Heinz Czechowski: Kein näheres Zeichen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heinz Czechowski: Kein näheres Zeichen

Czechowski-Kein näheres Zeichen

DER SCHÖNE TAG

Ich halte die Fenster geschlossen.
Im Halbdunkel lebend, leugne ich nicht
Die Seele und ihre Formen.
Aber das Nichtstun bewährt sich nicht mehr
In der schönen romantischen Weise.
Die Sinnlosigkeit dieser Welt
Begriffen zu haben, nennt einer Gnade.
Da streit ich lieber mit Gott,
Während sein Atem ums Haus geht,
In dem ich liege und wart auf die Nacht:
Unermüdliche Arbeit.

 

 

 

Wer nach Anliegen und Absichten

dieser Gedichte fragt, braucht nicht lange zu suchen. Er kann sich mit ihrem Autor auf den Weg machen, der ihn mitten durch unsere Tage führt – die Achse entlang, um die sich Europa einst drehte – quer durch Sachsen, die Heimatlandschaft an der Elbe, der dieser Dichter seine wesentlichsten Verse widmet, um von dort aus aufzubrechen nach Norden und Süden, Osten und Westen und zugleich in die nahe und ferne Vergangenheit, die ihm unmittelbar im Alltag von heute begegnet, dem Raum, „in dem jenes Himmels- und Höllengebilde zu finden wäre, das man Wirklichkeit zu nennen beliebt“.
Ich bin verschont geblieben / Aber ich bin gebrandmarkt – Heinz Czechowskis neue Gedichte, wiederum Fragen stellend, an sich, an uns, an diese Welt überhaupt, sind auf dieser unablässigen Suche nach dem genauen Text – diesem Abbild des Lebens; nicht bemüht um die angestrengte Metapher und doch auf eindringliche Weise unversehens metaphorisch in vielen Zeilen, die wir nun mit ihm zur Verfügung haben.
Die ungerufenen Worte stellen sich ein – sagt dieser Dichter und konfrontiert uns, indem er scheinbar nur von sich selbst spricht, mit unseren eigenen Erwartungen, Ängsten und Hoffnungen, weil uns sein Wort direkt betrifft.
„Ein Gedicht“, sagt er, „wird bekanntlich von vielen geschrieben. Auch ich gebe nur weiter, was ich empfangen habe.“
Mit diesem Gedichtband gehört Heinz Czechowski zu den wesentlichen Lyrikern von heute in deutscher Sprache.

Gerhard Wolf, Aufbau Verlag, Klappentext, 1988

 

Heinz Czechowski: Kein näheres Zeichen

Heinz Czechowski gehört zu den wenigen Auserwählten, die öfter ins „kapitalistische Ausland“ reisen dürfen und darüber hinaus die Gabe besitzen, über die Auslandserfahrungen in literarischer Form zu berichten. In Prosa hat er u.a. die Erotik, Exquisitäten und Gastronomie in Frankreich beschrieben (in von Paris nach Montmartre und Herr Neithardt geht durch die Stadt). Auch in der Gattung des Reisegedichts kennt Czechowski sich gut aus. Der bedeutend längste Zyklus in seinem neuen Gedichtband, „Hier und Dort“ hält die Eindrücke während Aufenthalte in Schweden, Frankreich, der Bundesrepublik und vor allem in England fest. Um eine Enttäuschung beim zukünftigen Leser vorzubeugen: die Texte enthalten keine touristischen Beschreibungen, schildern nicht die jeweilige bunte couleur locale, vermitteln statt dessen die Wehklagen eines „Reisenden in Literatur“ der seine Freizeit und Freiheit nicht richtig zu genießen weiß.

Erst im Hotel,
Das du wiedererkennst,
Daß du vor hundert Jahren
Schon einmal
Hier gewesen

(„King’s Cross“);

Was also habe ich hier
Zu suchen

(„In York“);

Müde
Der allzu flotten Boutiquen,
Suche ich nach einem Ort,
Der Vergessen ermöglicht

(„Risotto à l’asiatica“).

Kein geselliger Reisepartner, wenn er in fast jedem besuchten Ort die Heimreise thematisiert, als ob die Wiederkehr in vertraute Umgebung das eigentliche Ziel der Reise sei.
Die Fahrten bilden eine Kreisbewegung, die Wege eine Spirale, deren Achse oder Mittelpunkt Dresden und die sächsische Provinz ist. Von daraus setzt sich Czechowski in Bewegung, um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren:

Und wieder gehe ich im Kreis, versuche,
Mich zu überholen,
Wie ichs vor Jahren gelernt, verzweifelt
Mach ich Versuch um Versuch…

(„Zwei Gedichte, Januar 1981“).

Dem Sog, von seiner schicksalhaften Heimatlandschaft auszugehen scheint, entkommt der Dichter nicht, denn

Sachsen im Herzen,
Im Herzen der Welt,
Wenigstens meiner.

(„Missingsch“).

Dresden, am 13. und 14. Februar 1945: ein Schnittpunkt in Czechowskis Biographie. Wie Volker Braun und Karl Mickel hat er die Bombardement auf die ehemalige sächsische Hauptstadt als Kind miterlebt, aber wie kein anderer ist Heinz Czechowski mit jenen horrenden Ereignissen verwachsen. Er macht es sich, wie etwa Wulf Kirsten, zur Lebensaufgabe, die immer undeutlich werdenden Spuren des Lebens im alten Zentrum Europas zu sichern, vermittelt den Nachgeborenen darüber hinaus das Leiden der Opfer der Geschichte. Dabei verbraucht er ein Minimum an Pathos.
Zweiundvierzig Jahre danach macht der Dichter in der Manier Günter Eichs Inventur seiner Kindheit („Nachkrieg“), konserviert er seine Welt, als hätte er einen kalt registrierenden Fotoapparat statt einen Feder in der Hand („Wintertag“) und erzählt leidenschaftslos die Geschichte scheinbar unwesentlicher Menschen und Orte („Ich und die Folgen“). Alles in der Anstrengung, die Erinnerung sprachlich zu stabilisieren, bevor sie unserer wachsenden Gedächtnislücke anheimfällt. In dieser Fähigkeit, Totes zum Reden zu bringen – die Museumsfunktion der Poesie –, ist Günter Kunert Czechowski vorausgegangen, welcher der meistzitierte und porträtierte Freund und Kollege im Band ist. Aber auch Sarah Kirsch, Franz Fühmann und Adolf Endler werden mit einem Platz in der Galerie bedacht. Die Porträtgedichte knüpfen an eine lange, DDR-spezifische Tradition (bei etwa Brecht, Becher und Bobrowski) an und gehören zu den am besten gelungenen Texten der Sammlung. Auch das Porträt beabsichtigt. Vergängliches festzuhalten, wobei wir aber gleichzeitig einen Eindruck von der literarischen Landschaft, in der sich der Porträtierende bewegt, bekommen. Es scheint, als verschwinde bei jedem Pinselstrich jene Depressionen, die die Gedichte in Kein näheres Zeichen sonst beherrschen. Denn als „Landvermesser“ fühlt Czechowski sich immer nur Objekt der Geschichte und bemüht sich (übrigens vergeblich), das eigene Ich zu retouchieren:

Kam ich als ein anderer um die Ecke,
Mir selber entgegen, würde ich mich
Erkennen?

Die meisten Gedichte wurden unter dem Stern der Vergeblichkeit geschrieben:

Dichter kommen und gehen,
Es bleiben die Wörter

so weit so gut, aber dem Papier sagt Czechowski den sicheren Verfall voraus, und die Wörter werden zur „Asche Vergessen“ („Der genaue Text“). Die Angst vor dem Vergessen, dem Verwischen der Zeichen ist wiederum mit den landschaftlichen Eigenarten Sachsens, oder gar der DDR verbunden. Das Metier des „Landvermessers“ endet dort, wo die Gegend durch Betonierung, Umweltverschmutzung und grobe Vernachläßigung (erneut) ruiniert wird. Der Dichter muß gegen das Abblättern des Putzes, den Kohlenrauch und das verschmutze Trinkwasser anschreiben, was ihm letztendlich, nach den hundertunddrei Gedichten, die Sprache verschlägt: keine Schreie, keine Flüche mehr im letzten Zyklus, sondern bloß das nächtliche Rascheln von Fingern in des Lyrikers Papieren, das den Kampf mit dem „gewaltig / sich blähenden Nichts“ verrät.

Gerrit-Jan Berendse, GDR Bulletin, Heft 2, 1989

Büchertelegramm

Der Dichter fordert seine Leser gewissermaßen auf, sich mit ihm auf den Weg zu begeben, durch seine Heimat Sachsen wie in ferne Gegenden aller Himmelsrichtungen und in die Mitte der Erinnerungen. Er führt sie in die Vergangenheit und in die Zukunft und drängt sie hinein in die Wirklichkeit unserer Tage. Was er in Verse faßt, sind Befindlichkeiten, Meditationen, auch Anklage, Fragen nach Ängsten und Hoffnungen.
Es sind Metaphern des Lebens, Metaphern der Welt mit ihren Freuden und Bitternissen, die Heinz Czechowski mit gut gewähltem Wortschatz und rhythmischer Sprache zusammenfügt. Vor allem aber schwingt die Seele mit, so daß der Leser das Nachdenken des Dichten zu eigener Besinnung zu vollziehen vermag. Wie vor dem Tor eines Jüdischen Friedhofs, da ihm erneut gewahr wird: „Ich / Bin verschont geblieben“, und daß selbst der Chronist versagt, weil sich hinter Fakten unzählbare individuelle Tragödien verbergen.
Unter dem Titel „Das Vergangene fern“ fragt er, „Ob wir uns selber vernichten, / Durch Vergeßlichkeit, / Anmaßung, / Oder vielleicht Nur aus Mangel an Demut“. Und dann wieder warnt er vor der Klage, die mit der Ohnmacht einhergeht:

Entferne dich nicht
Zu weit
Von der immerwährenden
Gegenwart:
Hier
Ist dein Jetzt…

Dem Einsamen aber reicht der Trost:

Öffne dein Herz:
Auch du Bist, wo du hinkommst,
Willkommen,
Das Brot zu teilen,
Das Dunkel,
Die Stille.
Die Angst
Vor dem Schweigen
Der Zukunft.

Gerhard Wolf hat den Gedichtband mit freundlichen Worten im Klappentext begleitet.

e. o., Neue Zeit, 24.7.1989

Widerspiel gegen das Nichts

In der Mitte des Bandes, im dritten der fünf Abschnitte, „Auf’s Land“ überschrieben, gibt es einige Gedichte, da scheint Czechowski am ehesten zu Hause, bei sich zu sein; da rettet er sich für Augenblicke aus der vorherrschenden Elegie in die Idylle; da gibt er dem gläubigen Leser scheinbar manchmal auch etwas von dem, wonach der immer noch verlangt: vertraute Kulisse, Worte, die so lange zum Lyrischen gehörten wie Wiese, Nebel, Holunder, Nacht, Regen, raschelndes Laub; aber solche Täuschung dauert nicht lange, diese Worte stehen in gar zu enger Nachbarschaft mit ganz anderen, an die man nicht gewöhnt ist, wie verfaulender Fisch, nicht zu vertilgendes Unkraut, die übliche Eule, die neue Garage, der Alkohol; mehr noch, diese schönen Worte gehören ja zu den „vergessenen Landschaften“, in einer Zeit, als ihre „Poesie“ dem naiven Dichter ein unschuldiges Glück verschaffen konnte.
Doch nun:

… rauh
Geht der Wind, wie ein Wolf
um das Gehege…

Diesen Ton nehmen gleich die ersten Gedichte des Bandes auf, ein Ton, der zum Generalthema eher paßt: der Dichter vor Friedhöfen, vor der nicht mehr wegzulügenden Einsicht von der Vergänglichkeit des Daseins, früher und heute, der Vergeblichkeit des eigenen Tuns. Die Elegie als das Natürliche, Selbstverständliche, die Konsequenz. Und doch: Gedichte über solche Vergeblichkeit, Hoffnungslosigkeit, sind sie nicht ein Widerspruch in sich? Einer, der schreibt, schreibt ja, weil er die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben hat. Seine Hoffnung darf freilich nicht die der „Erfolgsberichtsschreiber“ sein. Seine Hoffnung ist sein Gedicht als ein „Widerspiel / Gegen das Nichts“, das sich gewaltig aufbläht. Dazu muß es alles abwerfen an Rhetorik, an Didaktik, an Monotonie gleichbleibenden Klagens, an bloßer „Schönheit“. Dazu muß der Dichter auf alle ihm auch unbewußte „Lust am Untergang“ verzichten (hatte nicht schon Immanuel Kant vor zweihundert Jahren erkannt, „daß das Jetzt’ der letzten Zeit, in welcher der Untergang der Welt vor der Tür zu stehen scheint, so alt ist wie die Geschichte selbst“), er darf aller Eitelkeit ob seiner Kunstfertigkeit nicht erliegen. Das alles weiß natürlich Czechowski, und in seinen Versen weist er immer wieder auf solche Gefahr hin.
Sein Gedicht „Sic transit gloria mundi“ behandelt ausdrücklich dieses Thema. Es ist, wie der letzte Vers bestätigt, „geschrieben / Gegen die Vergeblichkeit“. Aber ist seine Melancholie nicht zu effektvoll arrangiert in ihrer scheinbar willkürlichen Abfolge des Unvereinbaren:

Sic transit gloria mundi,
Begleitet von den Mazurken Chopins,
Maschinengewehrsalven, Rauchpilzen.
Den brennenden Kaisersaschern,
Der a-moll-Fuge oder
Diesem Gedicht…
?

Die beiden ersten Gedichte des Bandes zeigen schon, auf welch gegensätzliche Weise Czechowski von der Vergeblichkeit im Gedicht sprechen kann. Das erste, „Urnenfeld“, verstummt, ehe es recht begonnen hat, kaum, daß über das vereinzelte Wort hinaus sich ein Satz bildete. Der lächerliche Rest am Ende:

Abzeichen,
Orden,
Ehrenspangen

(„Verse?“)

es wird auch für einen selber gelten. Der Wunsch, einmal ins Mausoleum zu kommen, „wie von Säure zersetzt“, verbietet jede weiterschwingende Rede. Das zweite Gedicht aber, „Ich und die Folgen“, kennt solches Hindernis nicht, im Gegenteil. Es durchbricht die Grenzen des Verses, geht in Prosa über, nennt Dutzende von Namen, von Frau Dickow, der Milchladenbesitzerin, bis zur eigenen Mutter, von Major Troitzsch bis zum Prälaten Dr. Bulang, von der Ziegenmartha aus Boxdorf bis zum Schauspieler Erich Ponto, dazu die Namen vieler Orte rings um Dresden – alles bloßer Stoff, unbearbeitet, der sich dem Gedicht bislang entzogen hat, aber eben auch diesem, das schließlich in eine traditionelle Metapher („der Schatten eines riesigen Flügels über dem Ahorn vorm Hause der Mutter“) und in ein Brecht-Zitat (von dem, der die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfing) ersatzweise mündet. Vergeblichkeit, wie sie im Verstummen, öfter aber im widerstandslosen Parlando vernehmlich wird – sind solche Extreme vielleicht auch ein Indiz dafür, daß Czechowski nach einer Mitte sucht – nicht nur im Formalen?
Das zweite Kapitel, „Hier und dort“, enthält die meisten Reisegedichte. Nach Schweden, England, Frankreich, der Bundesrepublik ist der Dichter gekommen, in Gegenden, die lange Zeit auch für ihn nicht erreichbar und dadurch zu „verheißenem Land“ geworden waren. Zurückgeblieben „meine lieben neidvollen Freunde“, und man wird sie auch dort nicht vergessen, mitgenommen nicht nur vage Träume, sondern vor allem die eigene Geschichte. Wer ist man dort draußen – Tourist, Repräsentant, Dichter, Freund? Wohl immer das alles, auch wenn sich die Betonungen ändern und damit die Gedichte. Man findet die knappe, kurzzeilige Impression und das längere Panorama. Beides wird nie zu den bunten Wunschbildern auf Glanzpapier, wie so oft in der immer länger werdenden Reihe von aufwendigen Bild-Text-Büchern jener Globetrotter, die uns Daheimgebliebenen freundlich zeigen, wie es so in der Welt aussieht. Czechowski ist zurückhaltend, mißtrauisch als Dichter. Am Ende holt ihn die Elegie auch in der Fremde immer wieder ein. Vergeblichkeit bestimmt auch in diesen Gedichten den Grundakkord. Mag man erst wie ein Tourist durchs Värmland reisen und entlang am Mälarstrand; mag man dann wie ein Dichter irgendwo im fremden Land innehalten, horchen, was einem das „Herz“ sagt („Schwedisches Stenogramm“) – am Ende bleiben Dunkel, Stille, Angst, Schweigen, und das Bild von der bunten Welt draußen kann sich wieder bis zum einzelnen, isolierten, verstummenden Wort reduzieren.
Und mit gleicher Ergebnislosigkeit wird man aus dem anderen deutschen Staat zurückkommen. Von der großen Weltstadt Hamburg bleibt das Anekdotische als das „Reale“: „Risotto à l’asiatica“, den nämlich kann man gerade noch bezahlen. Am Ende hier wie überall: „Die lange geplante / Ausfahrt, sie fand nicht statt!“ Tiefer noch dringt der Schmerz drunten im Süden, im Schwarzwald. Wie gern lauschte man da der vertrauten Claudius-Weise vom schwarzen Wald, der schweiget… Doch die Welt dort so fremd wie die Freunde fremd; da kann das Lied gar nicht anfangen, es muß gleich durch Zeilenbruch und Eliminierung des poetischen „e“ im letzten Wort des Originalverses behutsam und doch rigoros korrigiert werden:

Wohin denn
Die Freunde? der Wald,
Aufgebaut so hoch da droben,
Steht schwarz
Und schweigt.

Poesie paßt hier nicht und dort nicht mehr. Die Welt unter einem einzigen, entseelten Himmel. Wo man auch sein wird, sie holt uns ein, die gestrige, die heutige, die künftige Welt. Vielleicht können und wollen diese Gedichte von bunter Fremdheit deshalb so wenig vermitteln, vielleicht wiederholen sich deshalb ihre Elemente wie Schnappschuß, Panorama, literarische und historische Reminiszenz. Der Dichter bleibt in aller Bewegung unbewegt, das Resümee „Vergeblichkeit“ bestimmt auch da den Generalbaß, der über all die variablen Oberstimmen dominiert. (Die vielen Negationen innerhalb der letzten Zeilen immer wieder.) Die Fahrt in die Weite des Raumes hat keine große Ernte eingebracht.
Es bleibt: der Weg in die Tiefe der Geschichte, die Konfrontation mit der Gegenwart. Da ist Ausflucht kaum möglich.
Geschichte stellt sich in der Landschaft dar, vornehmlich in der Landschaft der Kindheit. Selbst so kann sie vergessen, verklärt, verdreht werden. „Das Vergangene fern“ ist das Leitwert, und solche Vergeßlichkeit kann auch ein Grund für heutige Gefährdung sein, wie die spruchartigen letzten Verse dieses Gedichts deutlich machen:

Oder
Ob wir uns selber vernichten,
Durch Vergeßlichkeit,
Anmaßung,
Oder vielleicht
Nur aus Mangel an Demut,
Wie sie noch Klopstock empfand,
Als er die Mondsichel
Überm Zürcher See
Aufgehen sah.

Die Landschaft kann ihre Namen verloren haben:

Wie hießen die Hügel
Neben der Straße von Dohna nach Weesenstein?

oder sie wird zur „Bühne“ mit historischen Figuren (Karl May, Gerhart Hauptmann, auch Frau Hummitsch, die „Schwester Herrn Hitlers“), auf der das alte Thema von Schönheit und Verfall in lähmender Bewegungslosigkeit aufgeführt wird. Nur selten verfestigt sich dabei das Bild zum Gleichnis, so, wenn die Kinder vor den ungläubig zusehenden Leuten

… mit dem alten Lehrer
Das Eis vom Bürgersteig entfernten
Mit einem rostzerfressenen Spaten

Viel öfter verschwimmt das Bild – gegen allen Widerstand des Dichters? – gerade auch dann, wenn der tiefste Schrecken (das „Grunderlebnis“, wie die Wissenschaft gern formuliert) beschwört werden soll, der kochende Fluß, die stürzenden Brücken:

… und die Toten
Die brennend durch die Straßen irrten, als die Kinder
Schon Waisen waren, ehe sie Waisen wurden

denn dann, wie zwangsläufig, gewinnt selbst solch ein Gedicht unversehens an Musikalität, die Verse „schwingen“, und aus dem Totenfluß wird ein Lebensstrom, der „fließt und fließt und dessen Fließen / in der durchwachten Nacht gehört wird“. Bei solchen Versen ahnt der Dichter: Vielleicht sind alle meine Gedichte „Nur eines Traums geträumtes Bild“? Gewiß, das Gedicht ist ein „Widerspiel gegen das Nichts“, es ist aber auch „Etwas Vergehendes mit der Zeit“. Liegt hinter der Oberfläche des Dargestellten in dieser Unauflöslichkeit die letzte Wahrheit?
Heutige Landschaft kann auch unbarmherzig, „naturalistisch“ gesehen werden; „Kritisches Bewußtsein“ (so der Titel) erkennt durch das Waggonfenster zwischen Bitterfeld und Schönefeld „Bauplatz und Schrottplatz / Kaum zu unterscheiden“, aber auch diese Landschaft wird unversehens zur Bühne, auf der die DEFA mit „Knattermimen und Komparsen in Uniformen“ auf ihre Art Vergangenheit zu bewältigen versucht. Das ist nur auf der Oberfläche Satire. Mitten in dieser Landschaft, im „Niemandsland“, das heißt im Zentrum des Gedichts, stehen „Die grauen Reiher, diese schönen Tiere, / … scheint es, ratlos im Verfall“. So artikuliert sich ohnmächtige Bitterkeit des Dichters, wortlos. Und sie ist so immer wieder vernehmbar in den Bildern der Städte mit ihren Satellitensiedlungen („Als bereiteten wir uns / Auf den endgültigen Exodus vor…“), ihren verfallenden Zentren, den „ehemals besseren Vierteln“, den immer näher kommenden Braunkohlebaggern, denen man auch im Grab wird nicht entfliehen können, der Natur an ihren Rändern, wo der grüßende Froschteich am Scherbelberg sich als schwarzer, stinkender Tümpel erweist, Kleingärtneridylle zum Übungsplatz für Gemusterte wird, wo Überleben geübt wird, wo am Ende die Sonne über den Dächern von Wahren „schrecklich“ ist. Mit solchem Blick kann Landschaft leicht „übernatürlich“ (also un-natürlich) werden, nur scheinbar als Groteske gesehen, tatsächlich aber schon todesstarr, wie es die letzten Verse von „Null Uhr null“ ausdrücken:

Das Gras verfilzt sich, von der Kläranlage
Schwappt eine Welle von Methan. Ein toter Fisch
Verbündet sich mit dem Fasan
Zu einem toten Schrei.

Ohnmacht, Bitterkeit, Ratlosigkeit. Das „Credo“ schließt nach all den leer gewordenen Worten:

So viele Antworten,
So wenige Fragen!

Hilft Brecht weiter? Die „Absichten“ werden im listig-verschlagenen Ton des Meisters verkündet, aber ihr Ernst ist unbezweifelt:

Ich würde gern
Auf mich verzichten, sähe ich nicht.
Daß der Unterschied zwischen Arm und Reich,
Zwischen Ohnmacht und Macht
Nicht geringer wird. Also
Schreib ich zwischen Angel und Tür
Meine Gedichte über die Sprachlosigkeit derer,
Die ihre Stimme
Abgeben, wenn es gewünscht wird.

Freilich besteht kein Zweifel darüber, daß Lyrik, wie sie Czechowski schreibt, nur wenige dieser Sprachlosen direkt erreichen wird. Sie vermittelt nur geringe, kaum spürbare Dosen von Gegengift gegen Ohnmacht, Vergeßlichkeit, Vergeblichkeit. Die Masse hört willig auf ganz anderes: auf das TV-Melodram, auf scheintiefsinnige Weisheiten, musikalisch unterlegt von jenen „Machern“, die forsche Widerspenstigkeit in kunstgewerblicher Wortakrobatik darbieten, gepaart mit ein bißchen Fortschrittlichkeit, alles schnell und angenehm konsumierbar, schnell und angenehm vergeßbar, also eigentlich überflüssig… Czechowskis beste Gedichte sind anhaltende Drogen gegen solche Vergeblichkeit. Sie wirken immer wieder, unerwartet, wollen nicht Beruhigung, wollen dauernde Unruhe. So sind sie am Ende wirksamer als die Masse mancher Verse, die so unter die Leute gebracht werden. Czechowski gibt seine Unruhe denen, die sie zu vernehmen wissen, trotz eigenen Zweifels, trotz aller Sorge um die Vergeblichkeit seines Tuns weiter.
Das bezeugt das privateste Gedicht des Bandes, „Der Winter“, das vielleicht gerade deshalb die größte Kraft hat, den Leser mit seinem vergeblichen „Dennoch“ zu erreichen:

Mein Vater starb unversöhnt. Ich
Wartete auf das wirkliche Leben.
Dann starb meine Mutter. Der Schnee
Hielt den Zug fest, endlich
Lief ich über das Eis, die Tür
Des Altenheimes war schon verschlossen, schließlich
Stand ich vor ihrem Bett. Wie lange
Hatte sie auf das wirkliche Leben gewartet?
Es kamen die Söhne. Und schweigend,
Wie sie gekommen, sind sie gegangen. Jetzt
Sind wir wir, und die Luft
Zwischen uns zittert. Unabweisbar
Werden wir älter, wir folgen,
Wie durch den Schnee,
Der Spur der Gestorbenen, dorthin,
Wo uns das wirkliche Leben erwartet.
Ich stelle mir vor,
Ich wäre dort, wo ich nicht bin.
Und weiß keine Antwort.

Jetzt sind wir wir, und die Luft zwischen uns zittert. Das ist die Mitte des Gedichts, wir sind mitten in unserem Leben. Das Zittern der Luft kann uns beides sein, Glück und Gefahr. Wir nehmen es an. Noch immer kann auch in unserer lauten Zeit ein leises Gedicht wie dieses ein Widerspiel gegen das Nichts sein.

Gerhard Rothbauer, neue deutsche literatur, Heft 428, August 1988

Wider das Gespenst der Vergeblichkeit

Gedichte, die sich als Ausdruck heftigen Aufbegehrens lesen: Gleichsam Tag für Tag schlägt sich ein Ich, das sich nicht abzufinden in der Lage ist, mit jenem mächtigen Gespenst herum, dessen Name Vergeblichkeit, Aussichtslosigkeit oder auch Sinnlosigkeit lautet.
Heinz Czechowski, kein Junger mehr, geht in seinem neuen Band schonungsloser denn je mit sich selber um. Und das meint gewiß auch die Härte der Selbstbefragung. Gerade die aber kommt kaum als eine egozentrisch-zermürbende zum Vorschein, sondern vor allem als ein permanent wirkendes Movens, dem sich schonungslose Aktivität in der Auseinandersetzung mit Welterfahrung und Erfahrungswelt verdankt. Ein Ich, das sich fortgesetzt anspannt, das unweise jede Spielart von Entsagung verschmäht: Grimmige Lebendigkeit.
Jenes Gespenst aber, es begegnet ihm in ganz Europa. Czechowski trifft es an in London: „Tausendäugige Stadt, durchbohrt / Von den Speeren der Resignation“, nimmt es – „Die Angst / Vor dem Schweigen / Der Zukunft“ – in Schweden wahr, sieht sich von ihm in Hamburg eingeholt, dieser „Stadt, / Deren Tage gezählt sind“. Desolate Zeit- und Zustandszeichen fast allerorten; fatal die Bilanz, die sich nach Rückkehr aus England aufdrängt:

Wieder daheim,
Sehe ich nicht ohne Entsetzen
Die Ähnlichkeit zweier Länder,
Die der Krieg nicht verschonte.

Kaum minder fatal, daß jenes „Alles ist metaphorisch“, gesprochen vom Freunde K. bei Betrachtung des folgenlosen Eisaufbruches im Nordostseekanal, einen Widerspruch nicht ermöglicht. Und das Lastende dieses Wissens:

Einmal muß
Beglichen werden die Rechnung:
Auch die Liebe
Ging ihren Weg in die Massengräber: Asche
Häuft sich zu Asche,
Und selbst die schwache Stimme der Hoffnung
Kennt kein Erbarmen.

Europa am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Aporien, definitiven Konsequenzen und Katastrophen eines Geschichtsganges zeichnen sich ab, dessen Mechanik über Jahrhunderte hinweg arg in Kraft geblieben ist:

Robespierre fällt Danton, Napoleon
Flieht aus dem brennenden Moskau,
Lenin warnt vor Stalin, Herr Hitler
Schickt seine Stukas nach Coventry,
Und irgendein Harry S. Brown aus St. Paul, Minnesota,
Klinkt seine Bomben aus über der Armenstraße,
Wo die Bilder des Malers Querner verbrennen.

Und zwischen Nord- und Ostseeküste ein Spaziergang vor Horizonten, die „Atom- / Meiler, Wieder- / Aufbereitungsanlagen, Panzer, Soldaten“ ahnen lassen:

Der Himmel darüber
Verkündet ein großes Verhängnis…

Verheißungen aber, Versprechen, Aufbrüche? Das, was Dichter und Denker einbrachten, ein Lessing? Humanistische Traditionen? Schwedische Reminiszenz:

Engelbrecht,
Zog hier dein Heer?
Freiheit, dein Stern,
Zur Phrase
Geronnenes Wort?

Bedenkend den Sturz des Generalissimus:

Seitdem
Ist Hoffnung auf Hoffnung
Gekommen, gegangen,
Während der lange Zug der Verbannten
Zurückgekehrt ist
In unser Bewußtsein.

Erinnerung an die östliche Jahrhunderthoffnung:

Daß seitdem die Welt…
Ach, wieviel Wasser
Ist inzwischen die Wolga, den Nil,
Die Elbe hinuntergeflossen!

Und von den Dichtern sind nur die Wörter geblieben:

In denen die Lebenden stochern,
Im Schnee des Papiers,
Der Asche Vergessen.

Aus der Rauch steigt, Signal
Der Vergeblichkeit…

„Kritisches Bewußtsein“ lautet der Titel eines der bittersten Gedichte. „O Land, o Lessing-Land“, heißt es hier:

In dem sich so viel Traurigkeit versammelt.

Ins Bild kommen die visuellen Eindrücke einer Eisenbahnfahrt „Von Bitterfeld bis Schönefeld“, „Gräben, Gräber, Abfallplätze“; Tristesse aus Abgelebtem, Abgestandenem, Makabrem. Eine Erfahrungslandschaft – mit den Worten eines anderen Dichters – „ohne Innen und ohne Morgen“. Doch nicht nur in diesem Gedicht; Verse einer großen, auch Pathos nicht scheuenden Vaterlandsklage finden sich wieder und wieder im Band, ja bilden recht eigentlich sein thematisches Zentrum:

Aufgeschlagen
Hyperions Satz:
So kam ich unter die Deutschen.

Und das Ich reibt sich wund an der Deutschen Vergeßlichkeit, am Biedersinn ihrer geschäftigen Gleichgültigkeit, an der Fernseheinfalt ihrer Feierabendlichkeit:

Nein, Deutsche,
Ihr habt nicht gelernt,
Das Unsagbare sagbar zu machen:

Euer Auschwitz,
Euer Theresienstadt,
Eure Himmlers und Heydrichs
Und eure Jugend,
Die sich selbst auf den Arm nimmt –

Nein, es geht weiter,
Sancta Simplicitas, alles
Ein einziger Kommentar
Zu dem Kontinuum,
Aus dem
Nichts gelernt worden ist
In aller Stille.

Eine schmerzliche Klage, die gerade dem Deutschland gilt, an das die eigene – immer wieder hergenommene und durchgrabene – Biographie gebunden ist, in dem die Vaterstadt Dresden liegt, und Halle und Wuischke und Leipzig. „… o / Drapeau rouge!“, Karikaturenversammlung auf „genormtem Gestühl“; Land des Jubeljournalismus und des Schweigens. Welch eine Vaterlandsliebe, die sich da mitteilt, im grimmig-trauernden Heraussagen all dessen, was schändlich, bedrohlich, deprimierend ist. Und eben diese Vaterlandsliebe – die eines Hölderlin, eines Heine – macht, daß Czechowski in seinen Gedichten nicht loskommt von der Schreckensvision eines „Niemandslands“; besonders seine Dresden-Gedichte erwachsen aus solcher Spannung ganz und gar. Dresden der Ort auch, der zu schreien befiehlt:

Wer schreien kann, schreie:
Ich bin geboren, zu widerstehen
Den Erfolgsberichtschreibern,
Auch denen, die ihre
Vergangenheit redigieren, um einzugehn
In die Geschichte,
Die sie vergessen wird,
Wie die ausgegrabenen Helden,
Die wieder den Sockel besteigen,
Zur Feier derer, die in den Logen
Sitzen, fröhlich vereint
Unterm Baldachin der Ökonomie.

So auch begegnet man nirgendwo Kälte in den Czechowskischen Gedichten, nirgendwo den Anzeichen eines puren Bilanzierens, das nach den Maßgaben schwarz pointierenden Kalküls unternommen worden wäre. Alle diese Verse sind mit heißem Blut geschrieben; den meisten von ihnen eignet eine leidenschaftliche Bewegtheit und Impulsivität; und das Subjekt, das aus ihnen hervortritt, ist ein im Innersten betroffenes. Eigenstes ist aufgerührt. Fortwährend denn auch diese bohrende Hinwendung zu Biographisch-Existentiellem, zu den Irrungen und Wirrungen des Lebenslaufes, des mit der Geschichte verflochtenen, von ihr nie in Ruhe gelassenen, durch sie genarrten und vexierten. Wobei allerdings als ein Fixpunkt im Vergangenen noch immer gilt:

Wir hatten einen Anfang.

Die Erinnerung an die Aufbruchsaktivität der Nachkriegsjahre, diese Erinnerung blieb ungeschwärzt; ja mehr noch: Die trotzig-vitale Resignationslosigkeit des Ichs ist, im Grunde, der unaufgezehrte Impetus von damals. Und „nur“, daß er in einem Ich nun weiterbrennt, welches, lang schon, die aufbrechende Gemeinschaftlichkeit absterben sah und dessen Schicksal ein verzweifelt durchhaltendes Einzelgängertum wurde. „Wie wenig Hoffnung, rückwärtsgewandt, / Blüht dir entgegen: tritt / In den eigenen Schatten. Die Freunde, / Dem eigenen Lied auf die Kehle getreten, / Leben an dir vorbei, jeder / Starb seinen Tod schon. Nur du“ – das eigene Tun als ein tragisch gewordenes, tragisch auf sich verwiesenes. Als ein notvolles Dennoch. Aus Selbstachtung, menschlicher Verpflichtung? Aus Mut der Verzweiflung, Ergriffensein? Aus zorniger Liebe? Alles dies ist mitbeteiligt.
Mitunter verbalisiert Czechowski seine Schreibmotivation:

Ein Widerspiel
Gegen das Nichts.

Oder:

Sic transit, gloria mundi,
Begleitet von den Mazurken Chopins,
Maschinengewehrsalven, Rauchpilzen,
Dem brennenden Kaisersaschern,
Der a-moll-Fuge oder
Diesem Gedicht, geschrieben
Gegen die Vergeblichkeit.

Immer wieder aber – und bestimmtet – ist auch von diesem „versammelten Schweigen“ die Rede, in dem die „Maulwürfe“ in der Brust des Ichs ihre Arbeit beginnen. Und:

Ich würde gern
Auf mich verzichten, sähe ich nicht,
Daß der Unterschied zwischen Arm und Reich,

Zwischen Ohnmacht und Macht
Nicht geringer wird. Also
Schreib ich zwischen Angel und Tür

Meine Gedichte über die Sprachlosigkeit derer,
Die ihre Stimme
Abgeben, wenn es gewünscht wird.

Auch diese Auskunft:

Ich brauche Widerspruch und sage:
Nichts geht mehr. Doch keiner
Hört mich und widerspricht.

Da wird die gesellschaftliche Gesprächslosigkeit – die eine Kulturlosigkeit ist, Symptom eines Kulturverfalls – als dasjenige Deprimierende benannt, auf das die eigene Aktivität des Redens vor allem reagiert. Und diese Gedichte, sie erweisen sich als provoziert durchs bleierne Schweigen, wie sie gleichermaßen die Schweigenden zu provozieren trachten: Czechowski ruft Befunde in die Anonymität hinein, die geeignet sein sollen, die verbreitete Lethargie aus der Fassung zu bringen. Damit ist nicht gemeint, es sei in den Gedichten ein reiner Zweckpessimismus anzutreffen. Die Verse nähren sich von Erfahrung. Und von einem Widerstand, über den ihrerseits die Erfahrung keine Illusion aufkommen läßt. Doch gehört es zu den notwendigen Paradoxien dieses dichterischen Tuns, daß die Hoffnung, „aufregend“ zu wirken, noch immer wachgehalten bleibt – und Erbaulichkeiten wären es gerade nicht, die einer solchen Wirkung zuarbeiten könnten.
Czechowskis Sprache: Daß sie Pathos nicht scheut, wurde bereits angemerkt. Die hohe Rede Klopstocks, Hölderlins klingt auch in diesen neuen Gedichten nach. Doch wiederum sind sie auf solche Rede nicht durchweg gestimmt; „profanes“ Sprechen, in weiter Auffächerung, ist entscheidend mitbeteiligt. „… meine Verse zerfallen / Mehr und mehr / In ihre Bestandteile…“; „Poesie, der Dichtung Kadaver, / Was willst du von mir? Gott, / Wenn es ihn gäbe, / Hülfe mir nicht aus der Not. / Die Weichen sind schon gestellt. / Ein Zug / Mit der Farbe des Blitzes / Fegt durch mein Bewußtsein, / Wehendes Haar, / Das sich in Drähten verfängt.“ Nur allzu bewußt ist dem Ich das Disparate, aus der Form Gebrachte, Zerzauste seines Sprechens. Und gleichsam atemlos fortjagende Perioden stehen neben Stakkatosätzen, ausbuchtende Erörterungsfiguren neben umgangssprachlichen Lakonismen, „hinstellende“ partizipiengestützte Nominalkonstruktionen neben hagelnden Stichwortfolgen, heftigen rhetorischen Gesten, den Exempeln einer nervösen Hakenschlag-Syntax. Die verschiedensten Stilschichten brechen ineinander, immer und immer wieder: Verwerfungen. Bilder, Metaphern sodann als wechselnd-„flüchtige“, zumeist jedenfalls. Schließlich ein hoher Ernst der Rede, dem sich plötzlich sarkastische Ironie entgegensetzt; melancholisches Sprechen, aus dem eine Schimpfpassage hervorspringt; zornige Emphase, der eine beherrscht-elegische Reflexion folgt. Nein, ein homogenisierender Stilwille ist nicht am Werk, schon gar nicht übrigens ein solcher, der auf zeichenhafte Strukturierung einer Gegensprache hinzielen würde – Czechowski läßt, nach wie vor, die Möglichkeiten sprachexperimenteller Lyrik ganz außer acht; entschieden artikuliert er sich innerhalb der Grenzen disparat-konventioneller Sprache. Und eben diese wird ihm zum in sich zerteilten Medium eines Aussagens, welchem das Stigma hochbewußter Zerrissenheit ja seinerseits eignet: „Unstilisiert“ gibt die Sprache der Gedichte Auskunft über die Bewußtseinslage jenes Ichs, das ein „näheres Zeichen“ nicht auszumachen, es sich nicht vorzutäuschen vermag.
Natürlich birgt eine derartige Sprachansiedlung Gefahren in sich. Sie bestehen darin, daß Affirmatives sich einschleichen, daß die Sprache – partiell – Auslieferungsdienste leisten könnte. Czechowski freilich ist in diesem Punkte geradezu unbekümmert. (Oder wirkt das nur so?) Und er verläßt sich auf die sprachlichen Steuerimpulse einer kritischen Subjektivität, von der er sicher zu sein glaubt, daß sie – im Widerspruch – unirritierbar sich selbst behauptet. So auch ist der Ich-Zweifel kein Thema.

Was mich betrifft,
So bin ich ich.

Dies war der zentrale Satz des vorangegangenen Gedichtbandes: Ein kräftiges Ich-Bewußtsein ist im Laufe der siebziger Jahre „trotzig“ konstituiert worden – und in eine Krise ließ es Czechowski nicht geraten seither. Solches Ich-Bewußtsein, keineswegs auf egozentrische Borniertheit hinauslaufend, braucht er als kritisch-produktive Instanz, als eine Größe, die ihm fürs „Widerspiel gegen das Nichts“ eine unverzichtbare Voraussetzung bedeutet. („Ich aber / Habe mich festgelegt / Bis zum Jahre zweitausend.“ Welch ein das eigene Selbst kategorisch bestimmender Satz, formuliert aber eben im Kontext einer Lageeinschätzung, die ihn als notwendigen Gegen-Satz hervortreten läßt.) Und tatsächlich ist dieses im Zeichen des Widerstands tätige und von daher ein klares Identitätsbewußtsein beziehende Ich souverän in der Lage, der benannten Gefahr die Stirn zu bieten: Czechowski benutzt Kurrentes, stehende Wendungen, klischierte Teilsatzfiguren, Ab- und Eingeschliffenes vielerlei Art – und doch ist es der heiße Atem seiner Rede, der wahrnehmbar wird. (Beispiele aus einem einzigen Text: „Ab und zu verlier ich die Übersicht…“, „Daß die Rechnung nicht aufgeht…“, „Und doch ist es letzten Endes nichts als…“; was dann aber jeweils folgt, reißt das Vorangegangene entschieden heraus aus dem Flachland billiger Geläufigkeit; wenigstens das erste Teilzitat sei hier ein Stück noch weitergeführt: „Ab und zu verlier ich die Übersicht und tauche in die schwarzen Wasser, die mich umgeben.“) Eine ganze Studie wert wäre der Czechowskische Gebrauch strapazierter geflügelter Worte, sein Umgang mit dem Zitatenschatz. Die beiden abschließenden Versgruppen des Gedichts „Credo“ liefern geradezu ein komplexes Exempel für die diversen, hier sich fast unentwirrbar verquickenden Verfremdungs-, Aneignungs- und Verarbeitungsweisen:

Wissen ist wenig. Und unausrottbar
Der Blutdurst: Mein,
Spricht der Herr, ist die Rache,
Aber kein Gott,
Kein Kaiser und kein Tribun
Führt uns aus dieser Gegenwart,
Die unser Kreuz ist.

Und wohin wird gehen die Kunde,
Daß ich dabeigewesen,
Als der Mensch noch dem Menschen
Ein Mensch war? –

So jedoch hält das Subjekt der Spannung stand. Der Welt sich aus- und entgegensetzend, arbeitet es mit einer exoterischen Sprache, die in ihrer Heterogenität ganz auf diese Welt sich einläßt und dennoch personale Qualität erlangt. Nicht die mindeste Berührungsangst; indessen: Keine Berührung, die korrumpierend zu wirken vermöchte. Und gewiß, die Wunden klaffen, aber noch im Verzicht, sie mit Balsam zu behandeln, gibt sich ein ungebrochen vitaler Sinn zu erkennen – ein Sinn, der eher schon dazu neigt, sarkastisch-ironischen Pfeffer in sie zu streuen.
Czechowskis neuer Band, zweifellos sein bester bisher, ist ein erstaunliches, ermutigendes Buch, ja er dürfte zum Wesentlichsten zählen, welches auf dem Felde der DDR-Lyrik im letzten Jahrzehnt hervorgebracht wurde: auch und gerade dadurch, daß er bei wachestem Problembewußtsein doch „kommunikationsfreundlich“ ist. Und sollte er nicht wirklich alle Chancen haben, die kleinen Kreise ebenso zu erreichen wie jenes größere, unspezialisierte Publikum, das die Buchhandlungen nach der Aitmatowschen „Richtstatt“ abläuft?

Bernd Leistner, aus Siegfried Rönisch (Hrsg.): DDR-Literatur ’87 im Gespräch, Aufbau Verlag, 1988

 

„Die Bitterkeit auf meiner Zunge“

– Anna Chiarloni im Gespräch mit Heinz Czechowski. –

Das Gespräch hat im Mai 2003 während des Seminars „Die deutsche Lyrik der Gegenwart“ in Turin stattgefunden. Heinz Czechowski hat den Text am 28.1.2005 redigiert.

Anna Chiarloni: Wenn man Deine Produktion betrachtet, dann hat man das Gefühl, dass man Dich kaum als einen DDR-Dichter bezeichnen kann. Andererseits gibt es Gedichte wie z.B. „Aus der Kindheit“,1 die die damalige Situation der Entscheidung [für die DDR] vermitteln. Hattest Du nach 1949 die Teilung Deutschlands angenommen? Und inwieweit hat sie Deine Schreibweise beeinflusst?

Heinz Czechowski: Ende der 50er Jahre, das war schon für mich eine positive Entscheidung, obwohl das Hin und Her zwischen politischen Polen, zwischen Plus und Minus sozusagen, für mich immer akut war. Also, diese geteilte Nation mit der Grenze mitten durch Deutschland und später die Mauer in Berlin, das waren für mich immer Erscheinungen, die ich nie ganz akzeptiert habe. Es gab immer noch das Andere und ein frühes Gedicht heißt „Brief“ und hat der Anthologie In diesem besseren Land,2 die mal sehr wichtig war für die DDR, den Titel gegeben. Auch dieses Gedicht thematisiert eben diese Teilung Deutschlands und macht einen Versuch des Bekenntnisses zum östlichen Teil, der damaligen DDR. Aber das hat sich nie bei mir ganz so stabil gehalten. Es gab immer diese Frage nach der Möglichkeit einer Wiedervereinigung.

Chiarloni: Tatsächlich – schon damals?

Czechowski: Das kann man nachlesen, das ist überall drin. Die Trauer um die Teilung Deutschlands ist eigentlich von mir immer thematisiert worden. Das sage ich nicht in einer Art retrospektiven Stolzes. Und ich habe auch die Wiedervereinigung sehr begrüßt, das weißt Du auch. Es war immer für mich untragbar, dass dieses Land geteilt war. Und als ich vor 1989 reisen durfte – es gab ja die Möglichkeit, ab und zu eingeladen zu werden, von Universitäten in England oder Holland oder in der Bundesrepublik – dann habe ich natürlich diese Teilung umso mehr empfunden. Und ich habe auch Anfang ’89, als ich in England war, ein Gedicht geschrieben, „Die Fähre“ – das ist in Nachtspur3 – wo ich das dann noch einmal versucht habe, aufzunehmen, dass das alles dem Ende zugeht. Das war spürbar. Irgendetwas, man wusste noch nicht, was. Es hätte ein Krieg sein können, es hätte alles Mögliche sein können. Nur daran, dass man eines Tages diese Wiedervereinigung über Nacht durch ein Versagen des Politbüros, durch Schabowski im Grunde, erleben würde, daran hat niemand gedacht.

Chiarloni: Wo hast Du die Wende erlebt?

Czechowski: Ich war in der CR, damals noch CSSR, in Brünn (Brno), wo ein Stück von mir gespielt worden ist, Meister und Margerita nach Bulgakov. Wir fuhren aus Brünn zurück, in der Nacht, und die DDR leerte sich. Wir haben also hunderte Kilometer lang nur Autos gesehen. Das ganze Elbtal bis Prag war voll mit Autos von DDR-Bürgern, die die DDR verließen in letzter Minute. Das hat mich unheimlich beeindruckt, bei strömendem Regen, ein Auto nach dem anderen. Und damit war die DDR zusammengebrochen. Aber die Zeichen der Schwäche der DDR, politisch und wirtschaftlich, die waren schon einige Jahre früher zu sehen.

Chiarloni: Bleibt auch für Dich der Fall Biermann eine Zäsur?

Czechowski: Ja. Danach ging es uns immer schlechter. Das wusste auch die Spitze des Parteiapparats, die Regierung. Ich durfte 1988 nach West-Berlin reisen und hatte also einen Pass, musste diesen Pass aber bei dem Minister oder stellvertretenden Minister Höpke abholen. Und wir haben dann in seinem Büro in Berlin gesessen und waren uns völlig einig, dass es jetzt mit der DDR allmählich zu Ende geht. Also auch ein Minister, der klüger war als viele andere vielleicht, dachte das. Da haben wir also ein Gespräch geführt, das war relativ offen. „Fahr nur nach Westberlin, brauchst auch nicht wiederzukommen“ und solche Sachen. [lacht] Aber ich bin wiedergekommen, ich bin immer wiedergekommen. Ich hatte viele Gelegenheiten im Westen zu bleiben, in England oder Holland. Immer wieder habe ich diesen Weg zurück gefunden. Wenn auch manchmal unter dramatischen Umständen.

Chiarloni: Noch beim Lesen Deiner letzten Gedichtsammlungen, die nach der Wende erschienen sind, spürt man ein fernes Echo von Brecht. Wie würdest Du heute rückblickend seinen Einfluss auf Deine Generation bezeichnen?

Czechowski: Ja – Brecht war ganz wichtig, als Lyriker vor allem mit seinen 100 Gedichten. Auf uns junge Leute hat er eben als Avantgardist gewirkt, ja. In jeder Beziehung ein, wie man so schön sagt, Neuerer. Das hat man natürlich wie ein Schwamm aufgesogen…

Chiarloni: Meinst Du den lyrischen Gestus oder das, was die Metrik betraf, also die Struktur des Gedichts selbst?

Czechowski: Ich würde sagen, was das Wichtige und Neue an Brecht gewesen ist, das war vor allen Dingen der freie Rhythmus, der bis dahin nicht üblich war, bevor Brecht kam. Man kannte Gedichte ohne Reim, z.B. von Benn oder aus der Zeit des deutschen Expressionismus, aber die waren doch mit relativ regelmäßigen Rhythmen geschrieben, also von der Klassik – Hölderlin, Goethe beeinflusst. Und Brecht war auch insofern ein Neuerer, indem er diesen freien Vers auch theoretisch untermauert hat. Und das war für uns eine Öffnung in gewisser Weise nach vorn. Man sah plötzlich Möglichkeiten einer lyrischen Schreibweise, die nicht mehr vom Reim und vom Metrum bestimmt war, sondern jetzt konnte sozusagen ,im freien Fall‘ der Verse gedichtet werden. Das hat Brecht, meiner Generation zumindest, geöffnet. Das war eindeutig.

Chiarloni: Während man am Becher-Institut, wo Du zwischen 1958 und 1961 studierst hast, intensiv die Klassiker las…

Czechowski: Das Becher-Institut war im Grunde genommen konservativ. Man liebte dort Brecht nicht. Aber wir hatten einen Lehrer, das war Georg Maurer, ein rumänien-deutscher Lyriker, der uns, im Gegensatz zur offiziellen Lehrmeinung, die Dinge geöffnet und vom Expressionismus bis Brecht alles vorgelesen und zugänglich gemacht hat. Das war ganz wichtig für uns. Und, nebenbei gesagt, es hat ja in Russland bis in die Gegenwart gedauert, ehe man überhaupt anerkannt hat, dass es Verse ohne Reim, freie Verse, gibt. Das ist also erst in den letzten 10 Jahren nach der Wende in Russland möglich geworden, ,frei‘ zu schreiben. Obwohl es das in den 20er/30er Jahren schon gab, aber die eigentliche Befreiung findet erst im Moment statt. Es ist nicht so wie bei uns, durchaus nicht.

Chiarloni: Das ist interessant: Der Reim wirkte also konservativ. Das hat ja auch etwas Ideologisches, darüber sollte man weiter vergleichend forschen.

Czechowski: Naja, man muss dazu vielleicht sagen, die Klassik war in der DDR in den Zeiten der 50er/60er Jahre ein Moment der absoluten Stabilität. Man wollte im Grunde genommen, das war auch im Bauwesen, in der Musik und überall so, dass an die Klassiker angeknüpft wird.

Chiarloni: Also keine Experimente?

Czechowski: Keine Experimente zunächst einmal. Ich habe diese Schwierigkeiten nie so gespürt, weil ich angefangen habe mit beiden Momenten, mit dem Reim und dem Metrum und andererseits mit dem freien Vers.

Chiarloni: Aber Deine Generation, ich denke z.B. an Günter Kunert oder an Sarah Kirsch, die haben alle ohne Reim geschrieben…

Czechowski: Ja, sagen wir eben vielleicht noch, dass diese reimlose Lyrik und das gestische Sprechen, von dem ich mal ausgehen will, tatsächlich auch vom Inhalt bestimmt worden sind. Es ließ sich das nicht mehr so vereinnahmen und formulieren als Stabilität, wie das nach dem Krieg möglich gewesen ist. Also eine Aufbruchstimmung, eine Unruhe, war schon da. Auch in den Lyrik-Seminaren bei Maurer war das durchaus ein Moment der Instabilität, dass man also wirklich versucht hat, das zu sagen, worauf es ankam, ohne Umschweife sozusagen, möglichst direkt. Das bezog sich dann auf die Themen und Gegenstände dieser Zeit, das war schon entscheidend.

Chiarloni: Gehörten auch andere Dichter zu Deinen früheren Vorbildern?

Czechowski: Für mich war ein westdeutscher Lyriker sehr wichtig: Günter Eich, und von den Klassikern war natürlich Hölderlin entscheidend, mich bildend anhand der Klassik. Abgestoßen haben mich sozusagen die sozialistischen Dichter wie Weinert. Also die Sänger der kommunistischen Hymnen und Lieder, die hab ich nie besonders gern gehabt.

Chiarloni: Und die damalige junge Lyrik spielte eine große Rolle. Aber die Zensur auch, wie konnte man sie umgehen?

Czechowski: Als ich meine für mich wichtigen Bücher veröffentlichte, war Höpke schon da. Und dieser Mann war etwas liberaler als viele andere Funktionäre in der SED und im Ministerrat. Und dieser Höpke vertrat die Meinung: Lass sie doch die Gedichte drucken; das sind 1.000 Exemplare, wer liest das denn schon? Nun ist es aber so gewesen in der DDR, dass wirklich nicht viele gedruckt worden sind, auf dem Höhepunkt waren es so 5.000, bei Sarah Kirsch oder Reiner Kunze, die sehr populär waren damals.

Chiarloni: Das ist für den italienischen Büchermarkt relativ viel. Eine Lyrikausgabe hat höchstens die Auflage von 2.000 oder 3.000 Exemplaren!

Czechowski: Bei uns gab es auch größere Auflagen, die waren natürlich Ausnahmen. Zum Beispiel habe ich bei Reclam ein Buch mit zwei Auflagen gemacht, nur Gedichte, bei Reclam, zweimal 10.000. Und das kostete nichts, 1,50 Ostmark so’n Bändchen. Aber was sind 20.000 bei 18 Millionen…? Das ist auch nicht sehr viel.

Chiarloni: Das wäre bei uns ein Traum…

Czechowski: Im Westen ist es anders, ich war z.B. mal in Frankreich, da haben wir in einer Buchhandlung in Paris über Auflagen gesprochen. Das ist für Paris undenkbar, 20.000 Gedichtbände zu verkaufen. Und die waren bei uns weg! Und man muss das noch multiplizieren, weil die Gedichtbände, auch wenn sie nur mit 1.000 oder 2.000 gedruckt worden sind, natürlich weitergereicht wurden. Die gingen sozusagen durch die Hände der Leser. Es gab von Reiner Kunze nie genügend Exemplare, auch bei Reclam nicht, die seine Taschenbücher in hohen Auflagen herausbrachten. Wurden unter dem Ladentisch, als sogenannte Bückware – ich hasse das Wort – also als Bückware verkauft. Man bückte sich eben und gab das Buch über den Tresen. Die Lyrik, das muss ich sagen, war ganz, ganz wichtig. Das sieht man heute sehr deutlich. Damals war mir das gar nicht bewusst. Aber es gab so unter der Hand, in kleinen Kulturhäusern, in Kirchen, in Zirkeln, doch die Möglichkeit, immer wieder Gedichte zu lesen und die wurden wie ein Schwamm aufgesogen. Das hatte schon ’ne große Wirkung.

Chiarloni: Du hast ja übrigens auch als Lektor im Verlag einen gewissen Einfluss gehabt. Und wenn man von Zäsuren spricht, dann ist die Anthologie von Mickel und Endler In diesem besseren Land für die Lyrik der DDR ein ganz wichtiges Buch gewesen.

Czechowski: Die ist etwa ’68 erschienen. Also ’67, sie wurde vor dem Ereignis in Prag gedruckt. Aber das war auch kein Zufall, weil in diesem Buch zum ersten Mal gegen den Strich gebürstet worden ist. Die ist gegen den Strich gemacht worden, im Widerspruch zur allgemeinen Kulturpolitik. Und darüber waren wir uns von Anfang an einig. Ich war der Lektor dieses Buches. Und die beiden Herausgeber und ich waren uns einig, dass das eben jetzt ein Zeitpunkt sei, der es notwendig mache, gegen den Strich zu bürsten. Und ich kann nur sagen, dass das Buch unheimliche Schwierigkeiten gemacht hat, bis es erscheinen konnte, und danach nicht weniger…

Chiarloni:  Es ging so weit, dass Du damals gekündigt hast?

Czechowski: Ja! Das Buch sollte nicht erscheinen. Als es dann erschien, gab es eine von der Partei organisierte Konferenz in Berlin, wo die Gegenstimmen gegen dieses Buch zu Wort kamen. Ich habe damals, als die Stimmung so angeheizt war, dort in dieser Konferenz als Lektor gekündigt. „So, jetzt geht nix mehr, jetzt ist Schluss, jetzt demissioniere ich“, habe ich gesagt. Das hat einen unheimlichen Wust von Widersprüchen hervorgerufen. Im Forum, der damaligen Studentenzeitung, kam eine Riesendiskussion unter der Federführung von Rudolf Bahro zustande, die abgebrochen wurde. Es gab Voranmeldungen zu diesem Buch, also Rezensionen und Stimmen namhafter Literaturkritiker, die zum Schweigen gebracht wurden. Das Buch hat also einen unheimlichen Wirbel erregt, weil es sozusagen eine Stimme war, die gegen das Volkstümliche und das Liedhafte Widerspruch angemeldet hat. Es war allgemein so, dass die Partei und die Kulturfunktionäre das Volkstümliche und Liedhafte und möglichst auch das Schlagerhafte noch halten wollten! Das Gemütliche, das Gemüthafte, Seelenvolle. Und hier waren eben dann also schwierige Gedichte, die auch nicht so ohne weiteres zu rezipieren waren.

Chiarloni: Ja, hermetisch sozusagen und dann für das Volk nicht geeignet, man wollte etwas Einfaches…

Czechowski: Ja, hermetisch ist zuviel gesagt. Es gab so einen Begriff der Volkstümlichkeit. Schon Brecht hat ja gesagt: Das Volk ist nicht tümlich. Aber man hat dieses Buch wirklich unterdrückt, obwohl es auch eine Riesenauflage hatte. Also mindestens 20.000, ich kann’s nicht mehr genau sagen.

Chiarloni: Wie ging es dann mit Deiner gesamtdeutschen Anthologie?

Czechowski: Die ist sozusagen eine andere Stimme, ist später erschienen. Und hieß Brücken des Lebens.4 Ja, die war ,gesamtdeutsch‘. Also sowohl Klassiker wie Romantiker, dann Naturalisten, die Gegenwart und Ost und West. Und das war auch nicht erwünscht! Weil da Lyriker wie Celan und Höllerer, also westdeutsche Lyriker, enthalten waren. Und es hat auch sehr üble Kritiken hervorgerufen. Die „von Czechowski zurechtgezimmerten Brücken des Lebens“, daran erinnere ich mich noch, eine Rezension im ND [Neues Deutschland]. Man wollte das nicht! Es war in der DDR sehr schwierig, und es ist wahrscheinlich auch schwierig zu erklären: man wollte vieles nicht, hat es aber gemacht! Das ist der kulturpolitische Widerspruch, den man ganz schwer im Ausland vermitteln kann, dass man soviel trotzdem gemacht hat. Weil das immer Partisanenkämpfe im Untergrund waren. Einzelne Lektoren, ein Verlagsleiter vielleicht, einigten sich, irgendwas zu machen, was in der Partei oben unbeliebt war. Aber die Partei konnte auch in Berlin nicht alles verfolgen. Das Netz war verhältnismäßig groß für die kleine DDR, für ein Land, das, sagen wir mal, so 18 Millionen Einwohner, eine riesige Buchproduktion und viele Verlage hatte. Heute ist überhaupt nichts mehr übrig davon, außer dem Aufbau Verlag, der sich natürlich auch in westdeutschen Händen befindet.

Chiarloni: Später wurde Celan viel gelesen und auch nachgeahmt.

Czechowski: Besonders Celans „Todesfuge“ hat eine große Wirkung gehabt in der DDR. Übrigens bin ich einer der ersten, oder überhaupt der Erste, der in diesem Buch ’67 die „Todesfuge“ drucken durfte. Ich habe Celan geschrieben und er hat gesagt, er will im Ostblock nicht die „Todesfuge“ drucken, weil sie von den Kommunisten vereinnahmt werde. (Wobei zu sagen wäre: Celan war kein Antikommunist, jedoch Antistalinist!) Er hat mir aber dann, nachdem ich ihm das Inhaltsverzeichnis des Buches geschickt hatte, die Genehmigung erteilt, drei Gedichte von ihm, unter anderem die „Todesfuge“, in diesem Buch zu drucken. Was man auch in der DDR wiederum nicht wollte, so beliebt war Celan nicht. Er galt als dunkel und seine Haltung gegenüber dem Kommunismus war auch nicht so, wie es erwünscht war. Und da wollte man Celan lieber nicht offiziell in den Büchern haben. Aber dann gab es doch Lockerungen in vielerlei Beziehung und man hat dann Celan in vielen Anthologien gedruckt und ihm ein Bändchen gewidmet.

Chiarloni: Also gab es ständig ein Pendel zwischen ja und nein – aber wie verlief das Ganze in Deiner Alltagspraxis?

Czechowski: Es gab überall Nischen, wo kluge Leute saßen. Also, ich habe mit vielen Lektoren Gemeinsamkeiten gehabt und die waren überall, saßen wie ein Spinnennetz. Und dann kam man nach Berlin und musste offiziell genehmigt werden vom Ministerium für Kultur und der Hauptverwaltung Belletristik. Dieses Genehmigungsverfahren war freilich nicht eindeutig. Es wurde zumindest diskutiert. Man wurde nach Berlin eingeladen und sollte zerstört werden. Diese Gespräche waren furchtbar. Man saß als kleiner Lektor so im Stuhl, oben saß der stellvertretende Minister und dann wurde man fertig gemacht:

Interpretiere doch mal dieses Gedicht von Jentzsch!

Und dann hat man es versucht, man war ja auch eingeschüchtert. Dieser Apparat, diese Machtfülle, die sich in Berlin konzentriert hatte, waren natürlich schwierig zu umgehen. Man musste sich den Dingen stellen. Es war aber viel mehr möglich. Auch für Westautoren, außer Grass, der war nie möglich, aber das hatte wieder andere Gründe. Aber es sind auch sehr viele westdeutsche Autoren, auch österreichische Lyriker, Ingeborg Bachmann zum Beispiel, bei uns erschienen. Also, es gibt jetzt die Tendenz, nach der Wiedervereinigung: Es war alles Scheiße, auf gut deutsch gesagt. Es hat nix gegeben, es war alles verboten. Ne, so war das nicht. Da waren wie gesagt Partisanenkämpfe nötig, um einen Autor oder eine Autorin durchzusetzen…

Chiarloni: Das betraf auch die Preise, die verliehen wurden? Du hattest den Heinrich-Mann-Preis bekommen…

Czechowski: Ja, aber das war ein Werk von Christa Wolf, die hatte sich wohl gedacht: Der muss den Preis kriegen. Das habe ich später erfahren. Das war ein Akademiepreis, ich war nicht in der Akademie, aber jemand hatte Einfluss. Der oder die konnten etwas durchsetzen. Das waren also alles kleine Einzelkämpfe. Und man konnte nicht alles verbieten, abwürgen, ins Gefängnis stecken oder so. So einfach war das nicht. Es gab furchtbare Geschichten, die ich auch erzählen kann, wenn man darauf käme nicht deutlich, wer, wie?. Aber innerhalb dieses ganzen Systems gab es eben diese Möglichkeit von Einzelkämpfen, von Partisanenkämpfen. Und das wurde sicher ausgenutzt. Es gab auch Feigheiten, es gab Zusammenbrüche, es gab Selbstmorde, es gab alles. Aber das ist eben das Leben, das ist halt nicht einfacher […] wenn es auch jetzt keine Zensur mehr gibt. Die Zensur wird ja auch durch andere Mittel ausgeübt, durch die ökonomische Macht der Verlage. Wer nicht Autor für die drei, vier großen Verlage wie Suhrkamp, Fischer usw. ist, und ich bin da nicht Autor, sondern schreibe für einen kleinen Verlag in Düsseldorf, der ist doch schon erledigt. Da hat man nichts mehr in der großen Öffentlichkeit zu bestellen.

Chiarloni: Das hat mit der Verteilung zu tun. Ein großer Verlag ist überall präsent, ein kleiner Verlag hat kaum die Mittel, für seine Autoren zu werben.

Czechowski: Ja, sie haben natürlich Verteilungsmöglichkeiten durch ihre PR-Agenturen usw. Aber sie haben auch Geld und können ihre Autoren gut bezahlen. Ich bin trotzdem froh, dass meine Bücher erscheinen und dass sie im Internet sind. Dass ich nachlesen kann, ich bin noch vorhanden. Mehr ist kaum drin. Das ist schon viel. Und andere Autoren, ehemalige DDR-Autoren, haben diese Möglichkeit nicht. Auch einer meiner Gründe, die neuen Länder (Ostdeutschland) zu verlassen, weil die Kämpfe um Positionen dort in furchtbarer Weise fortgesetzt worden sind. Die alten Verhältnisse in den Schriftstellerverbänden der ehemaligen DDR haben sich in das neue System herüber gerettet. Und der Kampf um die einzelnen Plätze in Leipzig oder Dresden ist barbarisch. Da hätte ich nix zu bestellen, weil ich mich damals ziemlich rückhaltlos für die Einheit ausgesprochen habe und ein Protagonist war. Das hat man mir übel genommen, deshalb bin ich nach dem Westen gegangen.

Chiarloni: Immer wieder, heute noch das Thema der Entscheidung! Geh ich in den Westen? Bleibe ich?

Czechowski: Und dann muss man noch sagen, weil wir gerade von Zäsuren sprachen: Ich bin 1978 nach dem Weggang Biermanns, das war ’76, aus der SED ausgetreten. Da habe ich meinen Parteiausweis abgegeben und damit war für mich die ,kommunistische‘ Phase offiziell erledigt. Dass sie noch irgendwie in meinem Kopf eine Rolle spielte und heute vielleicht sogar noch spielt, ist eine ganz andere Frage.

Chiarloni: 1976 ging dann die Zeit des Schweigens zu Ende…

Czechowski: Das muss man ausdrücklich so sagen. Ich war nie ein BiermannVerehrer, aber die Situation, dass Biermann in Köln mit seiner Gitarre sang und am nächsten Tag ausgebürgert worden ist, die hat uns alle genauso empört wie damals die Lügen der ’68 über die CSSR. Dass da eine Konterrevolution stattfindet, dass alles zur Konterrevolution vorbereitet ist und die Warschauer-Pakt-Truppen einmarschieren müssen, um den Frieden zu erhalten. Also, das hat die Leute wirklich auf die Straße getrieben. Und ich erinnere mich noch an jene Nacht…

Chiarloni: An Biermanns Konzert in Köln…

Czechowski: Ja – und man traf sich dann in Wohnungen von Freunden, um gemeinsam fernzusehen, einmal, weil es sowieso opportun war, so etwas gemeinsam anzuschauen, zum anderen aber, weil nicht jeder einen Fernseher hatte, wie heute, wo jeder einen hat. Das gab es nicht. Dann bin ich nachts nach Hause gegangen in Halle, von der Innenstadt, von Kirsches Haus, denn bei Sarah Kirsch waren meine Freunde. Und die Straßen waren voller Menschen! Das war gespenstisch! Nun muss man sich vorstellen, dass die DDR ein Land gewesen ist, wo nicht alle Lampen auf den Straßen brannten. Es war sehr dunkel. Man sparte immer Strom und dann waren immer die Hälfte der Lampen ausgeschaltet. Und nun diese Menschen in diesem Halbdunkel! Und alle strömten nach Hause und hatten Biermann gesehen! Sie mussten ja wieder nach Hause, in ihre Betten oder so, und gingen dann durch die Stadt und alles war voller Menschen. Und Polizisten waren natürlich auch da. Das ist immer so gewesen, wo Menschen waren, da waren auch Polizisten. [allgemeines Lachen] Das ist logisch. Das war schon beeindruckend. Nie hat ein Künstler solche Wirkung gehabt wie Biermann. Und am nächsten Tag wurde er ausgebürgert, offiziell.

Chiarloni: Kommen wir nochmals zur Zeit nach der Wende. Wie lebt ein Dichter, der in den neuen Ländern wohnt?

Czechowski: Die meisten Autoren, die ich kenne, die aus der DDR kommen oder aus dem jetzigen östlichen Teil der Bundesrepublik, wobei ja der Unterschied zwischen Ost und West ungefähr so groß oder noch größer ist wie zwischen Nord- und Süditalien… Da geht auch irgendwie so eine Grenze durch den Stiefel, das ist ähnlich. Das ist ganz schwierig. Dieser Schock, der auch einige Leute vom Schreiben entfernt hat, die aufgegeben haben, oder andere, die sich das Leben genommen haben, das gibt es alles. Dieser Schock der Verteilung, der Distribution von Büchern, der ist riesig gewesen. Um das zu verstehen, muss man eine Charakteristik der DDR erwähnen. Denn in der DDR musste man ja z.B. als Lektor auch darum kämpfen, Leute zu verhindern. Anders gesagt: Es gab ja auch Manuskripte, die eingereicht worden sind, die waren so schrecklich dilettantisch, dass man kämpfen musste, sie zu verhindern. Aber die Partei wiederum wollte diese Leute und hat sie zum Verlag geschickt. Jetzt musste man da irgendwie einen Ausgleich finden. Ich habe schreckliche Sachen erlebt. Da kamen so Kumpels aus der Kohle! Die waren aber nicht etwa freiwillig gekommen, nicht von sich aus, sondern die hatten irgend etwas geschrieben, einen Zettel bei der Arbeit, ein sog. ,Brigadetagebuch‘, und nun geht man mal in den Verlag und wehe, die wollen das nicht drucken! Und die kamen dann an und man war hilflos, ne. Wie konnte man…

Chiarloni: Das waren wohl die Ergebnisse des „Bitterfelder Wegs“?

Czechowski: Ja, ja, des „Bitterfelder Wegs“, wenn Ihnen das was sagt.

Chiarloni: „Greif zur Feder, Kumpel…“!

Czechowski: Ja – also, schreiben war etwas für alle. Jeder sollte schreiben…

Chiarloni: Das war doch schön… [Lachen der Studenten]

Czechowski: Nein, nein, das war nicht schön, kann man nicht sagen. Jeder sollte schreiben und alle haben geschrieben. Es sind unheimlich viele Zirkel entstanden, die größtenteils von Schriftstellern geleitet wurden. Ich hab so etwas auch gemacht. Man kam nicht umhin, in irgendeinen Betrieb zu gehen und einen Zirkel zu gründen. Ich habe das in Zeitz gemacht, im Hydrierwerk. Da wurden Öle und Benzine hergestellt. Da habe ich also versucht, den Arbeitern das Schreiben beizubringen, also einen Zirkel zu gründen. Musste man machen, das war Usus, das konnte gar nicht anders sein.

Chiarloni: Aber Hilbig hat genau diese Geschichte. Er hatte als Arbeiter angefangen.

Czechowski: Ja, ja, na gut. Aber man hat ihn ja nicht hochkommen lassen, der war wieder zu intelligent und zu literarisch von Anfang an. Da hat man von vornherein gesagt: Nehmt den nicht, der ist ja… Es war ziemlich hanebüchen zum Teil. Aber dann kam ja diese Wende. Und ich habe sozusagen als Prophet gesagt: Na, das sind ja zum Teil Leute, die in der DDR durchs Schreiben überlebt haben und Bücher geschrieben haben, für die gebe ich ja nicht einen Groschen! Die werden ja nach der Wende verschwinden! Die sind nicht verschwunden! Im Osten hat sich also so was Neues manifestiert, das ist wie früher, aber unter anderen Vorzeichen. Und die kriechen in den ABM-Posten…

Chiarloni: Keine Arbeiter und Bauern heutzutage…

Czechowski: Ne, ne, das nennt sich Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Und damit kann man im Osten auch Schriftsteller werden. Die schreiben dann eben ein Buch, das niemand haben will.

Chiarloni: Aber die haben kein Publikum, oder doch?

Czechowski: Ne, aber sie können überleben.

Chiarloni: Aber woher kriegen die das Geld?

Czechowski: Von der Regierung. Vom Land Sachsen. Vom Regierungspräsidium, von den Kulturreferenten, die auch die Alten sind.

Chiarloni: Aber da gibt es doch diese 40% Arbeitslosigkeit!

Czechowski: Ja, aber nicht unter Schriftstellern! [Lachen] Denen geht es nicht sehr gut und die können auch kein Kapital bilden oder so etwas. Aber sie überleben! Und ich habe mir gedacht, bei der Wende, um Gottes Willen, die können doch nicht überleben, das ist doch furchtbar, die können doch nicht ’nen Groschen verdienen! Nein, fahr nach Dresden oder guck im Internet nach, die haben alle Webseiten oder wie nennt man das? Sie sind alle da! Und die miesesten Burschen auch!

Chiarloni: Ja, ja – die Wiedervereinigung ist schon kompliziert und besonders die Intellektuellen-Wiedervereinigung. Das ist schon ein Thema für sich.

Czechowski: Man muss ja dazu natürlich auch bemerken, wenn wir schon darüber sprechen, dass es in den bundesrepublikanischen Einrichtungen, Schriftstellerverband VS, also Verband deutscher Schriftsteller und PEN, sehr viele Kommunisten gab, sehr viele Linke, die jetzt wiederum ihre Fühler, schon seit Jahren, nach dem Osten ausgestreckt haben und jetzt natürlich auch wieder interessiert sind.

Chiarloni: Günter Grass, z.B.?

Czechowski: Grass, ja, hör auf von diesem Typen… Ich bin doch aus dem PEN ausgetreten seinetwegen. Also, das lässt sich ganz schwer beschreiben, das ist auch wieder so ein Gemisch und ein Gewebe von Beziehungen und Verflechtungen, die weiter gehen. Und das gehört zur deutschen Geschichte, genau wie 1945 die alten Nazis…

Chiarloni: Wie meinst Du das jetzt…?

Czechowski: Wie zum Beispiel Autoren des Dritten Reichs in der sogenannten Inneren Emigration überlebt und gearbeitet haben und gedruckt wurden. Darüber hat Marie Luise Kaschnitz Gültiges ausgesagt…

Chiarloni: Nein, lieber Czecho, diese Gleichsetzung zwischen 1945 und 1989 kann ich nicht annehmen! Darüber haben wir beide schon oft diskutiert. Aber gerade weil man Günter Grass erwähnt: das ist eine Frage des Pluralismus. Wenn Günter Grass meint, man könnte einen einzigen PEN gründen, das finde ich nicht falsch! Man könnte jetzt alle Intellektuellen zusammentun. Aber jetzt ist eben klar, wie tief der Bruch noch ist, Du würdest nie eintreten.

Czechowski: Nicht ich allein, das wäre arrogant. Das waren Dutzende, die deshalb aus dem PEN ausgetreten sind.

Chiarloni: Kunert auch. Das lässt uns Ausländer verstehen, wie kompliziert es war, nach der Wende.

Czechowski: Ich muss auch zu meiner eigenen Verteidigung sagen: Es gibt da auch verschiedene Ebenen. Die Ebene im PEN, wo ich auch mit Grass befreundet gewesen bin, jetzt im Streit liege, der mir auch nicht mehr antwortet auf Briefe oder so, ist eine andere. Zum Beispiel bin ich ja ein sehr enthusiastischer, auch in Form von Arbeiten in Zeitungen oder so, Vertreter der Wiedervereinigung gewesen. Sehr enthusiastisch! Einiges bereue ich heute, das kann man in dem Buch Nachtspur nachlesen. Da tut mir einiges leid, was ich geschrieben habe. Aber ich habe jetzt, im Laufe der Entwicklung meiner eigenen Arbeiten, einen tiefen Skeptizismus gegenüber Deutschland entwickelt, nicht gegenüber der Wiedervereinigung, sondern vor allem gegenüber den Deutschen entwickelt.

Chiarloni: Das ist typisch deutsch!

Czechowski: Ja, es ist wirklich ganz schrecklich. Und auch, wenn man nach dem Osten kommt… Es sind zwei Tendenzen, die ich im Osten beklage. Einmal natürlich diese Vernachlässigung des Ostens seitens der Regierung in Berlin. Da wird er ja nun wirklich in dritter, vierter, fünfter Hinsicht behandelt. Und hat eben 40% Arbeitslose, zum Teil, nicht überall, aber in einigen Gegenden. Und andererseits, was mich genauso, ich sag’s mal brutal, ankotzt, ist dieses Gejammer der Ostdeutschen. Sie kommen da rüber, nach Dresden oder Leipzig, und es ist ein einziges Gejammer:

Das wolln wa doch nich!

Sie sind enttäuscht, weil sie arbeitslos sind und weil sie nicht Teil haben an dem Reichtum der Bundesrepublik und an den Eigentumsverhältnissen der meisten Westdeutschen, die eben ein Häuschen haben mit einem Garten und ein Auto und im Wohlstand leben. Das haben ja bis heute nur wenige im Osten erreicht. Und dieses Hin und Her und diese Widersprüche, und dann die Ahnungslosigkeit der Westdeutschen, was den Osten angeht; 80–90% der Westdeutschen waren noch nie im Osten. Die kennen das nicht! Man hört die blödesten Fragen: „Wo liegt Leipzig?“ oder so. Kennen die nicht! Nun, Dresden ist spektakulärer, weil sie jetzt die Frauenkirche wieder aufbauen. Aber das führt jetzt alles wieder zu weit. Wenn Sie den Osten kennen, und ich kenne ihn natürlich aus dem Effeff, und Sie kommen heute rüber, dann staunen Sie wirklich Bauklötzer, was da gemacht worden ist, aber alles nicht aus den Kräften der Ostdeutschen, sondern durch westdeutsches Kapital.

Chiarloni: Wenn wir jetzt auf Deine lyrische Produktion zurückkommen, spürst Du auch nach der Wende eine gewisse Entfremdung?

Czechowski: Ja, die Welt ist verändert. Dieser Begriff war in der DDR immer ein dramatisierter Begriff, „die veränderte Welt“, und Brecht hat schon gesagt: Die Welt ist dazu da, verändert zu werden. Aber das Leben, das ich da beschrieben habe, das ist abgelegt, ist erledigt, ist so und so gewesen und lässt sich nicht korrigieren. Was mich interessiert: Wenn man ein altes Gedicht heute noch liest, nehmen wir z.B. „Notiz für U. B.“,5 frage ich mich, ob es überhaupt noch jemanden erreicht? Ob diese Mitteilung abgelegter Zeit, die ja hinter uns liegt, überhaupt noch eine Mitteilung ist, die heute noch in gewisser Weise gültig ist? Ich würde eher sagen, wenn man das Gedicht einigermaßen versteht, was ich nicht sagen kann von mir aus, dann müsste es natürlich noch in einigen Beziehungen mitteilbar sein.

Chiarloni: Der Text entspricht ganz bestimmt einer gewissen Situation. Man sollte wenigstens wissen, wer Uwe Berger war!

Czechowski: Na ja, nehmen wir das doch mal weg. Lassen wir doch das Gedicht mal ohne Überschrift, nennen wir es doch mal nur ,Notiz‘. Jetzt frage ich: Ist erkennbar, dass in diesem Gedicht Dinge benannt werden, die man noch versteht? Die vielleicht in Italien oder in Spanien oder in Frankreich genauso sind und die man noch versteht? Was macht den Wert eines Gedichts, das hundert Jahre alt ist, aus, wenn man es nicht mehr verstehen könnte, weil es keine allgemein menschlichen Züge aufweist, über die man nachdenken und reden kann und die irgendwie gültig sind für lange Zeit?

Chiarloni: Nein, dann muss man ein Gedicht wie „Niobe“ nehmen (oder „Die Bitterkeit auf meiner Zunge“, oder „Venezia“) – das ist ja viel exportierbarer, sogar universal. Schon in „Hinter der Stadt“ liest man von einer „LPG“, das ist ein Wort, mit dem Du aufgewachsen bist, aber das sich sogar bei Euch im Aussterben befindet.6 In „Notiz für U. B.“, da arbeitest Du mit einem Zitat, Du schreibst „die Welt ist verändert“, das war damals wie eine Losung, das sagten immer die anderen, wie Uwe Berger usw. Bei denen war immer wieder die Rede vom „neuen Menschen“…

Czechowski: Das ist aber gut, dass Du das sagst. Genau dieses Gedicht richtet sich gegen die Behauptung des „Neuen Menschen“. Es wird behauptet, der „Neue Mensch“ ist der DDR-Bürger und er entsteht aus der Situation der DDR, dem Sozialismus.

Chiarloni: Ja. Aber ich glaube, zu diesem Gedicht muss man wirklich den damaligen Kontext kennen. Auch der „kahle Nominalismus“ ist nicht direkt verständlich, wenn wir mal bei diesem Gedicht bleiben.

Czechowski: Ja, aber für einen Sprachwissenschaftler oder Germanisten müsste ja dieser Begriff aber erkennbar sein.

Chiarloni: Aber wir sprechen jetzt ja nicht von Germanisten und Philosophen. Die Frage war, inwieweit das Gedicht exportierbar in eine andere Kultur ist…

Czechowski: Ja, liebe Anna, das sind ja prinzipielle Fragen, die zusammen gehören: Exportierbarkeit eines Gedichtes – für wen? Natürlich für eine Handvoll Leute, die dieses Gedicht lesen.

Chiarloni: Bleiben wir bei einem konkreten Text. Nehmen wir ein Gedicht, das nach der Wende entstanden ist, „Die Bitterkeit auf meiner Zunge“.7 Es ist völlig klar, dass dieses Gedicht die Trauer der Nazijahre verarbeitet. Interessant finde ich, wie eigentlich hier der Körper diese Trauerarbeit signalisiert. Es geht alles durch die „Zunge“, wobei auch die Sprache damit gemeint ist. Gleichzeitig erwähnst Du ein historisches Szenario, Du sprichst von Russinnen…

Czechowski: Das Gedicht hat eine Äquivalenz in meiner Prosa, wo ich natürlich diese Dinge anders ausbreiten kann. Die Russinnen […] Ich bin groß geworden in einem Stadtviertel voller Grün, das waren so Mehrfamilienvillen mit vier bis sechs Mietern im Haus, in Dresden am Stadtrand. Und oben an der Autobahn hat man ein Gefangenenlager gebaut für russische „Hilfswillige“ – das war die offizielle Bezeichnung. Das heißt, die russischen Frauen, die da täglich zur Arbeit gingen, zu Fuß, viele Kilometer lang auf dieser Hauptstraße, wo die Straßenbahn fuhr, das waren Gepresste, also unfreiwillig Freiwillige. Die hat man in Russland verpflichtet zur Zwangsarbeit in Deutschland, die konnten ja nicht anders. Das war also ein Frauenlager, unmittelbar neben den SS-Kasernen. Und das war unser täglicher Anblick, dass diese Frauen sich abends den Berg hochschleppten, kaputt und von der Arbeit erledigt und gedemütigt. Und es gab nur ein paar Deutsche, die diesen Frauen Zwiebeln oder Kartoffeln zusteckten, was selten war und nicht gesehen werden durfte. Aber das gab’s doch. Und dann hoben sie die Massengräber, im sogenannten Waldfriedhof [aus]. Da liegen etwa 35.000 Tote in diesen Gräbern, gleich neben den ehemaligen Baracken der russischen Frauen…

Chiarloni: Eine zweite Frage zum Text „Wirkliche Heimat“8 ist mit diesem Gedicht verbunden. Einerseits drücken Deine Gedichte, wie gesagt, diese Trauerarbeit aus, da ist die deutsche Vergangenheit, die Tragödie, die damals passiert ist. Andererseits weist Du in diesem Text, wo Du auf die Kindheit zurückkommst, auf eine glückliche Zeit hin. Du schreibst „[…] Da waren wir, bevor die Russen kamen […] einmal eine Familie.“ Da ist man ja überrascht, so etwas zu lesen, als ob es während der Nazizeit eine gewisse Gemütlichkeit gegeben hätte.

Czechowski: Du übersiehst die Ironie, die nicht nur in diesem Gedicht steckt! Das ist ja, wie soll ich es sagen, ein sehr ambivalentes Gedicht, das ist eben nicht ohne Ironie gesagt:

Da waren wir noch eine Familie

Wie schließt es denn überhaupt? Ja, das ist auch ein bisschen Nostalgie:

Müsste ich schleunigst zurück, zu Fuß, auf der langen, heißen staubigen Straße […]

Das konnte nur in Schöppingen, in Westdeutschland, in Westfalen, entstehen, wo ich auf die alten Zeiten verwiesen war und mir tatsächlich diese Gedanken durch den Kopf gingen, auch Erinnerungen aus jüngeren Zeiten, nachzulesen in dem Bändchen Mein Westfälischer Frieden.9 Ich bin ja oft nach der Wende wieder dort, in Dresden, gewesen, hab mir das angeschaut oder campiert und es Leuten gezeigt, die sich für mich interessierten und so: Da entsteht eben dann so ein Gedicht. Das ist nicht frei von Sentimentalität und von Gefühlen. Wie im ,wirklichen‘ Leben…

Chiarloni: Wo gehen wir hin? Immer nach Hause – sagte Novalis… Kommt man in die Jahre, ist es immer so, dass die Kindheit eine größere Rolle spielt, auch die Erinnerungen.

Czechowski: Ja. Auch die Erinnerungen an den Einmarsch der Russen und an die letzten Kriegshandlungen. In Altenberg saß der General Schörner von der SS, ein Kriegsverbrecher, und verteidigte noch nach der Niederlage, also nach dem 8. Mai, die sogenannte Erzgebirgsfestung, Wir hörten das Geschützfeuer. Und die Russen zogen mit ihren Panzern hoch und flogen mit Jagdbombern über das Gelände, und wir saßen da unten und waren schon von den Russen besetzt.

Chiarloni: Also kein Gefühl von Befreiung?

Czechowski: Niemals! Vielleicht unser späterer kommunistischer Bürgermeister, der ja auch im KZ gewesen ist, dann entlassen wurde, das ist der einzige gewesen, den ich kenne, der das als Befreiung empfand. Wir als Normalbürger haben das nie als Befreiung empfunden. Es gab, wie in Bagdad und jetzt im Irak, maßlose Plünderungen, Vergewaltigungen, die man als Kind mit ansah. In der gesetzlosen Zeit, als die Russen gekommen waren und noch keine deutsche Verwaltung existierte, wurde alles geplündert. Genau wie jetzt im Irak. Also Museen – aber die waren klug gewesen und hatten ihre Dinge weggebracht, nicht wie in Bagdad alles stehengelassen – und Mühlen. Die Leute wollten Mehl und Korn, aber sie haben dabei alles kaputt gemacht: Maschinen, Siebe, alles kaputt geschlagen.

Chiarloni: Kommen wir zur Gegenwart. Deine Gedichte nach der Wende sprechen oft eine gewisse Einsamkeit aus. Wenn wir „Hinter der Stadt“ lesen, ein Gedicht, das auf die Schwierigkeit einer Sozialisation, wenn nicht auf den Bruch zwischen West- und Ostdeutschland hinweist. Als ob Deine innere Landschaft ausradiert wäre…

Czechowski: Für mich ist das Gedicht nach wie vor ganz konkret. Das ist die Situation nach dem Herbst ’89, als die DDR bereits von der Bundesrepublik, wie sagt man, vereinnahmt war. Das ist das Neue, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Am besten, man lässt den Text für sich sprechen.

Chiarloni: Das Gedicht zeigt auch, warum Du ein „Landsehafter“ genannt worden bist…

Czechowski: Ja, das war auch ein Ansatz für Wulf Kirsten und für mich, als wir noch befreundet waren, was gemeinsam zu machen.

Chiarloni: Aber deine deutschen Landschaften sind immer von der Geschichte markiert. In diesem Sinne profilierst Du dich auch nach der Wende als ein dichterischer Zeuge. Ich denke z.B. an das Gedicht „Wewelsburg“.10 Das könnte auch ein guter Schluss für unser Gespräch sein.

Czechowski: Das gehört zu den Westfalen-Gedichten. In der Mitte der neunziger Jahre habe ich versucht in Westfalen wieder Grund unter die Füße zu kriegen. Die Wewelsburg ist ein ganz wichtiges Bauwerk, weil die Nazis, im engeren Sinne Heydrich und Himmler, die beiden Protagonisten der SS, also vor allem Himmler, dort versucht haben, eine Ordensburg zu errichten. Und das Seltsame an dieser Ordensburg waren verschiedene Optionen, unter anderem die, dass dort Frauen untergebracht werden sollten, die mit SS-Offizieren Kinder zeugen sollten, als so, wie nennt man das, gab’s auch ‘nen Begriff dafür…?

Jemand aus dem Publikum: Lebensborn…

Czechowski: Lebensborn. Das war Himmlers Idee, eine neue Rasse zu züchten. Was Gottfried ja schon mal vorgeschlagen hatte in den 30er Jahren, eine neue Rasse zu züchten, und da blonde, gutgewachsene Frauen mit mit SS-Offizieren arischen Ursprungs zu paaren. Und das ist auch gelungen, und diese Leute, diese Frauen und Männer, die diesen Verbindungen entsprangen, gibt’s ja noch heute, die sind ja etwa in meinem Alter oder jünger. Da gibt es Filme und Protokolle.

Chiarloni: Auch in Norwegen hat man das versucht mit Norwegerinnen…

Czechowski: Die waren ja auch den Nazis sehr willkommen, weil sie arisch waren. Und diese Wewelsburg, das ist das Besondere, die ist 1945 total niedergebrannt. Die haben die Amerikaner oder Engländer vermutlich angezündet oder man sagt auch zum Teil, die SS selber habe diese Burg angezündet und gesprengt. Und das Perverse ist: diese Burg hat man im Stil der Nazis haarklein wieder aufgebaut. Es gibt da einen riesengroßen Rondellsaal mit Marmorintarsien, mit Hakenkreuzen und Lebensbäumen, die Nazis hatten ja viele solcher Symbole aus der Edda, aus germanischer Zeit, die zum Teil natürlich auch erfunden waren von Himmler selbst. Der hat die nach Feierabend gekritzelt: So, das ist arisch. Und das wurde dann eben so verewigt. Und das ganze Dorf ist völlig ,vernazisiert‘. Jedes Haus hat irgendwelche Balken mit irgendwelchen Runen und Sprüchen aus der Nazi-Zeit.

Chiarloni: Wann ist das wieder aufgebaut worden?

Czechowski: Nach dem Krieg. Als man Geld hatte, in den 60er Jahren. Da wollte man eine Gedenkstätte draus machen im Sinne des Antifaschismus. Aber in Wirklichkeit ist das heute ein mehr oder weniger geheimer Treffpunkt von Nazis, denn die können dort ihrem Kult völlig ungehindert nachgehen.

Chiarloni: Ist die Burg zur Adenauer-Zeit wieder entstanden?

Czechowski: Nach der Adenauer-Zeit, das hat dann der Kreis Paderborn initiiert. Und das konnte man ja gut machen und begründen, vielleicht war es ja auch ehrlich gemeint: Wir begründen das als Wiederaufbau einer Gedenkstätte im Gedenken an das furchtbare Jahrhundert oder was. Aber es ist eben sehr vieldeutig. Und darüber spricht das Gedicht…

Chiarloni: Man kann vielleicht das Gedicht zusammenfassen mit einer Frage: Ob Du damit einverstanden bist, dass für einen deutschen Dichter die Aufgabe der Erinnerung immer besteht?

Czechowski: Ja, nicht nur für einen deutschen.

Chiarloni: Durchaus nicht!

Czechowski: Haben alle Dreck am Stecken.

Chiarloni: Italien auch.

Czechowski: Auch in Holland oder in Schweden. Das kommt ja erst zur Sprache, wenn junge Leute jetzt die Nazivergangenheit Schwedens überhaupt benennen. 50 Jahre lang ist ja kein Ton oder fast kein Ton verloren worden über Faschismus oder Nazismus in Holland oder Schweden.

Chiarloni: Andererseits hast Du gerade dieses Gedicht als Finale gewählt…

Czechowski: Ja, es korrespondiert in etwa mit „Bitterkeit auf meiner Zunge“. Das eine ist sozusagen erlebt und das andere – „Die Wewelsburg“ – ist natürlich weniger unmittelbar, eher kommentierend.

Chiarloni: Und dabei fällt ja auch wieder das Wort Einheit.

Czechowski: Ja, sicher, es gibt ja verschiedene Aspekte der Einheit, aber dass die Einheit unter anderem dem Neonazismus sozusagen Nahrung gegeben hat, dass überall, vor allem im Osten Demonstrationen von Anhängern der Nazis stattfinden, das hat man ja 1989 nicht geahnt. Kaum waren die Demonstrationen montags auf dem Höhepunkt angelangt, kamen die ersten Nazis mit ihren ,Reichskriegsflaggen‘, schwarz-weiß-rot und eisernes Kreuz, also zuerst noch ,getarnt‘ mit Insignien des Ersten Weltkriegs…

Chiarloni: Aber eine echte Gefahr von einem neuen Nationalsozialismus gibt es jetzt doch nicht in Deutschland, oder? Würde ich doch nicht sagen, oder?

Czechowski: Aber diesen halben Untergrund der Neonazis, den sollte man nicht unterschätzen, der ist sehr aktiv, sie tauchen überall auf. Und es gibt fast jede Woche Skandale mit diesen Leuten. Sie sind da und man muss vorsichtig sein, beizeiten […] Aber es gibt ja keine rechtlichen Handhabungen, es ist ja alles im Bereich der Legalität. Die werden ja offiziell zugelassen zu Demonstrationen und selten verboten. Und jetzt sitzen sie bereits im sächsischen Landtag…
Die Poesie kann einer derartigen Erscheinung nicht mit Agitation entgegentreten. In meinem Thema, der Geschichte, bleiben Vergangenheit und Gegenwart untrennbar. Die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit münden allerdings nicht in einer ,lichten‘ Zukunft, wie es die DDR gern gehabt hätte. Es gilt, sie möglichst konkret im Gedicht festzumachen. Was Dürer vor fünfhundert Jahren gesagt hat, hat noch immer Gültigkeit: Die Kunst steckt in der Wirklichkeit, wer sie herausreißt, der hat sie.

Erschienen in Karen Leeder (Hrsg.): Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog, Editions Rodopi, 2007

 

AN CZECHOWSKI

Das sind die Reichen
Die ich nicht leiden kann
Diese Pest
Die erntet

Da kommt Jutta
Die leckt die Krümel auf
Krümel der Krümel
Hat sie, sagt sie, wenn sie nicht leckt

Unterm Gewitter
Im Bahnhof harrend
Denk ich an Czecho
Der mit Jutta gesehen war

Langeweile
Und Lüge und Furcht
Drei graue Weiber
Regieren

Armer Hund
Einen Pudel
An roter Leine den schwarzen
Häng ich Dir an

In jedem Kreise
Immer der Putzfleck
Bist, Nobler
Mein Freund, Du, ferne

Dort, wo der Pfeffer-
Eben wo wir sind
Lustiger
Wächst er

Schließlich geht Alles
Dahin
Streu Deinen Samen
Ich streue den meinen

Karl Mickel

 

ZWEITE ODE AN CZECHOWSKI

Auch über Lebende
Wird es doch heißen
Müssen: wie gut
Daß Der auf der Erde gewesen ist.

Traust Du dem Frieden?
Ich sage
Besser sogleich über Dich:
Gut, daß er da ist.

Zu Deinem Lobe
In höchsten Tönen
Vier Wörter mit i:
Er isset, trinket, dichtet und fickt-

Wenn aus dem Fenster
Flüchtig
Anderthalb Takte
Hat er das ganze

Wider sich streitende Stück
Hält er zusammen
Schlottern ihm die Gelenke auch
Und die Seele flattert

Und unsre Freunde
Die hin sind –
Hier das Nordlicht
Dort das Kreuz des Südens –

Ist es woanders
Anders?
Ist es hier denn
Anders als anderswo?

All
Gemeine Allgemeine Krise
Vom scheiternden Schiff
Die scheiternden Schiffe

Betrachten –
Ja! darum
Leiden, Du mußt nur die Hälfte sehn
Menschen Symmetrisches:

Streu Deinen Samen
Sagt ich; wenige Jahre, und
Meine Söhne
Schießen einander

Karl Mickel

 

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005

Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005

Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005

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Nachrufe auf Heinz Czechowski: Die Welt ✝ poetenladen ✝
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Czechowski“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Heinz Czechowski

1 Antwort : Heinz Czechowski: Kein näheres Zeichen”

  1. Hagen Enke sagt:

    Warum hat es dieses schöne Gedicht nicht in die “Ausgewählten Gedichte” geschafft?

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