Hanspeter Brode: Zu Werner Bergengruens Gedicht „Die Lüge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Werner Bergengruens Gedicht „Die Lüge“ aus Werner Bergengruen: Figur und Schatten. –

 

 

 

 

WERNER BERGENGRUEN

Die Lüge

Wo ist das Volk, das dies schadlos an seiner Seele ertrüge?
Jahre und Jahre war unsre tägliche Nahrung die Lüge.
Festlich hoben sie an, bekränzten Maschinen und Pflüge,
sprachen von Freiheit und Brot, und alles, alles war Lüge.
Borgten von heldischer Vorzeit aufrauschende Adlerflüge,
rühmten in Vätern sich selbst, und alles, alles war Lüge.
Durch die Straßen marschierten die endlosen Fahnenzüge,
Glocken dröhnten dazu, und alles, alles war Lüge.
Nicht nach totem Gesetz bemaßen sie Lobspruch und Rüge,
Leben riefen sie an, und alles, alles war Lüge.
Dürres sollte erblühn! Sie wußten sich keine
Genüge in der Verheißung des Heils, und alles, alles war Lüge.
Noch das Blut an den Händen, umflorten sie Aschenkrüge,
sangen der Toten Ruhm, und alles, alles war Lüge.
Lüge atmeten wir. Bis ins innerste Herzgefüge
sickerte, Tropfen für Tropfen, der giftige Nebel der Lüge.
Und wir schrieen zur Hölle, gewürgt, erstickt von der Lüge,
daß im Strahl der Vernichtung die Wahrheit herniederschlüge.

 

Deutsche Tragödie

„Die Wahrheit“, von der sich Werner Bergengruen wünscht, daß sie „herniederschlüge“ – in diesen hämmernden Versen von 1945 steht sie nackt und brutal vor uns. Ohnmacht, Wut und Verzweiflung artikulieren sich in Reimen, die mechanisch niederzutrampeln scheinen, was sich bitterster Einsicht etwa noch entziehen möchte. Im Nachhall einer katastrophal zu Ende gegangenen Epoche klingt alles mit „Lüge“ zusammen.
Bergengruen treibt die Versform fast gewaltsam ins Chaos, indem er für seine unerbittliche Rechenschaft den Hexameter wählt, den ehrwürdigen Erzählvers Homers, Vergils, Goethes. Noch einmal ist das epische Gerüst abendländischer Kultur beschworen, aber nur, um den entsetzlichen Traditionsbruch um so entschiedener zu markieren. Das Zertrümmern europäischer Überlieferung durch die Nazigewalt bildet sich im Zerdrücken des Verses mittels hart zuschnappender Repetitionen und Klapperreime ab.
Ein kleines Nazi-Epos also, gegen den Strich der großen Formschule gebürstet: Zuerst der Kampf gegen Not und Arbeitslosigkeit unterm wahnhaften Signum von „Freiheit und Brot“. Dann „heldische Vorzeit“ und „Adlerflüge“, das Umfälschen von Historie und mythischer Vorzeit im Sinne einer primitiven Lebensraum- und Rassenpropaganda. Der kollektive Taumel, die „Fahnenzüge“ und die willfährigen Kirchen mit ihren „Glocken“. Hernach die Abschaffung des Rechtsstaates im Namen von „Leben“ und gesundem Volksempfinden. Zuletzt, bereits mit „Blut an den Händen“, der Totenkult, dem immer die besondere Neigung der Nazis gegolten hatte und der zu Zeiten von Stalingrad und zivilem Massensterben ins Hysterische umschlug.
Die letzten Zeilen schreiben den Kern der deutschen Tragödie auf: Die eigene „Vernichtung“ mußte man wünschen, um zur „Wahrheit“ zu gelangen, Deutschlands Untergang herbeirufen, um die braune Tyrannei abzuschütteln.
Warum ergreift, erschüttert dieses Gedicht, heute erst recht? Vielleicht nicht einmal so sehr deshalb, weil es bekannte Tatsachen in Erinnerung bringt. Sondern vor allem dadurch, daß diese Verse aus der Zeit unmittelbar nach Kriegsende noch kraß beim Namen nennen, was später der Verdrängung zum Opfer fiel und unter der Anspannung von Aufbau und Wirtschaftswunder ausgeblendet und beiseite gewälzt wurde. Bergengruens Verse offenbaren aus heutiger Sicht deutsche Sozialpathologie in zweifacher Hinsicht: zum einen, indem sie an den traumatischen Teil unserer Geschichte rühren. Zum anderen aber auch, weil sie eine Spontaneität des Fühlens, eine moralische Schärfe des Gewissens schockartig bezeugen, die später verschüttet wurde. Bergengruens Gedicht hätte in den fünfziger Jahren gar nicht mehr entstehen können. Dies mag beim Wiederlesen ein retrospektives Erschrecken bewirken.
„Die Lüge“ steht an der Spitze eines Gedichtzyklus von Werner Bergengruen mit dem Titel „Dies irae“. Eine Lektüre dieser poetischen Sammlung sei all jenen ans Herz gelegt, die schon wieder dabei sind, Nazigeschichte zu relativieren, zu verkleinern, einzuebnen. Wer immer hier mittut, auf Bergengruen, den altkonservativen Dichter, darf er sich nicht berufen.

Hanspeter Brodeaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988

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