– Zu Nicolas Borns Gedicht „Bei Mondschein“ aus Nicolas Born: Gedichte. –
NICOLAS BORN
Bei Mondschein
Es ging
der Körper eines Schattens
aufrecht.
Sein Gesicht, sehr weiß,
war helleres Licht,
sein Mund
formte Kiesel,
sein Schatten
kam zählend die Wege
nicht weit.
Ein kurzes Gedicht, zehn schmale Zeilen. Fast unscheinbar. Und doch geht ein diskretes Leuchten von ihm aus, obwohl es auf die Kunstreize von Reim und Metrum verzichtet. Es sucht auch nicht die Konkurrenz zu den großen Mondgedichten unserer Literatur, es wählt nur eine andere Beleuchtung der Dinge.
Sie gibt der Titel vor wie eine Regieanweisung. „Bei Mondschein“ ist manches möglich, was bei Tag befremdet. So die Umkehr unserer gewohnten Wahrnehmung. Wir sehen zunächst einen Schatten, dann erst den dazugehörigen Körper. Wo ein Schatten ist, muß auch ein Körper sein und – da er aufrecht geht – ein Mensch. Doch nicht um tageshelle Logik geht es, sondern um die Evidenz des Phänomens.
Dieses ist schon deshalb sichtbar, weil von ihm Licht ausgeht.
Sein Gesicht, sehr weiß,
war helleres Licht
Nicht der Mond ist die entscheidende Lichtquelle, sondern ein Gesicht. Es ist nicht beleuchtet, es leuchtet aus sich selbst. Leuchtet heller als der Mond, der deshalb gar nicht erwähnt wird.
Mehr: dieses von innen erleuchtete Wesen ist zu Erstaunlichem fähig:
sein Mund
formte Kiesel
Diese Zumutung an unsere Alltagslogik erinnert an den Mythos, der besagt, daß Demosthenes Kiesel in den Mund nahm, um seine Rede zu trainieren. Hier sind es die Sprachwerkzeuge selbst, die das Widerständigste zu formen vermögen. Doch schon eilt der Bericht vom erleuchteten Schattenmann dem Ende zu:
sein Schatten
kam zählend die Wege
Was zählte der Schatten? Und welche Wege kam er? Das bleibt ein Rätsel. Erst wenn wir die Leerzeile überspringen, trifft uns das harsche: „nicht weit“. Die Pointe als Desillusionierung. Wie sollen wir die Gnome auflösen? Vielleicht so: Sowenig Achill die Schildkröte überholt, so wenig weit kommt, wer die Wege zählt.
Was phantastisch begann, endet als Parabel. Sie erzählt Vergangenes, erzählt von einem Abschied. Ein junger Dichter nimmt Abschied vom Schatten seines Meisters. Es ist der Abschied vom erleuchteten Dichter, der redehemmende Kiesel in seinem Munde formt. Es ist der Abschied von der hermetischen Poesie, die „nicht weit“ kommt, nicht in den Tag, in die gesellschaftliche Realität.
Der das schreibt und anno 1965 an abgelegener Stelle, im Essener Lesebuch 1965, publiziert, ist damals ein sehr junger Autor: Klaus Born, ein Essener Chemigraph mit literarischen Ambitionen. Er hat nach Paris an Paul Celan geschrieben, nach Ost-Berlin an Johannes Bobrowski, vor allem aber ins nahe Hagen, an Ernst Meister. Man wird miteinander bekannt, Besuche gehen hin und her. Meister wird Borns spiritus rector, Else Meister schlägt ihm vor, sich einen „Künstlernamen“ zuzulegen. So kam es zu Nicolas.
In Borns Nachlaß fand sich eine Mappe mit dem – allzu sprechenden – Titel „Echolandschaft“. Eines der damaligen Gedichte ist Ernst Meister gewidmet. Es fragt:
war es wer
der mich fragte
ob ich wolle
den traum
oder lieber
das licht
Born wählte das Licht, er trat aus Meisters hermetischem Schatten heraus. Er vertauschte die Ruhrpottprovinz mit dem Berlin der aufkommenden Studentenrevolte. Er schrieb, wie auf seinen Lehrer anspielend:
Mit zunehmender Meisterschaft wird alles schwerer.
Seine neuen Gedichte sollten roh sein, nicht geglättet, auf keinen Fall hermetisch. Sie wollten in der täglichen Erfahrung Utopisches sichtbar machen, erhofften „das Erscheinen eines jeden in der Menge“. Mit Gedichten und Romanen kam der Ruhm. Dann holte die Krankheit Nicolas Born ein. Im Juni 1979, beim Petrarca-Preis in Verona, erreichte ihn noch die Nachricht vom Tod Ernst Meisters, die ihn sehr traf. Born starb im Dezember 1979 an Lungenkrebs. Sein frühes Gedicht ist mehr als eine Talentprobe. Es zeugt von Möglichkeiten, die Born beiseite ließ, um frei zu werden.
Harald Hartung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010
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