Harald Hartung: Zu Ernst Meisters Gedicht „Doch das Dunkel fragt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Meisters Gedicht „Doch das Dunkel fragt“ aus Ernst Meister: Der Südwind sagte zu mir. Fermate. –

 

 

 

 

ERNST MEISTER

Doch das Dunkel fragt

Engel, Geläute der Bilder,
Frühlinge… wo?
Lang

ist das Pendel
dieser Uhr,
und das Dunkel fragt:

Engel, Geläute der Bilder,
Frühlinge… wo?

Lang
ist das Pendel dieser Uhr,
schwingt über
jeglichen Rand.

Einer sprach:
Ich bin zu euch gesandt…
Doch das Dunkel fragt:

Engel, Geläute der Bilder,
Frühlinge… wo?

 

Das Dunkel singt

Als der junge Ernst Meister 1930 in Marburg das Studium der Theologie aufnahm, tat er das – wie Gottfried Benn drei Jahrzehnte vor ihm am nämlichen Ort – auf Wunsch seines Vaters. Zwar hatte er starke metaphysische Interessen, doch der Theologiestudent „bezweifelte längst, dass es ihn (Gott) gab“. So wandte er sich der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte zu und ging im Winter 1931/1932 nach Berlin. Er hatte angefangen, Gedichte zu schreiben, und verkehrte im Romanischen Café. Die Vossische Zeitung sah in Meisters Erstling Ausstellung (1932) „eine Art Kandinsky-Lyrik“. Darin gab es diesen zutiefst sarkastischen Fünfzeiler:

Das Dunkel fragt man nicht.
wie es ihm geht.
Es singt nicht.
Es hat keine Augen.
Dunkel ist ein toter Hund.

Meisters „Kandinsky-Lyrik“ war nach Machtantritt der Nazis keine Empfehlung, und der junge Dichter fühlte sich „wie die Weimarer Verfassung faktisch zu nichts geworden“. Er geriet in eine schwere Lebenskrise. Sein Lehrer Karl Löwith musste emigrieren, und so wurde nichts aus der geplanten Dissertation über Nietzsche. In der Frankfurter Zeitung ließ Meister noch drei kleine Prosastücke erscheinen. Dann schrieb er zwar noch, publizierte aber nicht mehr. „Das Dunkel singt nicht“, hatte es in Ausstellung geheißen.
Erst in den frühen fünfziger Jahren versuchte Meister es wieder mit dem Veröffentlichen. Durch Hans Benders Vermittlung druckte V.O. Stomps in seiner Eremitenpresse einige schmale Bändchen, darunter 1957 Fermate. Im selben Jahr erhielt Meister den Münsteraner Droste-Preis, der den Anfang seines langsam wachsenden Ruhms markiert.
„Doch das Dunkel fragt“ ist ein Gedicht aus dem Band Fermate. Wir lesen ein paar hingetupfte Wörter, von denen die meisten wiederkehren. Sie ergeben ein zartes Gebilde, ein Gedicht, das man leicht überlesen könnte. Wovon spricht es? Von Engeln, Bildern, der Uhr und dem Dunkel. Das sind schon vier von den acht Substantiven, die vorkommen. In siebzehn Zeilen erscheinen insgesamt nur dreißig Wörter, wenn man die Wiederholungen abzieht. Und doch füllt das Gedicht seinen Raum, seine Zeit aus. Ein Rondo aus Worten, verbale Minimal Music.
Was da vorbeizieht und wiederkehrt, scheint willkürlich, bildet aber doch eine Abfolge, einen Zusammenhang. In zarter Andeutung wird Metaphysisches („Engel“) und Lebensmäßiges („Frühlinge“) durch Synästhesie vermittelt: im „Geläute der Bilder“ ist bildhafte Wahrnehmung zugleich Musik.
Dies alles verbindet der Verlust, die Frage nach ihrem „wo?“:

Engel, Geläute der Bilder,
Frühlinge… wo?

Wir lesen eine wiederholte Klage um Vergangenes, Verlorenes. Was diese Klage auslöst, ist die Zeit, genauer: ihr Dingsymbol, die Uhr. Eine Pendeluhr, zu Dichters Zeit noch in Gebrauch, aber schon aus der Mode.

Lang
ist das Pendel dieser Uhr,
schwingt über
jeglichen Rand.

Über den Rand der Welt, wie es scheint. Die Frage danach, warum sich alles so verhält, wird keinem menschlichen Ich zugewiesen. Sie gehört einer anderen Macht: dem Dunkel. Das Rätsel fragt nach dem Rätsel. Und während es fragt, gibt es einen erstaunlichen Einschub:

Einer sprach:
Ich bin zu euch gesandt…

Kein Zweifel, dass von einer Verheißung die Rede ist. Kein Zweifel auch, dass diese Verheißung ins Anonyme entrückt ist und in die endgültige Vergangenheit. Auslassungspunkte sparen aus, was zu sagen und zu denken wäre. Der einzige Reim des Gedichts aber bindet den „Rand“ der Welt mit dem Einen, der „gesandt“ ist, zusammen. Meister sucht noch im Disparaten den Zusammenklang.
Der Leser des Johannesevangeliums (8,42) mag an die Stelle denken, wo Jesus sagt, er sei nicht von sich selbst gekommen, sondern Gott habe ihn gesandt. „Warum versteht ihr denn meine Sprache nicht?“, fragt Jesus die Zuhörer. Hat man ihn je verstanden? Hier im Gedicht erscheint sein Schatten. Auf ihn reagiert das Gedicht mit einer letzten Wiederholung der Anfangsfrage:

Engel, Geläute der Bilder,
Frühlinge… wo?

Eine Antwort wird nicht gegeben. Der Leser fordert sie auch nicht mehr ein. Für ihn ist die Klage vollends Musik geworden. Für den Dichter, über die Lebensmitte längst hinaus, ist das Dunkel kein „toter Hund“ mehr. Das Dunkel fragt. Mehr noch: Das Dunkel singt.

Harald Hartung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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