Heinz Czechowski: Mein Venedig

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heinz Czechowski: Mein Venedig

Czechowski-Mein Venedig

ETWAS WIE EINEN ANFANG MACHEN

Etwas wie einen Anfang machen
Oder ein anderes Ende.
Die Geographie hat ein Loch,
Wie ich mich auch drehe und wende.

Ich sprachs. Mir war nicht zum Lachen.
Ich frug mich: Was wollte ich noch?
Es war kalt. Eiserne Bande
Krochen um mich. Waren es Schlangen?

Einer kommt. Einer geht.
Hierzulande
Sind auch die Sommer nur bessere Winter.
Macht eure bangen
Gedanken los. Dort gleich hinter
Dem Wald beginnen die Wege,
Die unsere Kinder
Nicht mehr begehn: die Stege
Brachen im Krieg, die toten Soldaten
Liegen noch immer
Unter der Erd.

Sind wir wir? Bin ich ich?
Lieb ich noch dich?
Oder kann ich schon keine mehr lieben?

Wären wir doch
Zu Hause geblieben.

Sie dein Gesicht
Das keiner mehr kennt,
Wenn dich die Menge verschluckt…

Geduckt
Geh ich unter den Leuten.
Alles hat nichts zu bedeuten.
Vielleicht
Sind wir nicht für das Leben gemacht.
Getan
Ist noch lang nicht
Gedacht.

 

 

 

Heinz Czechowski,

in Dresden geboren und Zeuge seines Untergangs, heute in Leipzig lebend und Zeuge seines Verfalls, ein Bewohner der DDR, entdeckt und erforscht am eigenen Leibe die Spuren der Bruchstellen in der Gesellschaft seines Landes.
Seine Gedichte sind Landschaften, innere und äußere. Nicht zufällig kreisen sie immer wieder um Sachsen, kehren zurück zu real existierenden oder vergangenen Orten, die Eytra heißen, oder Espenhain, oder Böhlen.
Es sind Texte über die auch in der DDR ebenso lästige wie unausweichliche Gegenwart des Vergangenen; ihr Ton ist die konsequente Melancholie, die auch die Frage nach dem Ort des Gedichts in der Gegenwart nicht zergrübelt, sondern mit neuen Gedichten beantwortet, mit gebundener Sprache auch dort, wo diese zur Prosa sich verdichtet: in Czechowskis Venedig, das irgendwo bei Dresden liegt, am See bei Machern, im väterlichen Haus, bei der Betrachtung von Besitztümern.

Wagenbach Verlag, Klappentext, 1989

 

Beiträge zu diesem Buch:

Peter Hamm: Auf nach Venedig!
Die Zeit, 8.12.1989

Hans Bender: Ja, es ist Zeit zu reden!
Süddeutsche Zeitung, 23./24./25./26.12.1989

Alexander von Bormann: Die Luft zum Atmen
Neue Zürcher Zeitung, 29.12.1989

Jan Roß: Venice, DDR
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.1.1990

Marieluise de Waijer-Wilke: Heinz Czechowski: Mein Venedig
Deutsche Bücher, Heft 2, 1990

Tobias Gohlis: Des Dichters Sorge um die Schnecke
Die Welt, 17.2.1990

Franz Hodjak: Prägnanz der Schwebe
Neue Literatur, Heft 3/4, 1990

 

ERNSTE MAHNUNG 75

Der Odendichter H. Czechowski, welcher
Die Welt sehr liebt, und darum melancholisch
Auf sie blickt, seit er denkt, hat vor 5 Jahren
(Er wohnte da in Trotha, das ist weit
Von hier, dem Zentrum, wo er jetzt wohnt, gleich beim
Stadtgottesacker, wo der Stadtgott sitzt
Von Halle, und, geurteilt nach den Blättern
Im Frühjahr, die sind fett und werden
Jedes Jahr weniger, langsam eingeht)
Der Dichter H. Czechowski also hat
Vor gut 5 Jahren, als wir Rotwein tranken
In Trotha, neugrauer Vorstadt, die aus stillen
Straßen mit Häuschen, Gras und Gartenweiden
Ausläuft in viergeecktes Neubauland
Die Häuser hoch, darinnen Puppenstuben
An Fäden, oder in, Kokon Kokon
Die Puppe in der Puppe ist der Mensch
Czechowski, sag ich, hat vor 5/6 Jahren
Als wir beim Wein, und friedlich, sprachen über
Genüsse unterschiedlicher Erzeugungsart
Von seiner Kunst gesprochen, einen Karpfen
So zu bereiten, wie es keiner kann
Außer ihm selbst; und schon die Ingredienzien
Genannt nur, nicht gezeigt, bewirkten uns
Den Speichelfluß im Mund wie Pawlows Hunden:
Der Mensch ein Reflexwesen. C., tief zufrieden
Lud uns zum Karpfenessen für die Zeit
(Das sind, man weiß, die Monate mit R)
Wo Karpfen wären, die so fest wie gut sind.
Seitdem, wenn wir uns trafen – Theater, Umzug
Besuch, ein krankes Kind, Parteiverfahren –
Ging anfangs noch die Rede von Verschieben
Und wenn ich Czecho sah, und das war öfter
Dachte ich an Karpfen. Jahrelang. Jeder Reiz
Flacht ab durch Wiederholung oder Ausbleiben
Dessen, was man erwartet. So könnte ich ruhig sein:
Sechs Jahre sind sechs Jahre und bald sieben.
Tatsächlich bin ich ruhig, man kennt mich ja.
Nur manchmal, wenn ich Karpfen sehe, denke ich
Jenes Abends in Trotha, und der ungeheuern
Ahnung im Mund (seitdem hat Czecho
2 Bände mit Gedichten, 1 Essayband
Nachdichtungen, Interviews, Theaterstücke
Sowie ein längeres Werk vom Karpfenessen
Achtstrophig und in Vierzeilern, doch reimlos
Veröffentlicht) und dann, erinnernd, möchte ich
Stehend auf Festem wie auf Mickels Tisch*
Ausrufen, laut, zumindestens vernehmlich:
Czechowski, statt der Oden auf den Karpfen
Gib uns den Karpfen, gleich!
Die Stimme bricht mir.

Rainer Kirsch

* Vgl. Karl Mickel, „Der Tisch“, in Eisenzeit, Mitteldeutscher Verlag, 1975

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005

Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005

Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Czechowski“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Heinz Czechowski

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