Zur Fragestellung der Generation, die sich nach dem Krieg für Literatur, Musik, bildende Kunst interessierte, gehörte die Wiederentdeckung der älteren Moderne; es kam darauf an, an dieser Wiederentdeckung und deren Verarbeitung erst einmal die Grenzen abzustecken und so, wenn möglich, für das 20. Jahrhundert eine eigene Tradition zu konstruieren. Die heute Zwanzig= bis Dreißigjährigen dagegen müssen sich eben mit dieser Generation der Wiederentdecker auseinandersetzen. Ihr Verhältnis zu dieser neuen Tradition, wenn überhaupt es eine ist, ist verschränkt und vermittelt. Und das erste, was sich feststellen läßt, ist ein generelles Fehlen von jener Entdeckerlust, die uns Ältere bewegt hat, eher herrscht die Vorstellung, daß alles allzu bekannt sei (obwohl oft bei näherem Zuschaun lediglich die Schlagworte, das Abgezogene bekannt sind), oder aber es wird das was an spezifischer Tradition des 20. Jahrhunderts vorhanden ist, als ein Vorratsfeld genommen, aus dem man beliebig wählen kann. Die Reaktion aber auf das unmittelbar Vorhergehende ist durchweg polarisiert: Widerstand gegen das Avantgardistische (politisch, neosubjektivistisch, antirational motiviert) und Restauration auf der einen Seite, auf der anderen der Versuch, die Möglichkeit neuer Positionen zu erkunden, zumindest aber das Vorgefundene variierend nachzuüben.
Hartmut Geerken, Jahrgang 1939, Sprachlehrer am Deutschen Sprachzentrum in Kairo, musikalisch ebenso interessiert wie literarisch, gehört zu der Generation, von der ich gesprochen habe. Noch hat er in der älteren deutschen Moderne seine eigene Entdeckung gemacht: das Werk des expressionistischen Satirikers und Philosophen Mynona (Salomo Friedlaender). Doch das spielt nicht eine zentrale Rolle. Von der sogenannten ernsten Musik hat er Übergänge zum Jazz gesucht. Am 31.3. und 1.4.1970 hat er mit dem Cairo Free Jazz Ensemble, einer Gruppe ägyptischer Musiker, eine sehr interessante Aufnahme gemacht, erschienen im Kulturinstitut Kairo als Langspielplatte mit dem Titel Heliopolis. Einflüsse musikalischer Methoden und Übergänge von literarischen zu musikalischen Methoden zeigen sich im literarischen Werk.
Die hier vorgelegte Sammlung von literarischen Arbeiten zeigt einmal die Richtung an, in der sich diese Versuche bewegen, sie bezeugt aber auch, auf welche Weise heute ein jüngerer Autor sich zu artikulieren vermag, wo er neue Akzente setzt, welche Positionen er anstrebt, welche ihm überhaupt anstrebenswert erscheinen.
Am Anfang steht eine gewisse Grundsatzarbeit. „Ein Mann an sich“, „Axiomatisches“, „Meditationstexte“, diese Stücke geben noch einmal Prinzipielles, schon die Titel sind darauf ausgerichtet. Das muß nicht unbedingt neu sein, dennoch hat die Nachübung Originalität in der Entschiedenheit, mit der sie geübt wird. Es wird summiert, was sozusagen aus einer neu gebildeten Tradition der Moderne, insbesondere der Konkreten Poesie, übernommen werden kann. Variierend zeigt das auch „Schlurch van der finsteren Furch“. Überleitend gibt es einige dialogische Texte, die aus der Arbeit im Sprachlabor entstanden sind. Zufallselemente spielen hier eine bestimmte Rolle. Das Dialogische hat auch, so könnte man sagen, Duett-Charakter. Eine neue Perspektive öffnet sich mit den nächsten Stücken: „Entwicklungen“, „Entwicklung, Verwicklung und Auflösung eines Textes aus 11 Wörtern mit 10 Buchstaben in 11 Stufen“ und „Beschreibungen“. Der prozessuale Charakter der Texte wird hier deutlicher. Die Elemente werden in Bewegung gesetzt. Diese Texte haben auch etwas von den Prinzipien der seriellen Musik.
Entschieden neu sind dann die letzten Beispiele: „Stück Nr. 5“, „Diagonalen“ und „Verschiebungen“. Hier wird nicht Text im üblichen Sinne gegeben, sondern Text-Konzept. Geerken selbst spricht von Verbalpartituren. Die Angaben über den formalen Ablauf, über die Struktur des Textes stehen im Vordergrund. Sie sind das Entscheidende. Im „Stück Nr. 5“ ist kein Sprachmaterial angegeben, in „Diagonalen“ gibt es Permutationen von wenigen Basissätzen und die analytische Verkürzung dieser Sätze. Die Sätze haben Zufallscharakter. Eine Grundsituation kann nicht erschlossen werden, obwohl eine gewisse Andeutung immer offen bleibt. Semantik ergibt sich allein aus der strukturalen Kombinatorik, aber immer nur eine fast bedeutungsleere, bedeutungsanspielende. In den „Verschiebungen“ gibt es nur einen rudimentierten Satz:
Man soll machen oder irgend etwas machen aber etwas gutes muß.
Dieser rudimentäre Satz wird akustisch durchstrukturiert nach einem gegebenen Schema. Wenn ich nun so beschreibe, nehme ich bereits ein mögliches Produkt, das nicht auf dem Papier steht, als das Gemeinte voraus. Daß Geerken Konzeptliteratur macht, bedeutet ja aber, daß er nicht dieses Produkt verbatim auf dem Papier herstellt, sondern nur Basismaterial angibt und Strukturprinzipien, Spielprinzipien. Der Schritt, der hier getan wird, besteht darin, daß etwas offen und frei gelassen wird. Daß festgelegt wird nur das, was über den gegebenen Text hinausgeht. Dies Darüberhinausgehn könnte man, in altmodischer Terminologie, als imaginär bezeichnen. Es ist insofern nicht imaginär, als ihm jede Andeutung von Imagination oder Einbildungskraft fehlt. Es ist imaginär im mathematischen Gebrauch dieses Wortes, im Sinne von imaginären Zahlen.
Damit aber hat Geerken einen Punkt erreicht, der in der Literatur bisher nur sehr wenigen ins Gesichtsfeld gekommen ist. Solche im mathematischen Sinne imaginären Texte stellen eine der Konsequenzen dar, die aus der Situation gezogen werden können. Was daran entscheidend ist, ob das kalkulatorische Moment oder die Offenheit, vermag auch ich nicht zu sagen. Ich meine nur, daß an dieser Stelle weitergearbeitet und daß von hier aus der verführerischen Restauration Widerstand geleistet werden kann.
Alle Texte Geerkens zeigen die Rationalisierung des Sprachgebrauchs. Kritik dagegen müßte sich gegen das Prinzip einer Rationalisierung von Sprachgebrauch richten. Sie müßte danach fragen, was damit ausgesagt, wenn nicht sogar ausgedrückt werden kann. In dieser Frage aber wäre der neuralgische Punkt der Moderne, unserer Erfahrung in der Welt, in der wir leben, angedeutet: wie weit es uns darauf ankommt, expressiv zu sein oder aber uns zu behaupten und wo überhaupt noch Möglichkeiten zu sehen sind, beides miteinander zu verbinden.
Helmut Heißenbüttel, Nachwort
Kikakoku! Ekoralaps! : ein Abend Phonetischer Poesie mit Oskar Pastior, Hartmut Geerken, Franz Mon und Klaus Ramm am 27.1.1990 in der Bremer Kunsthalle.
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