– Zu Paul Celans Gedicht „Und Kraft und Schmerz…“ aus Paul Celan: Gedichte. In zwei Bänden. –
PAUL CELAN
UND KRAFT UND SCHMERZ
und was mich stieß
und trieb und hielt:
Hall-Schalt-
Jahre,
Fichtenrausch, einmal,
die wildernde Überzeugung,
daß dies anders zu sagen sei als
so.
Paul Celan starb im Jahre 1970. Er starb freiwillig. Ein Jahr nach seinem Tod erschien der Band Schneepart, in dem dieses Gedicht steht. Es ist ein Gedicht, das vom Leben handelt. Vom erlittenen Leben und von jenem anderen Leben, das Schreiben heißt.
Wenn am Anfang des Gedichtes zuerst der Schmerz dann die Kraft genannt wäre, könnte man glauben, es sei eine Kraft gemeint, die dem Schmerz widersteht. So aber, dem Schmerz vorangestellt, ist es offenbar eine feindliche, verderbliche Kraft, diejenige wohl, die den Schmerz gebracht hat. Der schlagende, im zweiten und dritten Vers sich überschlagende Rhythmus versinnlicht die Wirkung dieser stoßenden und treibenden Kraft deren endliches Halten dann wohl auch nicht als schützendes Erhalten, sondern als hinderndes Festhalten zu verstehen ist.
Wie lange dauert dieses Leben an? „Hall-Schalt-Jahre“. An diesem Ausdruck werden sich die Leser scheiden. Es wird einige Leser geben, die aus der Luther-Bibel das alte deutsche Wort Halljahr kennen. Das Halljahr (Celan nennt es einmal in einem anderen Gedicht „das nicht zu enträtselnde Halljahr“) ist in der Bibel, nach neunundvierzig Jahren der Mühe und Plage, das durch Posaunenhall angekündigte fünfzigste Jahr, das Jubeljahr des Herrn, „da jedermann wieder zu dem Seinen kommen soll“ (3. Moses 25, 13). Wer dieses Wort nun aber nicht kennt und sich auch nicht durch einen Kommentar helfen lassen will, kennt immerhin das Wort Schaltjahr, das hier in das Wort Halljahr eingefügt ist, so wie der zusätzliche Tag eines Schaltjahres in den Kalender eingeschaltet wird. Das unerkannte Element „Hall-“ kann dann auf den hallenden Klang der dreifach wiederholten Tonvokale bezogen werden. Die Chiffre der lange währenden, der nachhallenden Zeit bleibt auch in diesem reduzierten Sinne verständlich.
Aus dieser Zeit, schlaglichtartig, eine Erinnerung. Etwas, das einmal geschehen ist, ein Ereignis offenbar. Das Wort Fichtenrausch erlaubt aber keine Identifizierung. Nicht einmal rauschartig muß diese Erfahrung gewesen sein, denn Rausch und Rauschen bedeuten ursprünglich das gleiche. Wir wollen dieses Wort Fichtenrausch daher nur als Andeutung eines Ereignisses nehmen, dessen Erzählung ausbleibt.
Warum erzählt Celan nichts? Hier nicht und auch sonst nicht? Warum hat er nur Gedichte geschrieben? Warum sind diese Gedichte mit den Jahren immer kürzer, immer karger, immer unzugänglicher geworden Die letzten Verse des Gedichtes deuten einen möglichen Grund an. „So“ kann man nicht mehr schreiben. Das heißt genauer: so, wie man immer erzählt hat, kann man nicht mehr erzählen.
Daß hier das Erzählen gemeint ist, ergibt sich aus der ganzen Form des Gedichtes. Wir finden am Anfang, fünfmal wiederholt, das „und“ des Erzählers, der Ereignis an Ereignis reiht. Texteinleitend hat dieses „und“ zudem biblisch-erzählenden Klang. Auch das „einmal“ kennen wir aus vielen Geschichten als Erzählsignal. Aber die Erzählform bleibt in diesem Gedicht fast ohne Inhalt. Was muß geschehen sein in diesem Dichterleben, daß Paul Celan es nicht mehr erzählen und sich durch das Erzählen nicht mehr davon befreien kann! Denn „dies“ ist nicht mehr erzählbar, vom Erzählen ist keine Entlastung zu erwarten. Man müßte es ganz anders sagen – aber wie? Vielleicht wildernd, „auf Bedeutungsjagd“, wie es in einem anderen Gedicht Celans heißt. Vielleicht aber gibt es gar keine Sprache, in der gesagt werden könnte, was Paul Celan überzeugt war, sagen zu müssen.
Unbefriedet verlassen wir dieses Gedicht. Es ist mit seinen wenigen Worten ein großes Gedicht der deutschen Literatur. Es ist zudem ein biblisches Gedicht, ein Hiobs-Gedicht, ein Testament für Juden und Christen. Es will brüderlich gelesen werden. Denn es ist ein Gedicht unseres Bruders Paul Celan, der auch in seinem fünfzigsten Jahr, seinem Hall- und Todesjahr, nicht zu dem Seinen kam.
Harald Weinrich, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977
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