– Zu Erich Arendts Gedicht „Nach den Prozessen“ aus Erich Arendt: Das zweifingrige Lachen. –
ERICH ARENDT
Nach den Prozessen
Steingrauer Tag,
der sein Lid senkt.
Knie nicht
in den Schatten!
Spreu
schleifen die Stunden,
Spreu, abermillion, die
halt nicht machen
vor deiner Stirn
– Trauerschafott –,
schneller und
schneller, ohne
Geheimnis, und –
kein blutender Kern.
Verzweifelt die
chimärischen Fahnen,
sie blichen im jäh
verdämmernden
Rot.
Gleichgeschaltet
mit abwaschbaren
Handschuhn
gleichgeschaltet durch die
gezeichneten Finger
das erschöpfte
tausendströmige Herz.
aaaaaaaaaaDie da
handeln, an Tischen,
mit deiner Hinfälligkeit,
allwissenden Ohrs,
ledernen
Herzens ihr Gott, sie
haben das Wort:
aaaaaaaaaaWorte,
gedreht und
gedroschen: Hülsen
gedroschen, der
zusammengekehrte Rest.
Gehend im Kreis
der erschoßnen Gedanken
– wie war
doch der Atem groß –
halt versiegelt den Mund, daß
der Knoten
Blut
nicht Zeugnis ablege!
Wo Freude und Recht
gemeuchelt lag,
an der Wand
der Geschichte
stets noch: Du!
Gehend im Kreis – doch
der Meteor
Verfinsterung jagt
am ummauerten Himmel.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaknie nicht –
Blutwimper, schwarz:
das Jahrhundert.
Erich Arendt galt uns lange Zeit nur als „Nebenstimme zu Peter Huchel“ (Klaus Günther Just) und passionierter, nicht unumstrittener Übersetzer spanischer und hispanoamerikanischer Lyrik. Er hat eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Das Buch Ägäis, in dem dies Gedicht steht, eine Sammlung zwischen 1960 und 1964 entstandener Gedichte, verarbeitet neue Griechenland-Erlebnisse, wie sie der Autor auch in Bildbänden beschrieben hat. Aber auch die Weltauffassung und die poetischen Mittel haben sich verändert, so daß man von einem Einschnitt, einem Endpunkt und neuen Anfang sprechen kann. Die erweiterten Möglichkeiten der Abstraktion hat Arendt in seinem Alterswerk bis heute fortgebildet. ,Abstrakt‘ heißt, nach der Parallele der modernen Malerei und Musik, das Komponieren in Farben, Tönen, Worten, welche die Abbildungsästhetik, die klassische Harmonielehre, die Poetik des 19. Jahrhunderts hinter sich gelassen haben. Die neue Formensprache der klassischen Moderne, speziell der Lyrik, kennen wir aus Frankreich von Apollinaire und den Surrealisten bis zu Saint-John Perse oder René Char, von der spanischen 27er-Generation, den russischen Akmeisten und Futuristen, der Universalsprache Ezra Pounds und in Deutschland vor allem aus der expressionistischen Poetik des Sturm-Kreises und in jüngerer Zeit insbesondere von Paul Celan.
Aus den weiträumigen und sehr unterschiedlichen Kunsterfahrungen hat Arendt seinen Stil entwickelt: die Vereinzelung der Worte in luftigen Zeilen und freien Rhythmen, die sich wechselseitig in der Schwebe halten, das ,In-Bildern-Sprechen‘, in absoluten Metaphern, wo inneres Bild und äußerer Gegenstand in eins gesetzt sind, das „Simultanschreiben aus unterschiedlichen Bereichen heraus“, das Biographisches, Historisches, Mythisches, Landschaftliches austauscht und miteinander verschränkt.
Zwar kehrt er mit der Einzelwort-Sprache auch zu seinen Anfängen, den spätexpressionistischen Zeiten im Sturm, zurück, stammen die prägenden Eindrücke aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und der Exilzeit in Kolumbien und hat sich seine Bildersprache im langen Umgang mit romanischer Dichtung entwickelt. Das in ,harter Fügung‘ vorgetragene hymnische und elegische Pathos trug auch die Flug-Oden schon und steht in Einklang mit Hölderlin-Tönen in klassizistischen deutschen und mit neuklassischen europäischen Traditionen unseres Jahrhunderts. Das Neue aber ist des Dichters Abkehr von seiner bisherigen vollmundigen Sprache, das Reduktions- und Aussparungsverfahren, das eine andere Art von Vieldeutigkeit, Verschwiegenheit, eine gewisse Hermetik zur Folge hat und der „Gebrauchsware Vers“ den Rücken kehrt. Sie ist „in meiner Umgebung […] mit ihrer ganzen Landläufigkeit das Übliche, so das ,Kunstgebilde‘ wenig zu Wort kommen lassend“. Für die Lyrik der DDR haben seine Gedichte die Bedeutung, an eine Moderne zu erinnern, die jenseits von konventioneller Verseschmiede und moralischer Epigrammatik in der Nachfolge Brechts steht. Für die westdeutsche Lyrik verkörpern sie wenn nicht eine Mahnung, so ein Relikt hochtoniger europäischer Lyrik, die in der Alltagssprache der ,neuen Sensibilität‘ untergegangen ist.
Wirken die neuen Verse in sich gekehrter und beharren auf ihrer Autonomie, so entsprach das Veränderungen im literarischen Klima der DDR (aber es korrespondierte auch mit Celans und Günter Eichs späten Gedichten). Sind sie in demselben Grade durchsichtiger, ja hautlos geworden, so ist das auch Ausdruck ihrer hochempfindsamen Wahrnehmung dessen, was Arendt „Realität“ nennt. Der Dichter, gebürtig aus Neuruppin, wohnhaft in Ost-Berlin, kehrte heim in die Mittelmeerwelt, die er nie ganz verlassen hatte, sein „poetisches Zuhause“. „Hier am lateinischen Meere, verspür in Fels, in Wein und Olive meine uralte Herkunft ich“, spricht er Rubén Dario nach. Die zerstörenden Gewalten der Geschichte und die zeitüberdauernde Humanität, sprich: die natürliche Beschaffenheit des Menschen, treten ihm klarer in der Natur und Kultur der Griechen hervor als in der trüben und düsteren Atmosphäre des Nordens und unseres blutigen Jahrhunderts.
Der antike Mythos tritt wieder in sein Recht, das er in der deutschen Literatur innehatte: als geistiger Ort elementaren Verhaltens, als „zeitlose“ Gegenwelt gegen den „Nutzwert“ und die „Vergewaltigung“ von Geschichte, als Beispiel, wie der Mensch in sich und in der Natur das Dasein und das „ungebrochene Selbst“ achtet. So oder ähnlich hat es Arendt formuliert. Man hat deshalb in den Gedichten die Flucht aus der Gegenwart und der Geschichte in einen paradiesischen Zustand (Rüdiger Bernhardt) oder in eine menschenlos starre, zumindest atavistische Urzeit (Fritz J. Raddatz) zu finden geglaubt, wenn man sie nicht gar als bloße Bildungspoesie abtat (Friedrich Dieckmann).
Tatsächlich stehen die Verse aus Ägäis der idyllischen Verklärung der klassischen Antike wie der Mythenseligkeit eines Theodor Däubler sicherlich ferner als jenen Bildern des archaischen Griechenland, die Karl Rottmann oder in seiner Griechischen Reise Bachofen malte: die „nackte, ausgeraubte Landschaft, der tellurische Stoff der Natur, die dem Tod verfallene Geschichte, die Äternität, die vergeistigten Züge Griechenlands“ (Walther Rehm). Die Gesichte des „Kentaurischen“, die Hofmannsthal in den „Augenblicken in Griechenland“ erschreckten, des „vulkanischen“ und „meteorischen“ Landes, der „lähmenden Stille“ (Rehm), wie sie Rudolf Borchardts „Volterra“ beherrschen, tauchen auf. Die Verwandtschaft mit der Malerei, Picassos etwa oder des befreundeten Werner Gilles, hat Arendt selber hervorgehoben. Doch wie auch immer die Pole der Mythenaneignung von der Tradition gesetzt und besetzt seien: die Geschichte ist aus ihr nicht ausgespart, die Zeitlichkeit und Zeitgebundenheit als absolute Instanz nur relativiert. Liest man die Gedichte vollends als „sublime Erfüllung eines Programms“ sozialistisch verinnerlichter Klassizität, das von Johannes R. Becher und Georg Maurer der Lyrik der DDR vorgegeben ist (Adolf Endler, Heinz Czechowski), so darf man, diesem dialektischen Wink folgend, den Vorwurf der Flucht aus der Zeit sogar als Bestätigung der Aktualität verbuchen: der Fluchtpunkt im Mythos stellt den künstlerisch zementierten Fortschrittsoptimismus, der glaubte, die klassischen Ideale in der jüngsten Geschichte verwirklicht zu sehen, „sublim“ und grundsätzlich in Frage. Der Prozeß Sokrates nun gar, so mythisch beispielhaft er sein mag, ist eigentlich überhaupt kein Mythos, sondern Geschichte, und das Gedicht, das ursprünglich diesen Titel führte, ist ein Zeitgedicht, wie es im Grunde die anderen Gedichte des Zyklus auch sind. Dessen vier Teile lassen eine Ordnung erkennen: nachdem der erste die Steine, die Inseln zum Reden gebracht hat, ist im zweiten ein freieres, persönlicheres Leben, ein körperliches, liebendes Dasein stärker zu spüren. Der dritte ist der mythologische Teil, sammelt die Verfinsterung aus Historie und Dichtung der Alten, der vierte ist dem Feuer, dem Vulkanischen, der bebenden Erde gewidmet, von der Abschied genommen wird mit dem Gedicht, das „Ankunft“ heißt.
Unter den mythologischen, den rahmenden homerischen des dritten Teils, in dem unser Gedicht seinen Platz hat, ist es das historischste; mit der benachbarten „Elegie“, der ein Zitat des Thukydides vorgesetzt ist, fordert es die Deutung auf Politisches am meisten heraus. Diese gewisse Sonderstellung wird dadurch bestätigt, daß es in der jüngsten Ausgabe von Gregor Laschen nur noch „Nach den Prozessen“ betitelt ist („ein aus durchsichtigen Gründen geänderter Titel“, wie der Herausgeber anmerkt) und in die bebilderte Sammlung der Agäis-Gedichte von Gerhard Wolf nicht aufgenommen wurde.
Folgt man dem Hinweis des Titels, so handelt es sich um den Tageslauf eines Gefangenen, wessen auch immer, der seine Hinrichtung oder, falls er bußfertige Bekenntnisse ablegt, Begnadigung zu erwarten hat. Die Abbreviatur der ersten beiden Zeilen schließt nicht nur die leere Zeit und das abwesende Licht (das unsichtbare Auge ist die Sonne) zusammen, sie verkürzt auch die Zeit auf einen Tag, die zugleich Lebens-, mehr noch, wie die Wiederkehr der Bilder am Schlusse zeigt, säkulare Zeit ist. Auch die Aufforderung, nicht aufzugeben, nicht sich zu demütigen und „Zeugnis abzulegen“, kehrt zweimal wieder, eine Repetitio, durch Eindringlichkeit und Beharrlichkeit den Kreislauf des Gedichtes aufhaltend, wenn auch die Aposiopese „knie nicht –“ am Ende fast erstickt erscheint. Die Stunden des Gefangenen sind durch leere Wiederholung gezeichnet, aber auch die Worte der Richter: das gedroschene leere Stroh, die Spreu, diese alltägliche und biblische, auch homerische Metapher der Nichtigkeit und Vernichtbarkeit, macht weder vor den Argumenten und Phrasen der Machthabenden noch vor den Gedanken des Gerichteten, vielleicht Gerechten halt. Die ausdrucksvoll kühne Metaphorik der dritten Strophe („deiner Stirn / – Trauerschafott –“ [9f.], die Spreu der Stunden „ohne / Geheimnis, und – / kein blutender Kern“ [12–14]) verlegt die Richtstätte vor und nach innen in die „Hinfälligkeit“ des Verurteilten. In ihm herrscht dasselbe präpotente Präsens einer um ihren Sinn, ihr Leben gebrachten Gegenwart, wie in den Köpfen derer, die „das Wort haben“. Diese, mit den Insignien der Folterknechte, der Spitzel, der Wortverdreher, der Götzendiener gezeichnet (aber ein Gott „ledernen Herzens“ ist auch ein toter und gewalttätiger Götze), sitzen an den „Tischen“, die Richtertische, einstmals die Tische der Götter (wie bei Goethe und Hölderlin) waren. Ihr Übermut scheint sich allerdings darin zu erschöpfen, daß sie alle Hoffnung vernichtet, die Menschen „gleichgeschaltet“ und die Geschichte zur Wand der Exekutionen gemacht haben. überall dort, wo das Perfektpartizip diesen Zustand der tödlichen Endgültigkeit anzeigt, ist diese böse, nie mit Namen genannte Macht an der Arbeit. Wer sind diese Anonymen, „Die da / handeln, an Tischen, / mit deiner Hinfälligkeit“ (27–29)? Wer ist das angeredete Du, das zum Durchhalten ermutigt wird und immer dort das Opfer war, „Wo Freude und Recht / gemeuchelt lag“ (47f.), wenn es nicht nur Sokrates ist?
Bevor der Adressat und die politische Stoßrichtung benannt werden können, muß man Genaueres über das Verhältnis des Opfers zu seinen Henkern auszumachen suchen. An zwei Stellen erscheint noch eine andere Zeitstufe, die historische Vergangenheit dessen, was leider nicht mehr ist: „Verzweifelt die / chimärischen Fahnen, / sie blichen im jäh / verdämmernden / Rot“ (15–19) und „Gehend im Kreis / der erschoßnen Gedanken / – wie war / doch der Atem groß –“ (39–42). Es ist die eigentlich elegische Zeitstufe. In der ersten Ausgabe (von Volker Klotz) stand noch: „die wilden Hoffnungsfahnen“ (es ist, außer einigen Zeilenbrechungen, die mehr Luft oder, mit Gerhard Wolf zu reden, mehr Ozean hineinbringen, die einzige Änderung). Wessen Hoffnungen sind zu Chimären geworden, woran sind die Fahnen verzweifelt, wovon soll der Knoten Blut nicht Zeugnis ablegen? Von den erschossenen Gedanken, die doch so großartig waren, oder von der Tatsache, daß sie erschossen, nicht mehr gedacht und nicht mehr geglaubt werden? Das „tausendströmige Herz“ des Opfers, des Dichters („mein rhodisches Herz! Ach, immer die Unzeit, Narbenriß der Stunde!“ heißt es in „Stunde Homer“), steht es nur schroff denen mit dem Gott ledernen Herzens gegenüber, die es gleichschalten, hat es sich nicht selber gleichgeschaltet, ist es nicht auch „erschöpft“?
Die Vieldeutigkeit und Mehrschichtigkeit des Kunstgebildes enthüllt sich. Sie ist, wie der Kontrast der Farben der Schatten und des Blutes, der sich vom Steingrau und dem verdämmernden Rot zu den Oxymora „Meteor / Verfinsterung“ (53f.) und „Blutwimper, schwarz“ (57) ins Apokalyptische steigert, streng komponiert: hinter der Konfrontation des Opfers und seiner Henker und der Ermahnung zur Tapferkeit löst sich eine zweite Schicht der Selbstermahnung und Selbstanklage ab. Die am Archetypus des Prozesses gegen die Vernunft, am Prozeß Sokrates, festgemachte paränetische Ode verwandelt sich in verzweifelte Klage und Protest angesichts der Gewalt, die in unserem Jahrhundert Menschen einander und sich selbst antun. Der Prozeß Sokrates wiederholt sich nicht: Sokrates bewahrte sich in der Verurteilung die Freiheit und bewies die Unsterblichkeit der Seele, während hier gerade die Freiheit der Seele in Frage steht, von ihrer Unsterblichkeit zu schweigen. Und die Klage verwandelt sich wieder, liest man in den Bildern des steingrauen Tags, des Auges, der Stirn, der Hand, der Wunde usw. die anderen Gedichte mit, in eine Art physiologischer Betrachtung der Geschichte: ist der Tag wie ein Jahrhundert, so ist schließlich das Jahrhundert auch nur ein Lidschlag der Zeit.
Leg
die Stirn
unters lautlose
Fallbeil Zeit:
Erglimmt, greifbar, ein Flugkorn, noch
der Tag? („Elegie“).
Es ist, als ob menschliches Tun und Naturgeschehen doch nicht so verschieden sind, wie man gewöhnlich glaubt.
Die Bildersprache zwingt aber nicht nur kühn die Gegensätze Natur und Geschichte zusammen, sie hat zugleich einen sehr aktuellen, politischen Sinn. Sie beantwortet nämlich auch die Frage: wer sind hier die Opfer, wer die Henker? Da ist das Wort „gleichgeschaltet“ (23), ein Nazi-Begriff, aus dem Wörterbuch des Unmenschen oder das Bild vom „ledernen Herzen“ (31f.), die Parole „Knie nicht“ (3, 561: sie stammen aus dem Widerstandskampf gegen die Faschisten; aus der „Ballade von der Guardia Civil“ das „lederne Lächeln des Todes“ und der Refrain „Dreispitz aus Todesglanz und Leder“, und aus dem Sonett „Das Beispiel“:
Stehst du vorm Blutgericht, beug nicht zuletzt dein Knie.
Es ist die Mahnung, die von Madrid nach Rom und Berlin ausgeht. Gerhard Wolf sah wohl deshalb die spanischen Prozesse von 1937 als gemeint an. Man könnte an das Aushalten und den Tod des Dichters Miguel Hernández in den Gefängnissen Francos denken, von dem Arendt im Vorwort zu seiner Übersetzung berichtet, und an den Schlachtruf der Arbeiterführerin La Passionaria:
Lieber stehend sterben als kniend leben!
Andererseits: die „chimärischen Fahnen“ legen die „kaum verschlüsselte Anspielung“ (Klotz, Laschen) auf stalinistische, insbesondere die Prozesse „gegen Slansky und andere“ nahe, die zu ihrer Zeit schon den Dichter Louis Fürnberg verwirrt hatten. Die „Verfinsterung“ ist in einer ganzen Reihe von Gedichten aus dem Jahre 1961 zu spüren (am deutlichsten in der Zusammenstellung von Wolf): „Elegie“, „Erdbeben“, „Spruch“, „Hahnenschrei“, „Nach dem Prozeß Sokrates“, „Prager Judenfriedhof (für Paul Celan)“. In ihnen ist von Verrat der Freunde, ungerechter Hinrichtung, Spitzeln, von Reue und Selbstbezichtigung, Gedächtnis der ermordeten Juden die Rede. Das deutet auf jene Säuberungen der kommunistischen Partei der ČSR 1952, in denen man durch Folterungen und Versprechungen falsche Geständnisse erpreßte, in denen unter den vierzehn Angeklagten elf Juden waren und über die der mit Arendt befreundete Artur London sowie die Veröffentlichung der Prager Protokolle später (1968) Aufschluß gaben. Artur London, den Gefährten im Spanischen Bürgerkrieg, KZ-Häftling in Mauthausen, hohen kommunistischen Funktionär und Angeklagten im Prager Prozeß ( dem auch, unter seinem alten Decknamen Gérard, das Gedicht „Hafenviertel II“ gewidmet ist), kann man sich unter den Helden und Adressaten unseres Gedichtes denken, zumal gerade die Tätigkeit als Freiwilliger in den internationalen Brigaden auch vor den richtenden Parteigenossen wieder zu den Verdachtspunkten gehörte. („der Knoten Blut“ könnte auf die Tuberkulose deuten, die er sich in Mauthausen geholt hatte und die unter den Mißhandlungen wieder aufbrach. Den Versuch, die Krankheit bis zum Selbstmord zu treiben, gab er aber auf, um nicht als schuldig zu erscheinen.) Der Rückschluß auf die Ähnlichkeit der verurteilenden Gewalthaber liegt auf der Hand, der Schluß auf des Dichters eigene Lage, liest man das Gedicht als Selbstbekenntnis, nicht fern.
Die Bilderschrift des Gedichts hat also auch und zuallermeist eine politische Spannung und Gleichung auszuhalten. Je tiefer, existentieller und widersprüchlicher die Betroffenheit, desto deutlicher übernimmt sie die Aufgabe der historischen Reflexion. Warum gerade im Jahre 1961 Ohnmacht und Zorn gegenüber dem „Wolfshunger Geschichte“ sich so häufig ausdrücken, ist nur zu vermuten. Vielleicht drangen jetzt erst, mit beginnender Rehabilitierung, Berichte von den Prozessen zu Arendt, vielleicht ist der „ummauerte Himmel“ ein Hinweis. Spätere Gedichte („Marina Zwetajewa“, „Hafenviertel“) setzen diese Reflexion fort. Die Bilder sprechen eine beziehungsreiche Sprache. Nur dem Vergeßlichen wird sie unentzifferbar, zum Idiom einer Kaste, wie nicht mehr verstandene Hieroglyphen:
Spreu das Straßengedächtnis.
Was sie schwierig macht, ist ihre Anstrengung, nicht aufzugeben:
als hätte Leiden Vernunft unter der Gleichung Lüge Macht.
Heinrich Küntzel, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982
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