Harald Hartung: Zu Vierzeilern von Hans Bender

– Zu Vierzeilern von Hans Bender aus Akzente Heft 1/Februar 1994. –

 

 

 

 

HANS BENDER

Vierzeiler

Tagebuch
Nachmittag
Ende September.
Nochmal lösen
die Wolken sich auf.

2. Oktober
Das Zimmer der Tisch
Papier und Stift.
Nun kommt
ihr summenden Wörter!

Hiatus
Eine Zeile
zwei Zigaretten –
schreiben
mit tödlichem Ausgang.

Zikaden
Sie zirpen
wenn ich komme.
Sie zirpen
wenn ich gehe.

Piazza Navona
Der schöne Platz
wo alle zusammenkommen.
Nirgendwo bin ich
so allein.

Dort und hier
Kevin in Texas
wünscht vergebens sich Schnee.
Hier liegt er
in Hülle und Fülle.

In Saloniki
Er sitzt mir gegenüber:
Günter Eichs Leser!
Wir heben das Glas
und gedenken seiner.

Tierfilm
Selbst der gewaltige Wal
schreit
wenn die Harpune
ihn trifft.

Im Schulhof
Abseits steht er
der dunkelgelockte Junge.
Die Angst vor Fäusten
teile ich mit ihm.

Herbstblatt
Ein Rot ein Braun
ein blasses Gelb –
und hier die schwarze Rippe
die am Rande endet.

 

Diese Vierzeiler

stehen in Heft 1/Februar 1994 der Akzente, im Jubiläumsheft zum vierzigjährigen Bestehen der Zeitschrift. Sie stehen dort neben vielen interessanten Texten, die den Stand und die Entwicklung der Literatur repräsentieren. Benders Vierzeiler aber wollen nicht repräsentieren, nicht ihren Autor, nicht einmal sich selbst. Es sind keine anerkannten lyrischen Kurzformen, keine Haikus, keine Tankas. Sind es überhaupt Gedichte? Oder sind es Aufzeichnungen, wie sie Bender sonst auch geschrieben hat? Deren Ideal hat Bender in dem Satz gefaßt: „Einige Sätze, die etwas komprimieren und konzentrieren.“ Hier in den Vierzeilern, wird nicht einmal das mehr versucht: die Substanz, die zu komprimieren und zu konzentrieren wäre, ist Hauch geworden, Duft: etwas, das immer noch Sprache anlockt, Sprache, die zum Menschen gehört: „Nun kommt / ihr summenden Wörter!“

Harald Hartung, aus Hans Bender. Ausgewählte Aufzeichnungen, Erzählungen und Gedichte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999