Harald Hartung zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Kurze Geschichte der Bourgeoisie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Kurze Geschichte der Bourgeoisie“ aus dem Band Hans Magnus Enzensberger: Die Furie des Verschwindens. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Kurze Geschichte der Bourgeoisie

Dies war der Augenblick, da wir,
ohne es zu bemerken, fünf Minuten lang
unermeßlich reich waren, großzügig
und elektrisch, gekühlt im Juli,
oder für den Fall daß es November war,
loderte das eingeflogene finnische Holz
in den Renaissancekaminen. Komisch,
alles war da, flog sich ein,
gewissermaßen von selber. Elegant
waren wir, niemand konnte uns leiden.
Wir warfen um uns mit Solokonzerten,
Chips, Orchideen in Cellophan. Wolken,
die Ich sagten. Einmalig!

Überallhin Linienflüge. Selbst unsre Seufzer
gingen auf Scheckkarte. Wie die Rohrspatzen
schimpften wir durcheinander. Jedermann
hatte sein eigenes Unglück unter dem Sitz,
griffbereit. Eigentlich schade drum.
Es war so praktisch. Das Wasser
floß aus den Wasserhähnen wie nichts.
Wißt ihr noch? Einfach betäubt
von unsern winzigen Gefühlen,
aßen wir wenig. Hätten wir nur geahnt,
daß das alles vorbei sein würde
in fünf Minuten, das Roastbeef Wellington
hätte uns anders, ganz anders geschmeckt.

 

Poetische Lektion

Die Kanzlerin reist nach Grönland und erschrickt, wie übereilt die Gletscher kalben; der Außenminister prüft in Afghanistan, ob wir gerüstet sind, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen. Politische Fragen sind immer auch Anlässe für dichterische Antworten. Kaum hatte sich die Bundesrepublik als demokratische Gesellschaft eingerichtet, ließ der Dichter Enzensberger den oft populistischen Entscheidungen seine eigenwilligen poetischen Lektionen folgen. Alle seine Mahnungen zur Staatsbürgerkunde, seine Ratschläge für Unentschlossene, seine kritischen Anmerkungen über die Wohlstandsgesellschaft der sechziger und siebziger Jahre sind launisch, ja kapriziös gestimmt und beziehen die Befindlichkeit des Dichters stets mit ein.
Die „Kurze Geschichte der Bourgeoisie“ ist folglich keine lexikalische Beschreibung, sondern ein poetisches Spiel mit unserem sorglosen, ja leichtfertigen Seelenzustand. Anspielungsreich verwandelt er die Schlagwörter aus Werbung und Propaganda in sinnliche Bilder, treibt seinen zarten Spott mit dem schöneren Wohnen, dem komfortablen Reisen, dem protzigen Repräsentieren. Enzensberger winkt nicht mit dem Zaunpfahl, behutsam legt er den Finger auf die Wunde, beschwört unsere winzigen Gefühle, unser hektisch gehütetes Unglück, unseren diätisch gezügelten Appetit. Das hastig verschlungene Roastbeef Wellington ist für den Dichter nicht nur ein nach englischer Art kurzgebratenes Rippenstück vom Rind – es ist die Wegzehrung, die gebraucht wird, wenn man länger als fünf Minuten die Freiheit des Glücks genießen möchte. Unser Auswurf des schlecht Verdauten ist ein gefundenes Fressen für Enzensberger. Er macht daraus poetische Appetithappen, die wir uns auf der Zunge zergehen lassen.
So frivol, so sarkastisch in seiner freimütigen Heiterkeit, so politisch unkorrekt dieses Gedicht uns erscheint, es folgt den Gesetzen der Poesie, die „allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“, wie schon Schlegel sagt. Enzensberger beherzigt das Wort des Gelehrten, in seinem Aufsatz „Poesie und Politik“ schreibt er, das Gedicht sei anarchisch und subjektiv durch sein bloßes Dasein:

Es überführt, solange es nur anwesend ist, Regierungserklärung und Reklamegeschrei, Manifest und Transparent der Lüge.

Das kritische Werk des Gedichts sei kein anderes als das des Kindes im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Enzensbergers „Kurze Geschichte der Bourgeoisie“ wendet sich gegen die Vergeßlichkeit, gegen das rasche Verschwinden der Freiheit. Sein Gedicht findet sich in dem Gedichtband Die Furie des Verschwindens, nach einer Metapher von Hegel genannt. Doch wo der idealistische Philosoph in seiner Phänomenologie des Geistes von der absoluten Freiheit spricht und damit den Menschen auf den Kopf stellt, begreift Enzensberger Geist und Freiheit realistisch und stellt ihn wieder auf die Beine. Hegels Furie ist noch die lateinische, Angst und Schrecken verbreitende Rachegöttin, bei Enzensberger tritt sie durchaus zivilisiert auf. Aus der furchterregenden ist eine beschwichtigende Gestalt geworden, der unsere verschwindende Freiheit kostenlos zufällt. So wie sie sich in der „Geschichte der Bourgeoisie“ ungenannt als rasch dahinfliehende Zeit bewegt, hat sie der Dichter mit seinen hellsichtigen Bildern aus der dunklen Begrifflichkeit des Philosophen erlöst. Aus der absoluten ist eine fünfminütige Freiheit geworden.

Harald Hartung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008

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