Heinrich Detering: Zu Gottfried Benns Gedicht „Den jungen Leuten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Den jungen Leuten“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Den jungen Leuten

„Als ob das Alles nicht gewesen wäre“ −
es war auch nicht!
war ich es denn, der dir gebot: gebäre
und daß dich etwas in die Ferse sticht?

„Der dichtet wie vor hundert Jahren,
kein Krieg, kein Planck, kein USA,
was wir erlitten und erfahren,
das ist ihm Hekuba!“

Lang her, aus Dunkel, Fackeln und Laterne
versuchten sich um eine klare Welt,
versuchten sich – doch Näh und Ferne
blieb reichlich unerhellt!

Nun sollte ich – nun müßte ich – beileibe
ich müßte nicht, ich bin kein Ort,
wo etwas sich erhellt, ich treibe
nur meinen kleinen Rasensport!

Allons enfants, tut nicht so wichtig,
die Erde war schon vor euch da
und auch das Wasser war schon richtig −
Hipp, hipp, hurra!

 

Dunkelmann im Selbstgespräch

Gerade sieben Jahre war alles vorbei, als Benn diese Verse schrieb. Schlagwörter wie „Kahlschlag“ und „Stunde null“ beherrschten die literarische Szene. In dieser Lage galt der Vorwurf, „wie vor hundert Jahren“ zu schreiben, nicht lediglich irgendeiner Schreibweise. Nicht um Poetik ging es, sondern um Politik und um Moral. Nach Auschwitz so zu schreiben wie vor Auschwitz, das war Barbarei.
Was Benn „den jungen Leuten“ auf diese Vorhaltungen zur Antwort gab, das mußte nicht nur ihnen die Sprache verschlagen. Noch immer fällt es schwer, die ersten beiden Verse dieses Gedichts ohne ungläubiges Staunen, ja Empörung zu lesen: „Es war auch nicht.“ Wie bitte? Und wer ist das, der so redet? Der hier im kästnerschen Kabarett-Tonfall vom Entsetzlichen plaudert – hatte er nicht selbst zu jenen gehört, die den Anbruch des Dritten Reiches enthusiastisch begrüßt hatten? Und ist der Spott über die Aufklärung nicht ein wenig schal im Munde eines einstigen Dunkelmannes, der sich erklärtermaßen schon längst ins „warme Moor“ der vormenschlichen Ursprünge zurückgesehnt hatte, ehe er 1933 den Anbruch der neuen Finsternis bejubelte?
Damals hatte er im Ernst geschrieben, es sei derselbe Geist, der in den Versen Stefan Georges und im Kolonnenschritt der braunen Bataillone regiere. Es dauerte kaum ein halbes Jahr, bis er von diesem Wahn befreit war, und nur wenig länger, bis er selbst verboten wurde und sich mit Ekel und Abscheu von der Diktatur abwandte. Unter dem Schreibverbot aber schrieb er Abrechnungen wie jenen grandiosen „Monolog“ von 1941, der ihn leicht den Kopf hätte kosten können. Und schon da sah er im gegenwärtigen Grauen nur die Bestätigung seiner alten Gewißheit von der Nichtigkeit des Menschen und der Sinnlosigkeit der Geschichte.
„Es war auch nicht“: Das läßt sich mit zwei leichtfüßigen Jamben lesen oder in vier schweren Hebungen. Und je nachdem erscheint der Vers als achselzuckendes Abtun des historischen Ballastes – oder als Bannfluch über die jüngste Geschichte. So wie in manchen theologischen Systemen das Böse und der Teufel selbst keine eigene Substanz besitzen, sondern nichts als Verneinung des Guten und Gottes sind, so soll hier „das Alles“, soll die Geschichte selbst für null und nichtig erklärt werden. Der saloppe Tonfall, der im unmerklichen Wechsel der drei-, vier- und fünfhebigen Jamben einherschlendert: Er ist das Understatement, in das sich der Geschichtspessimismus kleidet, um nur ja nicht zu vollmundig zu werden. Dieser Ton macht es möglich, das große Theodizeeproblem als kleine rhetorische Frage zu formulieren: „War ich es denn, der dir gebot: gebäre / und daß dich etwas in die Ferse sticht?“ Nein, Gottfried Benn war das sicher nicht (allerdings wäre auch niemand auf den Gedanken gekommen, ihm das vorzuwerfen) – also wer dann?
In der Handschrift hat Benn die Gegenfrage „Wer war es denn“ wieder ausgestrichen. Denn daß mit diesem Gebot der Schöpfer seine abgefallenen Geschöpfe für den Sündenfall straft, das erkannte ja doch jeder Leser ohne besonderen Hinweis. Seit der Vertreibung aus dem Paradies sticht die Schlange den Fuß, der sie tritt: im Verderben sind der Mensch und sein satanischer Verführer aneinander gebunden. Seitdem herrscht eine Finsternis, der gegenüber jeder Versuch der Aufklärung ein vergebliches Kinderspiel ist. Schuldlos sind allein Erde und Wasser, die Elemente des dritten Schöpfungstages: die Welt ohne Menschen. Auch wenn dieser entlaufene Pastorensohn, empört gegen die Heilige Schrift, jedes Heil in dieser Unheilsgeschichte verwirft – an ihrem Begriff der Sünde hält er fest. Und selbst wenn hier sogar vom so oft verkündeten Ersatzglauben an die Dichtung als Sinngebung des Sinnlosen nichts geblieben ist als der Hinweis auf „meinen kleinen Rasensport“ – die Kraft seines Aufschlags reicht immer noch aus, um die Weltgeschichte komplett für erledigt zu erklären, für leeren Schein und Nichtigkeit: „es war auch nicht!“
Ein unmögliches, ein skandalöses Gedicht. Warum rührt es mich trotzdem bei jeder Lektüre? Weil das Gedicht seiner eigenen Proklamation ins Wort fällt. Die geschichtliche Erfahrung, die es zu verleugnen vorgibt, bezeugt es doch mit jedem Vers. Indem der Schreiber Krieg, Planck und Vereinigte Staaten verneint, hat er sie beim Namen genannt. Während er sich als Reaktionär ausgibt, hat seine poetische Sprache doch längst mit allem gebrochen, was „vor hundert Jahren“ war. In Wahrheit ist Benns sarkastisches Parlando ein trauriges Selbstgespräch. Gegenüber „den jungen Leuten“ von 1952 will der Gealterte bannen, was doch auch er selbst „erlitten und erfahren“ hat: eine Angst und ein Grauen, die nicht vergangen sind. Davon redet dieses Gedicht in jedem Vers. Und deshalb ist es ganz gegenwärtig.

Heinrich Detering, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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