– Zu Rainer Kirschs Gedicht „Die Dialektik“ aus Rainer Kirsch: Kunst in Mark Brandenburg. –
RAINER KIRSCH
Die Dialektik
Zupackend tändeln, tändelnd fassen: Lassen
Durch Tun, und kein Tun lassen – ist,
Klagreich Zuhandene, da du mich küßt,
Unwirklich denn, was wir zart fingernd passen
In schmalste Spalte zwischen Augenblicken,
So daß sich der Sekunden Strecke beult
Und sich, mäandernd, ernst zu Schlingen knäult,
In die wir uns umfangen heiter schicken?
„Des Bleibens ist kein Ort.“ „Wir sind der aber.“
„Er geht mit uns.“ „So tauch den Blick derweil.“
„Das Licht schmilzt hin.“ „Sein wir die Kandelaber.“
„Tod spaltet die.“ „Ja, stumpfen wir sein Beil.“
„So sehr, sagst du, gefalln dir meine Brüste?“
„Ich sagte es, wenn ich zu reden wüßte.“
Ist dies nun ein Liebesgedicht an die Dialektik oder ein dialektisches Liebesgedicht? In jedem Fall scheint der Sprechende ein merkwürdig umständlicher, skrupulöser Liebhaber zu sein – dazu noch besitzstolz und unhöflich. Denn welcher Kavalier nennt die Geliebte eine „klagreich Zuhandene“, das soll wohl heißen: eine Frau, die immer verfügbar ist und sich ständig beklagt?
Vielleicht ist es aber nur gebremste Liebesenergie, die sich so aggressiv wie unentschieden gibt. Da formuliert der Liebende die schönsten Maximen, was zu tun und zu lassen sei. Doch anstatt nun auszuführen, was er sich vorgesetzt hat, und zupackend zu tändeln oder tändelnd zuzugreifen, scheint er von des Gedankens Blässe angekränkelt und verstrickt sich in einen merkwürdig mäandernden Satz, der nur zu gut zu seinem Schwanken paßt. Doch Vorsicht: Die Ungeschicklichkeit hat Methode. Sie zieht listig die Schlinge zu einer rhetorischen Frage, die auf die bare Zustimmung aus ist.
Wer so fragt, hat Zweifel oder will sie beschwichtigen. Aber woran zweifelt er? Doch nicht an der Geliebten. Sie ist „zuhanden“ und küßt ihn, was will er mehr? Er möchte, daß sie ihn von der Angst befreit, all die schönen, der Zeit abgelisteten Liebesaugenblicke könnten unwirklich und hinfällig sein. Sie soll ihm sagen, daß der Versuch nicht vergebens war, der Zeit eine andere, eine mäandernde, verschlungene Gestalt zu geben, die das Vergehen hinauszögert. Wie. bescheiden man geworden ist. Denn alle Lust will nun nicht mehr „Ewigkeit“, sondern bloß jene Nische in der ernsten Zeit, in die man sich heiter schickt. Doch die Zeit läßt nicht mit sich handeln. Über dem Satz unseres Freundes ist sie weitergegangen. Auch die Gedichtzeit: Acht von den vierzehn Zeilen des Sonetts sind verbraucht. Ist die Überredung geglückt?
Die Frau bescheidet ihn abschlägig, aber so sibyllinisch, daß das Gespräch weitergehen, ja eigentlich erst beginnen kann. Endlich, im Dialog, ist er der Lage gewachsen. Er nimmt die Frau beim Wort und bleibt keinem ihrer illusionslos scheinenden Sätze die Antwort schuldig. Dreimal verweist sie auf Vergänglichkeit und Tod. Dreimal setzt er die Liebe der Liebenden dagegen. Und die Frau, aufs schönste und willkommenste in die Enge getrieben, gibt selbst das sinnlichste Argument:
So sehr, sagst du, gefalln dir meine Brüste?
Jetzt, im letztmöglichen Moment, in der Schlußzeile des Sonetts, darf er zustimmen. Aber das einfache aufatmende Ja genügt nicht. Zu sehr hat er sich im Reden und Spekulieren verfangen. Nur noch die Kapitulation kann helfen, das Eingeständnis:
Ich sagte es, wenn ich zu reden wüßte.
Und merkwürdig. Nun, da er sein Unvermögen gesteht, hat er Sprache – die Sprache der Liebe. Versagen schlägt um in Gelingen.
Also ist Dialektik im Spiel, das zum guten Ende führte. Auch so etwas wie freundliche Nötigung. Sei es durch die Bescheide der Frau. Sei es durch die ablaufende Uhr des Sonetts. Zu lang hat unser Freund philosophisch getändelt. Schließlich hat er’s doch gepackt. Wo er nicht reden konnte, tat es der Dichter für ihn – und für die Liebenden überhaupt.
Rainer Kirsch, aus Sachsen, hat Petrarca, wie er selbst sagt, „nördlich versetzt“. Das meint auch: aus dem Idealistischen ins Materialistische. Liebe gilt ihm als „oberste Bewegungsweise der Materie“. Das schließt – wie man sieht – Poesie nicht aus. Der Dichter verneigt sich, außer vor Petrarca, auch vor Rilke und Brecht. Den Reim „aber / Kandelaber“ versteht er als Reverenz vor Rilkes berühmtem Sonett über den „Archaischen Torso Apollos“. Und der Dialog der Liebenden erinnert an Brechts wunderbare Verse von den Kranichen und der Liebe, die den Liebenden ein Halt scheint.
Harald Hartung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991
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