FREI SIND WIR IN GRENZEN SCHÖN
wenn wir absehen von der naturgegebenheit
unserer inneren anteile
daß sich etwas erstreckt und mitwirkt
an uns dessen entfaltung in uns zu dringen
der raum fehlt der körper das auge
das sinnliche maß des umwurfs
nichts war so groß wie die müßige zeit
an den anfangskanälen früherer herkunft
ein sumpf um ein weiteres stecken
ein zufluß aus kälte aus rufen
aus offensichtlicher dahingewehtheit
von all der strenge im ausdruck
ein sich überlassen können
ein fließen von langen schrecken gefolgt
TURGOR
an Cara Crewes alias Heike Drews
es war einmal ein kleiner junge, der saß unweit der beredten, der stillen frauen am tor in der sonne und sah ihnen zu und hörte ihr lachen. sie banden blumen zu sträußen, wuschen wäsche, schlachteten schweine und rührten das blut. sie hängten die schinken in die esse, brauten allerlei salben und bier. sie bekreuzigten sich, spuckten sich über die schulter und klopften auf holz. sie zündeten feuer an und verstanden die sprache der tiere. sie sangen.
es war aber zur gleichen zeit ein kleines mädchen, das saß jeden tag unweit des anderen tores, wo es den beredten, den stillen männern zuhörte und zusah. die fingen vögel und drehten sich zigaretten. sie spielten laute, schnitzten engel und bergmänner. sie füllten mehl in säcke und pflückten schwarze johannisbeeren. sie bekreuzigten sich, spuckten sich und so weiter. sie konnten in den wolken lesen, das wetter voraussagen und: sie sangen.
nun trafen sich das kleine mädchen und der kleine junge viele jahre später auf einer brücke, in einem brunnen, auf einem berg, in einem tal, in einer theaterkulisse und in einem lichtspieltheater, und gingen von da an gemeinsam. sie brannten lehm zu steinen und bauten sich ein haus mit zwei fenstern. durch das eine blickten sie auf den atlantischen ozean, durch das andere auf den mount everest. mit den mondphasen zogen sie abwechselnd von dem einen in das andere zimmer. im frühling lobten sie den krokus und das schneeglöckchen, im sommer die erdbeere und die birne, im herbst das kartoffelfeuer und den weinstock, und im winter lobten sie den winterschlaf und die vierschanzentournee. sonne mond und sterne lobten sie das ganze jahr über außerdem. sie hatten sieben kinder, die allesamt mützen trugen wie man sie den hyazinthen aufsetzt. sie selbst trugen mützen aus ammonshörnern und donnerkeilen, nach denen sie im meere tauchten und in den gebirgen gruben. ihre kinder verließen sie frühzeitig um sich, wie sie selbst sagten, zu versachlichen. das waren wiedergeburten des bürokratischen zeitalters. die beiden ließen sich davon nicht in ihrer liebe stören, tranken gern alkohol und wußten noch in späteren jahren mancherlei gedicht von dylan thomas und von raja lubinetzki auswendig herzusagen.
Ulrich Zieger
Eigenartig – ein aufwärts fließender Fluß, so faßte ich früher meinen Eindruck von Heike Willinghams Gedichten zusammen. Zumeist vom Meer ausgehend, Küsten- und Stadtlandschaftsbilder reflektierend, Szenen in Zimmern, an Stränden und auf Straßen enthaltend, von Dingen und Menschen, die etwas durchmachen oder hinter sich haben, vom Schicksal gezeichnet oder von unklaren Verhältnissen skizziert sind. Auf unterschiedlichen Stufen ihres Erscheinens lernt man sie kennen, mitunter gleich so unvermittelt nah, daß man sich bereits im Bild wähnt, noch ehe man es ganz gesehen hat. / Beim Lesen findet eine Transformation statt, gemäß der Maxime, daß es gut ist, ein Gedicht zu lesen, aber besser, ein Gedicht zu sein, stets unter der Voraussetzung, daß Schreiben die aktivste Form des Lesens ist. Heike Willinghams erster Gedichtband heißt „Vom Fegen, weiß ich, wird man Besen“, das klingt nach einer Gewißheit, könnte jedoch auch einen Wunsch und die Befürchtung seiner Erfüllung zugleich ausdrücken. Jedenfalls handelt es von einer Wandlung des tätigen Subjekts, seinem Auflösungsprozess in der Arbeitsmaterie. Vielleicht ist das programmatisch: Die künstlerische Absicht manifestiert sich im Schwung des Aufgehens in der Arbeit am Gedicht. Es geschieht etwas, die Geschiedenheit von Subjekt und Objekt verlangt nach Aufhebung, die entworfenen Kulissen der Landschaften und menschlichen Spannungsverhältnisse befinden sich in Bewegung, Hintergrund wird Vordergrund, die Perspektiven von Raum und Zeit verschieben sich wie in filmischen Sequenzen. Die Gedichte, wenn sie denn etwas anderem als sich selbst gleichen sollen, sind aber weniger ein Film als eher ein Schlafsaal der Emotionen, die geweckt werden und Geträumtes in sachlichem Ton erzählen, dabei Illusionen mit realen Beständen abgleichend. Mitunter überraschen sie mit den letzten Fragen der Menschheit, rollen etwas auf, was nur die Götter wissen, wissen von fehlenden Antworten, ersetzen die mutmaßliche Endgültigkeit des Fehlenden vorsichtig durch sich selbst. Hörst du mich klopfen, scheinen sie zuweilen zu sagen, und vor allem: hörst du die Qualität des Klopfens, es ist nämlich im Laufe der Zeit des Wartens auf Aufschluß zu einer ganz eigenen Musik geworden. Früher vermeinte ich, Heike Willingham wäre eine Dichterin der leiseren Zwischentöne, würde im Gestus lakonischer Resignation über schon erschöpfte Themen eine Reihe von freien, postmodern motivierten Improvisationen setzen. Doch gleichzeitig zeichnet sich in den Gewebemustern ihrer lyrischen Textfäden, im Spiel mit Spurenelementen tragischer Konstellationen, die eigene unverwechselbare Handschrift ab. Manche Gedichte lesen sich wie stichwortartige Protokolle, mitunter wie Auswertungen der Geschwindigkeit, in der erlebte Augenblicke, Tatsachen und Empfindungen gekommen und vorübergegangen sind. Andere wieder stellen mit grafischer Genauigkeit Landschaften und Seestücke dar, fügen sich in ihren aufeinander abgestimmten Details zu bewegenden Momentaufnahmen, schreiben das Genre der Naturlyrik fort, sind mehr der Gesang der Dinge als die persönliche Stimme der Dichterin. Die Art ihres Humors wäre noch hervorzuheben, gerade weil sie diskret ist und überhört werden kann: ein ihren Versen angeborener Unterton des sich Wunderns, sich Wundern hier verstanden als reservierte Anteilnahme, aus der sich Formen kritischer Empathie entwickeln.
Andreas Koziol, Juli 2021
Heike Willingham spricht ab Minute 2:11 über die Zeitschrift Herzattacke, in der sie Mitherausgeberin ist.
Heike Willingham liest am 8.3.2016 für planetlyrik.de Gedichte aus dem Band Supermoon.
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