AN EINE STERNGLÄUBIGE
Sterne sagt sie Sterne sind so wichtig
Bahnen Bahnen: aber wo gehts lang?
Leben: jeden Morgen kehrt es richtig
wieder wie ein blöder Bumerang
und erschlägt dich eh der Tod erschlagen
kann was übrig blieb und zuckt
Brühe Blut: eh du sie ausgespuckt
gluckst der Morgenkaffee dir im Magen
Sprung vom Brückenbogen bleigewichtig
springt zurück, die Parallele schielt
Brach der Vers, die Worte blieben pflichtig
Gottes Finger: wurden sie nicht gichtig?
Denn die Hand die einst das Fallen hielt
zittert wenn sie mit sich selber spielt
Aktennotiz meines Engels faßt sämtliche Gedichtbände Harald Hartungs zusammen, ergänzt um neue Gedichte aus den Jahren 2002 bis 2004.
Jenseits jeden Marktgeschreis, unbeirrbar durch Tagesmoden, geht der Lyriker Harald Hartung seinen eigenen Weg. Seine Gedichte aus über vier Jahrzehnten sind ebenso raffinierte wie unaufdringliche Gebilde. Sie fassen die Wirklichkeit in Schnappschüsse, doch im Blitzlicht leuchtet ein Hintersinn auf. Sie holen die Historie als Krieg, Nachkrieg und Gegenwart in die persönliche Geschichte und zeigen die Parzen in der Fußgängerzone. In kunstvollem Übermut verwandeln sie alte Formen in neue Verfremdungen und lassen Trauer in Ironie, Witz in Empfindung umschlagen. Sie tarnen sich als „arme Kunst“ und zeigen einen Reichtum der Töne, der in der gegenwärtigen Lyrik einzig ist.
Wallstein Verlag, Ankündigung
– Zu Harald Hartungs lyrischem Werk – aus Anlaß der ersten Gesamtausgabe seiner Gedichte. –
Ein poetisches Lebenswerk ist zu besichtigen, und in dem geschmeidigen Gewebe der Zeilen und Sätze werden die Beschädigungen spürbar, die das Leben unter den Bedingungen deutscher Geschichte dort eingeritzt hat. Abgeschlossen ist dieses Werk nicht. Der Autor, 1932 geboren, schreibt weiter. Die jetzt vorgelegte Sammlung enthält die sieben Gedichtbände, die seit 1970 erschienen sind und endet gleichsam mit einem achten Buch, Arme Kunst, das die seit 2002 geschriebenen Gedichte zugänglich macht.
Trotz der stattlichen 400 Seiten nebst einigen Anmerkungen ist das noch kein Großwerk. Harald Hartung hatte immer auch anderes zu tun – als Literaturwissenschaftler, als Nachfolger Walter Höllerers am Literarischen Colloquium Berlin, als Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und als Anthologist. Sein besonderes Interesse gehört dem anglophonen Gedicht des 20. Jahrhunderts. Wenn er den Kühlschrank öffnet, schmeckt er die Pflaumen, die William Carlos Williams aus seiner „icebox“ genascht hat. Mit Luftfracht, 1991 in Enzensbergers Anderer Bibliothek erschienen und heftig beachtet, hat Harald Hartung nicht nur das 1960 von Hans Magnus Enzensberger gestaltete Museum der modernen Poesie in die Jahre von 1940 bis 1990 hinein erweitert. Er wollte auch zeigen, wie sich – „par avion, per Luftpost vermutlich“ – die lyrischen Korrespondenzen zwischen den USA, Japan, Deutschland, Italien und Osteuropa beschleunigt haben. Daß seine Postflieger, die späten Saint-Exupérys, kaum in Afrika und zu selten in Lateinamerika gelandet sind, daß Hartung jene Lyriker gemieden hat, die damals noch nicht global vernetzt und ganz bei sich geblieben waren, dies und auch die schematische Gliederung nach Jahrzehnten ist Hartung vorgehalten worden.
Wer sich jetzt auf Aktennotiz eines Engels, auf Hartungs bisheriges Lebenswerk und seine neuen Gedichte einläßt, erfährt, daß der Dichter seinen eigenen luftigen Postkasten genau für die poetischen Briefpartner freigehalten hat, die der Anthologist als korrespondierende Mitglieder der Weltpoesie auserkoren hatte. Hartung, der über experimentelle Literatur und konkrete Poesie arbeitete, ist selbst ein kolloquialer, jederzeit korrespondenzfähiger, kommunikativer Lyriker geblieben.
In seine Gedichte ist viel Lebenswirklichkeit gedrungen, und dazu zählt neben den Reisen die zeitgeschichtliche und die literarische Erfahrung, zählt die frühe, gelegentlich zu nachhaltige Prägung durch Gottfried Benn. Zu „Leben“ gesellt sich rasch das Wörtchen „prall“, doch Hartung hält seine Gedichte schlank und beweglich. Unter wenigen Wörtern kann aus drei Buchstaben eine ganze Ära aufscheinen: „A wie Adam wie Abs / Krawatte und Hut“; gemeint ist der aus der Adenauerzeit herüberragende Bankier. „Datierte Sätze. Wir schreiben den ,dreißigsten September‘“, heißt es in dem frühen Gedicht „Jetzt“. Die politische Geschichte der Kinderjahre springt uns an aus einem scheinbar harmlosen Reisegedicht. „Jetzt“ ist der frühe Morgen des 30. September 1938, Prager Zeitungen bringen die ersten Nachrichten über die Unterzeichnung des Münchner Abkommens zur Abtretung der sudetendeutschen Gebiete. Das Gedicht weicht zurück in die Zeit von Hartungs Geburt:
Bei Dessau beginnen die dreißiger Jahre
Damals hat Elly Beinhorn die Welt umflogen. Sie kommt nicht vor, aber ihr Mann, der Rennfahrer Bernd Rosemeyer. Im Gedicht ist er in Dessau. Wahrscheinlich hat seine Frau Junkersmaschinen geflogen, die dort hergestellt wurden. Man muß das alles nicht assoziieren, auch „Führers Spatenstich“ für den Bau der Reichsautobahnen im September 1933 nicht und auch nicht, daß Bernd Rosemeyer auf der ersten für den Verkehr freigegebenen Autobahnstrecke zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt ums Leben gekommen ist. Die Geschichtsbezüge erschließen sich aus Abbreviaturen, sind „Künstliche Blitze“, die ins Hirn einschlagen. Lesen wird, falls man es ernst nimmt, zur Arbeit nicht am, sondern im Gedicht. „Kürzlich die junge linke Poetin, scheu las sie / ein langes Gedicht über ihre alten Freunde“ – unverhofft wird der Rezensent in einem Gedicht von 1977 für seine Mitarbeit belohnt; er entdeckt Ursula Krechel und ihr Gedicht „Die alten Freunde“ aus dem Band Nach Mainz! (1977), und eine andere Frau, wohl die des Autors, will im gleichen Text „wissen, was ein weißer Jahrgang war“. Sie muß das spätere Gedicht „Weißer Jahrgang“ lesen, das mit der Titelzeile endet:
Mein Engel macht eine Aktennotiz
Diese Aktennotiz beschreibt den Status des zwangsverpflichteten Hitlerjungen, der in der Bundesrepublik noch nicht der Wehrpflicht unterlag. Die Blutrinne des Dolches (nannte man den wirklich Seitengewehr?) war trocken geblieben. Immer wieder erinnert sich der Autor an die Zeit um 1945, an das schamhaft verborgene Braunhemd beim Kinobesuch in Prag, das Verstecken des Führerbildes, an die Rückkehr des im Tschechischen verschollen geglaubten Vaters im Jahre 1947, „ein Fremder, dem ich die Schuhe putzte“. Während des Krieges hatte der Radio London gehört, doch nachher ließ er sich etwas „wegmachen von einem / Exnaziarzt, die kleine Narbe zeigte er nie / Zuckersäcke habe er schleppen müssen“. Der Vater, die Kindheit, das Leben der Mutter, die spätere Berliner Existenz seit 1966 und der Suizid des eigenen Sohnes lassen sich zu einem geordneten Puzzle legen.
Wem das alles zu schwer, zu tragisch und zu politisch erscheint, dem sei gesagt, daß Harald Hartung über eine schwebende Ironie verfügt, als habe er das Voltigieren als hohe, stets leicht erscheinende Zirkuskunst erlernt, und er ist gesegnet mit einem klugen Humor, der lächelt, nicht dröhnt. Ein ins Gedicht gerutschtes Graubrot mit Rübenkraut sagt soviel über die Zeit wie die SS-Tätowierung des Vaters, den der Dichter trotz allem zärtlich als „kleinen Vater“ im Krankenhemd in Erinnerung behält. Hartungs Humor ist eine ästhetische Qualität seiner Gedichte. Er äußert sich auch im Umgang mit Reimen, die ganze Gedichte strukturieren oder nur gelegentlich auftauchen, weil Reimen ein schönes Spiel ist. So kann „Arche“ sich auf „schnarche“ reimen, auf „erforsche“ folgt der Schauspieler Dieter Borsche, Adidas reimt sich auf Parnaß und „Deux Chevaux“ auf „à propos“. Wer da nicht lachen mag, ist selber schuld, kann aber wahrnehmen, wie Hartung den Reim auch zur Rhythmisierung einsetzt, für die er ein untrügliches Gespür hat.
Michael Maar: Glück im Sekundenschlaf
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 1. 2006
Jürgen P. Wallmann: Poeta doctus
Am Erker, Heft 51, 2006
Hans-Herbert Räkel: Er hört das Gras wachsen, aber nicht da, wo es soll
Süddeutsche Zeitung, 6. 7. 2006
Michael Braun: Wachsendes weißes Dunkel
signaturen-magazin.de
Am 12.2.2013 sprach Harald Hartung mit Jan Wagner in der Literaturwerkstatt Berlin in der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik über sein Werk.
Am 2.2.2006 las Harald Hartung im Literarischen Colloquium Berlin und sprach mit Jan Wagner über sein Werk.
Bleutge, Nico: Langsamer Träumer
Stuttgarter Zeitung, 29.10.2002
Walter Helmut Fritz: Das Ziel kommt zu dir
Badische Zeitung, 29.10.2002
Jörg Plath: Ruhe unterm Riesensegel
Der Tagesspiegel, 29.10.2002
Felicitas von Lovenberg: Von Wurzeln und Flügeln
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10.2012
Andreas Platthaus: Bei ihm müssen es keine Fixierungen sein
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2022
Hannes Krauss: Harald Hartung schreibt Gedichte, um verstanden zu werden
Westfälische Rundschau, 29.1.2022
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