Hanspeter Brode: Zu Gottfried Benns Gedicht „Herr Wehner“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Herr Wehner“ aus dem Gedichband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Herr Wehner

Dies ist meiner
dieser Herr Wehner
der bei uns Hauslehrer war
früh an Lungenphtise verschied
nachdem er meinen jüngsten Bruder
angesteckt hatte,
der starb an meningitis tuberkulosa.

Stammte aus Lissa
Sohne eines Schmiedes
ging immer in Holzpantinen
was bei uns unüblich war,
seine Braut Liska
war einen Pfingsten bei uns
Tochter eines Polizeimajors
also was Besseres
sie kicherten oft abends
wenn die Mücken summten
und wir schlafen gehn mussten
aber, wie ich später hörte,
war es wohl doch nichts Rechtes.

Dieser Herr Wehner
ist insofern meiner
als er irgendwo begraben liegt,
vermodert in polnischem Kombinat,
keiner der Gemeindemitglieder
wird seiner gedenken,
aber vor mir steigt er manchmal auf
grau und isoliert
unter geschichtlichen Aspekten.

 

Bildnis vom Hauslehrer

Ein unauffälliges Gedicht zunächst, eher Neben-, beinahe Abfallprodukt aus der Werkstatt eines Großen, der seinerseits jedoch stets Interesse bekundete an liegengebliebenen Formen, an den Sackgassen der evolutionären Entwicklung. Leichtgewichtig gewiß und dennoch ein Schlüssel zur biographischen und poetischen Existenz des Dichters.
Wie häufig bei alternden Menschen – das Poem stammt aus der letzten Lebenszeit, Benn nähert sich den Siebzigern – wendet sich die Erinnerung zurück zu Kindheit und primärer Erfahrung. Eine ländlich-östliche Impression aus den neunziger Jahren des vergangenen Säkulums entrollt sich vor unserem Auge. Benn war Sohn eines Dorfpfarrers aus der Neumark. Das Sozialisationsschicksal des Heranwachsenden im Rahmen der frühesten Gruppe, jener „Gemeindemitglieder“ der protestantischen Kirchenkommune, ist Thema des Gedichtes. Darüber können auch die „geschichtlichen Aspekte“ der letzten Zeile nicht hinwegtäuschen; sie deuten weniger auf welthistorische Umwälzung hin, eher ist Lebensgeschichte gemeint, biographischer Rückblick dessen, der sich über die großen Umbrüche der Zeit hinweg bereits als historisch begreift.
Die erste Strophe, falls diese Bezeichnung angesichts der freien Kompositionsform von Zeilengruppe und Vers überhaupt am Platze ist, lenkt den Blick auf den alten Hauslehrerstand und damit auf die Würde einer literarischen Tradition deutscher Vergangenheit, die von Unterdrückung und pathetischer Selbstbehauptung mittelloser Schriftsteller gegenüber großbürgerlichem Standesdünkel zeugt: Lenz und sein „Hofmeister“, Hölderlin im Hause des Bankiers Gontard. Der Bennsche Blickwinkel setzt gleichfalls ganz unten an: Der Vater steht als Kirchenvorstand, man kann das in Benns Autobiographie nachlesen, vermögensmäßig der armen Landbevölkerung sehr nahe, die ihn zu Festtagen mit Eßbarem versorgt.
Am anderen Ende der sozialen Rangordnung befindet sich der grundbesitzende Adel, die „Ostelbier“, die gesellschaftlich den Ton angaben und in wilhelminischer Zeit die politischen Zügel straff in der Hand hielten. Ist im vorliegenden Text von ihnen auch nicht die Rede, so sind sie doch gegenwärtig als Urheber und Nutznießer jenes zähen Standesbewußtseins, das dem Gedicht zugrunde liegt und seinen nahezu tragischen Tenor ausmacht.
Benn erinnert sich des „Hauslehrers“ als einer Figur, die noch ärmer dran war als die elterliche Familie. Jedoch bleibt die Distanz von Pfarrhaus zu dörflichem Handwerk, zu jenem „Sohn eines Schmiedes“, denkbar gering; Tuberkulose ist Signal elender Wohnung und Ernährung, ein Bruder des Dichters fällt der Ansteckung zum Opfer. Ebenso verweisen die „Holzpantinen“ des Lehrers auf Bedürftigkeit, Lederschuhwerk scheint ihm unerschwinglich. Die Braut des Pädagogen hingegen, so empfindet es das geschärfte Sensorium des bereits auf die Klassengesellschaft hin gedrillten Kindes, ist „was Besseres“, nämlich „Tochter eines Polizeimajors“. Dem bescheidenen Hauslehrer, materiell beengt, physisch unterhöhlt, gelingt nicht einmal der knappe Sprung vom agrarischen Handwerk über das schlichte, doch bildungsstolze Pfarrhaus in den kleinen Beamtenstand; sein gescheiterter Liebesversuch war „wohl doch nichts Rechtes“.
Diese Verse haften letztlich nicht so sehr im Gedächtnis als Rückschau auf Wilhelminisches oder als biographisches Dokument. Vielmehr prägt sich eine schlichte menschliche Aussage ein: Leiden ist nicht umsonst gewesen, solange es noch jemanden gibt, der sich seiner entsinnt. Möglicherweise geben vor allem die lyrische Form und die fast frei assoziierenden Zeilen das geeignete Gefäß ab, um solche Menschlichkeit über historisch benennbare zeitliche und räumliche Entfernungen hinweg festzuhalten. Der „Hauslehrer“ des Kindes Benn ist zunächst Projektionsgestalt eigener Schmerzen des Dichters: „dies ist meiner“. Er wird aber auch dem gegenwärtigen Leser des Gedichtes zur Beziehungsfigur: diese Ängste, diese sozial und individuell bedingten Depressionen, dieses Bewußtsein, es sei ja doch alles vergeblich, diese Furcht vorm endgültigen Scheitern – darin finden auch wir uns wieder.

Hanspeter Brode aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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