, das sich eben noch in unendlichem Kraftgefühl sonnte und nun, territorial reduziert und seiner bisherigen Führungselite beraubt, von gegenbürgerlichen Revolten geschüttelt wird und ohne Perspektive dahintaumelt. Offensichtlich ringt der zweiundzwanzigjährige Dichter mühsam um Orientierung und schreibt von einem Standpunkt der Trauer um das Dahingeschwundene aus. Er hat sich durchaus noch nicht ganz gelöst von den Identifikationsmustern des wilhelminischen Staates und dem Talmiglanz seines kulturellen Weltüberlegenheitsgefühls.
Der gegenwärtige Zustand ist freilich erschütternd. Die düsteren Bilder vom „Aasloch“ und vom „Geier“, vom zerfleischten „Leib“ und von „Kot“ und „Wasser“ der Sterbenden erinnern an barockes Todespathos und greifen noch einmal Verwesungsphantasien und Leichenarrangements des früheren Expressionismus auf. Die Erwähnung der hungernden „Kinder“ streift die soziale Frage, aber ganz im Vordergrund stehen Hinweise auf fehlgeleitete Industrialisierung und verbrecherische Kriegsrüstung: Die „Flüsse“ sind vergiftet mit „lila Anilin“, und das „Herz“ des Landes ist „eingepökelt in Salz von Chile“, womit vermutlich angespielt wird auf Sprengstoffherstellung mittels des Chile-Salpeters. Die vergeblich erhandelten „Fahnen“ mögen zusätzlich politischen Wahn und militärisches Scheitern signalisieren.
All dies wird nicht im Sinne entschiedener Anklage vorgetragen, sondern ist von einem eher konservativen Pathos grundiert. In Deutschland gab es ja „lautlose Himmel“ und „Selige“, hat ein „Herz“ geschlagen, das freilich „verkauft“ wurde und jetzt „vermodert“. Kritik an Handelsgebaren und Geldwirtschaft läßt sich heraushören, aber keineswegs im marxistischen Sinne. Brecht scheint vielmehr anzudeuten, daß Deutschland gut daran getan hätte, dasjenige zu pflegen, was Thomas Mann die „machtgeschützte Innerlichkeit“ des deutschen Kulturbewußtseins genannt hat, statt sich in großtechnisch betriebene Kriegsabenteuer zu stürzen, welche nun seine „sanfte Stirn“ besudelt und es aus seinen „lautlosen Himmeln“ hinausgeworfen haben.
Am Schluß des Gedichtes dämmert als mythische Utopie „Amerika“ auf, wie sie nachmals in Brechts Werk breit ausgearbeitet wurde. Die neue Welt steht für Dynamik und Vitalität, für Boxkämpfe und „Riesenstädte von jenseits des großen Teiches“, wie Brecht zum Theaterstück Im Dickicht der Städte anmerkte. Dieser Aufbruch zu gänzlich neuen Ufern führt von den abgelebten kulturbürgerlichen Zuständen der Vergangenheit ebenso weg wie von dem Grauen der Materialschlachten und dem Hunger der Nachkriegszeit.
Im ganzen ein Gedicht des Übergangs: Die martialische Deutschland-Begeisterung, der Brecht als Schüler frönte, ist verflogen, aber von den marxistischen Ansichten der zwanziger und dreißiger Jahre findet sich noch keine Spur. Vielleicht machen das ungestüme Kraftgefühl dieser Verse und der Schwebezustand zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht den Reiz dieser Zeilen aus.
Hanspeter Brode, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995
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