– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „De mortius oder: üble Nachrede“ aus Peter Rühmkorf: Gesammelte Gedichte. –
PETER RÜHMKORF
De mortuis oder: üble Nachrede
Langsam schließen sich die Wunden der Jugend, und nichts will an ihre Stelle
aaaaatreten.
Auch das Leiden an der Menschheit
wird ja mal zum bloßen Routinefall;
nun, dann kokelt die alte Seele wohl so allmählich zu Ende,
es geht immer so weiter mit uns,
und wenn es weiter so weitergeht wie bisher,
ist bald Schluß.
Jetzt, zum Beispiel, haben wir auch die Linden schon wieder im Rücken.
(Wer spricht noch vom Flieder?)
Man wagt fast gar nicht mehr Ich zu sagen bei soviel Geschäftigkeit.
Bald,
wenn mit unaufhaltsamen Blättern
der Herbst
abwinkt
und auch die Drosseln ihre Lieder einziehn,
heizt du die hohle Brust
– Jetzt Kohlen kaufen! –
mit Nietzschewörtern.
Kein Grund zum Aufgeben, Meister!
Auch das Alter ist noch ein durchaus vollgültiger Lebensabschnitt,
und solange der Stuhlgang gesichert ist,
der Tag doch nicht unerfüllt –
Ah – natürlich,
und dann noch der Trick mit dem Einerseits-andrerseits,
schleimlösende Dialektik:
das lernt man doch auch erst in, sagen wir, vorgeschrittenen Jahren.
Wenn die Spannkraft nachläßt.
Und der Mund sich auftut:
grau
und von Liedern leer.
Die Bibel weiß es genau: das Leben des Menschen währt siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, achtzig. Also, mit fünfunddreißig, vierzig, da geht das schon los, da hält man plötzlich auf halber Strecke an und kuckt – nach beiden Seiten. „Nel mezzo del cammin di nostra vita“, heißt das bei Dante, „Hälfte des Lebens“ bei Hölderlin, und auf glattdeutsch heißt es:
unsere besten Mannesjahre.
Halbzeit also. Bei Hölderlin (den Peter Rühmkorf so gut kennt wie seinen Walther, seinen Klopstock) sind die gelben Birnen noch da und die wilden Rosen. Sommer. Aber das unausweichliche Ende ist schon sichtbar mit seinen winterkalten Mauern und seinen sprachlos klirrenden Fahnen. Bei Rühmkorf und seinem zweifelnden Ich ist das so: die in der Jugend geschlagenen Wunden (das klingt halb nach Sünden, halb nach Wunder) haben sich spurlos geschlossen, die Flieder- und Lindenzeit ist schon gewesen, es ist also um den Juni herum oder – in Hamburg, wo Rühmkorf lebt, kommt alles ein bißchen später – um den Juli. Hochsommerzeit, hohe Zeit des Jahres, bald wird die Ernte eingefahren. Bald? So bald wie warte-nur-balde?
Nach diesem „Bald“ rutscht das Jahr schnell ab. Die Zeit des Peter Rühmkorf geht dahin, und sein fröstelndes Ich, das nicht mehr „das lyrische Ich“ sein will, wärmt sich an Brennmaterialien höchst unterschiedlicher Herkunft. Denn diese Kohlen stammen nicht nur aus den Klischees der Alltagssprache (ist das auch Volksvermögen?), sondern auch aus einem der wenigen Gedichte Nietzsches:
Ja, ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich!
Dieses Gedicht trägt den Titel „Ecce homo“. Auch Rühmkorfs Gedicht könnte so heißen, so oder ähnlich.
In der letzten Strophe haben die – luthersch gesprochen – leidigen Tröster das Wort, die stehen dann um den Ausgebrannten herum mit ihrer Lebensversicherungssprache, perfekt euphemistisch, fast euphorisch. Und auch die „Einerseits-andrerseits“-Sager sind darunter (die Intellektuellen sind wohl gemeint), die immer schon zwischen den Klassen und zwischen den Stühlen saßen und es nun selber zu merken scheinen. Ist dies nun auch eine Dialektik? Oder ist das die Dialektik? Das möchte man vielleicht noch etwas genauer wissen, der Trick ist noch nicht ganz aufgeklärt.
Aber was macht’s, wo ist da der Unterschied? Die Lieder kommen, wenn ihr Verfasser es auch nicht ganz wahrhaben will, ohnehin aus anderen Antrieben, wenigstens wenn es sehr gute Lieder sind, wie bei Rühmkorf.
Harald Weinrich, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977
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