– Zu Christoph Meckels Gedicht „An wen auch immer ich mich wende“ aus Christoph Meckel: Ausgewählte Gedichte 1955–1978. –
CHRISTOPH MECKEL
An wen auch immer ich mich wende
Mein Kriegsherr, mein Friedefürst,
mein großer Bruder, mein Goldkind,
aaaaaes spielt keine Rolle,
mein guter Stern, mein schlechter Stern,
aaaaaes spielt keine Rolle,
du machst mir was vor.
An wen auch immer ich mich wende,
wenn mich der Stiefel drückt, der goldene Stiefel,
der schwarze Stiefel, es spielt keine Rolle,
dein Laden hat immer geschlossen,
dein Diener hat immer Ausgang,
dein Telefon ist immer besetzt.
Wann kriege ich dich dran, wann reichst du mir
den kleinen Finger, den kleinsten nur,
wann zeigst du dein Gesicht, dein schönes Gesicht,
dein häßliches Gesicht, es spielt keine Rolle,
dein Gesicht?
Du bist sicher, daß ich dir nachlaufe,
du bist sicher, daß es nicht ohne dich geht,
das kann sich ändern.
Was wird dann aus dir, mein Kriegsherr, ohne
meinen Ruin, von dem du dich nährst,
was fängst du dann an, mein Hofnarr,
aaaaaes spielt keine Rolle,
mein großer Häuptling, mein Goldkind,
aaaaaes spielt keine Rolle,
ohne mich?
Mit Schuberts Choral „Wohin soll ich mich wenden“ im Ohr werden wir schon durch den Titel dieses Gedichtes geistlich eingestimmt. Auch der Friedefürst in der ersten Gedichtzeile hat geistlichen Klang; Friedefürst – in der sprachlichen Form an Luther anklingend – ist nach dem Propheten Isaias einer der biblischen Namen des verheißenen Messias. Im Kontext dieser Zeile kann dann auch der Kriegsherr als Herr der Heerscharen gelesen werden. So liegt es nun nahe, das ganze Gedicht als eine Gebetsanrufung aufzufassen, der unser Autor die besondere Form einer Litanei über die Namen Gottes gegeben hat. Daß dabei der Gottesname selbst nicht auftaucht, braucht den Leser nicht zu wundern. Es hat in der jüdisch-christlichen Theologie eine Tradition gegeben, in der es als sündhaft und vermessen galt, den Jahve-Namen als den „eigentlichen“ Namen Gottes auszusprechen.
Wenn dies der geistliche Hintergrund unseres Gedichtes ist, so steht der Autor nicht als frommer Beter vor diesem Horizont.
Kein Schubertsches „Zu Dir, zu Dir, o Vater“ kommt über seine Lippen. Aber auch kein titanisch-trotziges „Bedecke Deinen Himmel, Zeus“ wie bei Goethe, von dessen Prometheus unser Autor jedoch das listige Argument behalten hat, daß die von Opfersteuern sich nährenden Götter elend darben müßten, „wären nicht Kinder und Bettler hoffnungsvolle Toren“.
So bleibt der Autor hin- und hergerissen zwischen Ehrung und Schmähung, zwischen Hörigkeit und Aufsässigkeit, dem Nietzsche der Dionysos-Dithyramben verwandt, der gleichfalls (in der Rolle der Ariadne) den „unnennbaren Gott“ zornig einen Jäger, Dieb, Feind, Folterer, Henker-Gott und Narren schilt und dennoch ihn anfleht:
Nein! Komm zurück! Mit allen Deinen Martern!
Ganz anders als bei Nietzsche finden wir jedoch bei Meckel nicht mehr diesen quälend-gequälten, ekstatischen Klang, sondern statt dessen die forcierte Ohne-mich-Gleichgültigkeit („es spielt keine Rolle“), wie man sie von der skeptischen Generation jener fünfziger Jahre kennt, in denen dieses Gedicht entstanden ist.
Es gehört jedoch zu den Vorzügen unseres Gedichtes, daß es auch ganz anders gelesen werden kann. Manche Bilder dieser Anrufungen – beispielsweise der goldene oder schwarze Stiefel, das schöne oder das häßliche Gesicht, das Goldkind – legen eher nahe, dieses Gedicht als ein Liebesgedicht zu lesen. Dann wäre Christoph Meckel, ähnlich wie in seinem letzten Gedichtband Säure (1979), ein moderner Troubadour, der sich in bildhafter Sprache an eine geliebte Frau „wendet“, deren Huld freilich keineswegs gewiß, vielmehr höchst zweifelhaft ist. Daß in den Anrufungen nur männliche Namen auftauchen, braucht uns wiederum nicht zu wundern: so haben sich auch die Troubadours schon ausgedrückt, um die „Herr“schaft der besungenen Dame deutlicher zu bezeichnen. Und überhaupt ist der Geschlechtertausch ein beliebtes Reizmittel der erotischen Sprache. Aber in unserem Gedicht wirkt auch dieses Mittel nicht, die spröde Herrin neigt sich ihrem flehenden Vasallen nicht zu, so daß dieser es vielleicht einmal mit der List und einer versteckten Drohung versuchen wird: was ist denn diese Herrin ohne ihren Knecht?
Schließlich, wenn man Meckels unbarmherziges „Suchbild“ seines Vaters (1980) gelesen hat, ist noch die Lesart zu erproben, in diesem frühen Gedicht die erste poetische Bannung einer zugleich lockenden und abweisenden Vaterfigur zu lesen, geschrieben zu einer Zeit, als dieser sich dem Sohn noch nicht in der entlarvenden Offenbarung seiner Kriegstagebücher gezeigt hatte. Da Christoph Meckel sich später die schwere Last auferlegt hat, das Bild seines Vaters nur noch durch äußerste Aufrichtigkeit zu ehren, muß dieses Bild einstmals große Macht über ihn gehabt haben. So haben wir vielleicht in unserem Gedicht das Vorzeichen eines Zeugnisses vor uns, von dem ich glaube, daß es in der deutschen Literatur bleiben wird.
Harald Weinrich, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982
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