IMMERWÄHRENDER SONTAG
Bei mir ist immerwährender Sonntag: niemand
Nimmt mir die Butter vom Brot. Die Extreme
Treffen sich: Smetanas Moldau und
Anna Blume von Schwitters – sie
Feiern Hochzeit in mir. Die vergangenen Jahre
Meines bisherigen Lebens: ein einziges
Eldorado des Glücks, meinen Häschern
Entkommen zu sein. Wie gesagt: bei mir
Ist immerwährender Sonntag, die Luft
Ist voller Zitate, wie Schmetterlinge
Umgaukeln sie mich. Darüber hinaus
mache ich meinen Film mir selbst:
Lauter love storys with happy endings:
Die betreffenden Briefe
Fülln meine Mappen, mir
Bleibt gar nichts anderes übrig,
Als glücklich zu sein! Endlos
Ist das Register meiner Erfolge: Leporello
Könnte mein Eckermann sein!
Und was für ein Stolz
Erfüllt mich beim Anblick meiner fünf Pässe! Wie
Privilegiert lebte ich doch: der Staat
Sorgte sich um mein Wohl als Untersuchungsgefangener
In eigenen Angelegenheiten. Kurzum: der Montag
Geht mich nichts an, auch
Wenn alle sagen, er
Kommt bestimmt. Ich jedenfalls
Lebe am Sonntag,
Mit den Dienst- und Freitagen
habe ich nichts zu tun, selbst der Donnerstag
Ist mir egal.
Das Geschwätz darüber, daß den Autoren aus der DDR Themen und Sprache abhanden gekommen seien, weil sich die existentiellen Voraussetzungen und Herausforderungen für ihr Schreiben erledigt hätten, behaupten die großen Medien, wenn sich für sie nicht Skandale abzeichnen. Eine ruhige, besonnene Stimme, noch dazu wenn sie jetzt über einen Schweizer Verlag zu uns kommt, wird da kaum wahrgenommen. Ein Buch ohne spektakulären Plot, fern von exzentrischer Artistik, gar zwischen Vers und Prosa changierend, das ist wohl nichts fürs Literarische Quartett und läuft schon dadurch Gefahr, keine große Öffentlichkeit zu erreichen.
Aber wer keine Bonmot-Sensationen sucht, nicht die Schlagzeilen der Stasi-Enthüllungen, den eilfertigen Abspann zu allem, was war, oder die selbstgerechte Schuldzuweisung wendezeitiger Enqueten, der sollte vielleicht zu diesem Buch greifen. Heinz Czechowski ist ein mehr nachdenklich-bedenklicher denn bekenntnislauter Schreiber; einer, der sich schon zuvor darauf besann, auf sich selbst zu verweisen, bevor er die Zeitläufe für alles verantwortlich machte, sie zu beschuldigen oder ihnen eilfertig zu huldigen; Ich und die Folgen hieß sein letzter Gedichtband, und sein Buch Auf eine im Feuer versunkene Stadt von 1990 ging wohl im Wendetrubel unter. Aber das Buch ist ein einziges inständiges Umkreisen seiner „Lebenslandschaft“ Dresden; Stadt, die ihm Trauma und Grund für Träume geblieben ist, auch in diesem Buch hier den dunklen Ton anschlägt, eben seit jenem 13. Februar 1945, an den heute alljährlich die Glocken erinnern – „Nachtspur“ über den heiteren Tagen einer Kindheit in Vaters Garten.
Als das Stromtal der Dämmerung bebte,
Das meine Kindheit geprägt,
Hatten steinerne Schreie
Die alten Kastanien zersägt.
Haus und Kindheit zu Asche.
Frühes Erinnern zu spät.
Letzte Tage der Kindheit
Zwischen Nußbaum und Gartengerät.
Hier ist Czechowski beheimatet und ganz bei sich. Alle anderen deutschen Städte und Landschaften, die er kennenlernte, Orte in West- und Osteuropa, die er durchstreifte (ich erinnere nun doch sein Stadt-Erlebnis „Von Paris nach Montmartre“), er sah und sieht sie mit dem Blick von hier aus, und alle Wege führen dahin zurück, zu den Bildern der Dresdener Maler, die er beschrieben hat, zu den Dichtern und Musikern der Romantik, die hier begraben liegen – das Buch ist auch eine einzige Liebeserklärung an Dresden, seine einstige Größe, Untergang, Wiederauferstehung:
Ich
Muß zurück aus der Stadt, die ich liebe,
In die, welche mich schlaflos läßt:
Hin und wieder
Erschrecke ich über mich,
wenn ich mich dabei ertappe,
Dies zu vergessen
Ich kann nur den sympathetischen Grundton des Buches andeuten, man sollte sich in seine Zwiesprache und Selbstgespräche hineinbegeben, denn da wird wie selbstverständlich vieles angesprochen, was uns alle in diesen letzten Tagen bewegt hat, ohne daß der Sprecher ins Demonstrative verfällt oder geschwätzig wird.
Bin geblieben. Hier
Wo ich bin
Wird keine Revolution
Mein Leben verändern…
Ich
kann mich nicht unterbringen in
Fragebögen, Steuer-
Erklärungen und Versicherungspolicen…
Andere Fremdheiten sind an die Stelle der früheren getreten; und der Autor wird, indem er uns seine Befindlichkeit mitteilt, ohne die Stimme oder gar den Zeigefinger zu heben, manchmal grübelnd, manchmal leicht melancholisch, dabei aber mit sympathischer Selbstironie und ganz ohne die heute so verbreitete Selbstgerechtigkeit, zum authentischen Zeugen dieser Zeit, als Dichter zu dem, der „beschreibt, was eigentlich nicht zu erschreiben ist“, weil er das Gegenwärtige unaufdringlich im Licht des Vergangenen erblickt und unserer voranhetzenden Tagesaktualität störrisch und beharrlich ins eilfertige Wort fällt, indem er sich genau erinnert.
Die Prosa der Verhältnisse und
Die Lyrik unserer Träume
Sind aufeinandergeprallt.
Czechowski sieht keinen Grund, sein Herkommen zu verleugnen, nicht was ihm geschah, nicht woran er sich beteiligt sah, er erzählt davon und bringt es im resümierenden Vers auf den Punkt. Überschwang und Pathos ist nicht seine Sprache, vielmehr stetes Beharren auf Erfahrung und auf Empfindung, der man sich, durch Erkenntnis gewitzt, dann auch anvertrauen kann („Dichter / Und Kinder / Sagen mitunter / Die Wahrheit“).
Man kann doch heutzutage nur zu oft beobachten, daß sich deutsche Autoren aus beiden Hemisphären mit ihren Vorurteilen selbst im Wege stehen. Wie sich ihre Ressentiments oder ambitionierter Ehrgeiz Persönliches oder Politisches betreffend – sozusagen gegen das ursprüngliche Talent durchsetzen und es peinlich desavouieren. Nicht daß Czechowski Versuchungen solcher Natur ganz fremd wären; aber er nimmt sie mit sanftem Humor als Schwierigkeiten des Metiers wahr und macht sie unversehens selbst zum neuralgischen Moment seiner Schreibarbeit. Und das ist bei ihm eben 1992 nicht anders als in den Jahren zuvor, ich könnte die entsprechenden Zeilen zum Vergleich anführen,
Stenogramme
Des täglichen Lebens, gelebt
Zwischen den hohen Tönen der Bücher und
Den Banalitäten des Tages…
Czechowski gibt uns ein Buch zu lesen, welches, selbst wenn er es in Kapitel mit motivischen Überschriften eingeteilt hat, eigentlich nicht daraufhin angelegt ist, brav von vorn nach hinten durchgenommen zu werden. Nicht nur die Jahre immerhin recht entscheidende Jahre – kreuzen sich, „Texte / in zeitlicher Folge / Habe ich nicht zu verteidigen“. Man kann hier und dort aufschlagen, da verweilen, blättern, noch einmal auf eine Stelle zurückkommen, weil sie erst durch eine andere ihre rechte Bedeutung bekommt. Manche hoffen so gern auf die treffende Erzählung, rufen laut nach dem handlungsreichen Zeitroman und wissen doch selbst, daß dem, was da und durch uns geschieht, nicht romanhaft beizukommen ist.
Hier bietet ein Autor ein nuancenreiches Mosaik, das sich dicht an eigener Lebens- und Schreiberfahrung orientiert. Genregrenzen ständig überschreitet, berichtet, erzählt, notiert, sich skeptisch unterbricht, wenn er, abhold allen Histörchen fürs nostalgische Gemüt, etwa ins Fabulieren gerät, aus der Prosa zwanglos in den Vers übergeht, aus dem Vers zurück ins abwägende, konstatierende prosaische Parlando, das sich auf nichts mehr verläßt als auf die eigene Stimme. Stimme, die manches auch einfach offen, wie sagt man doch, in der Schwebe läßt.
Czechowski ist eine poetische Natur.
Das Glück
Hat keinen Namen. Ich
Bin immer noch ich, unverwandelt
Werd ich ins kommende Jahr gehn.
Ich pflanz keinen Baum. Ruhig
Werd ich sogleich
Die Straße betreten.
Furchtlos.
Ich wünsch ihm die Leser, die sich mit ihm dabei auf die Spur machen.
Das Buch, vom Schweizer Ammann Verlag Zürich verlegt, vom Literaturfonds e.V. Darmstadt gefördert, wurde in der bewährten Offizin Andersen Nexö in Leipzig gedruckt. Zusammenwirken, auf das man doch hinweisen sollte.
Gerhard Wolf, Neue Zeit, 3.6.1993
Heinz Czechowskis Gedicht über den österreichischen Erzähler Joseph Roth beginnt so:
Die Lehren der Geschichte (in
Anführungszeichen gesetzt),
Vermittelt er nicht, dieser
Jude aus Brody: er selbst
Ist die Lehre, er selbst
Die Geschichte: ein Chronist
Auf Wanderschaft, begabt
Mit jener Fähigkeit
Zur genauen Beschreibung,
Hinter der sich der tiefe Glaube
An die Unfähigkeit des Menschen verbirgt,
Sein Schicksal
Selbst zu bestimmen.
Wohl zu einem wesentlichen Teil sind diese Verse Selbstaussage. Auch Czechowski ist solch ein Chronist, begabt mit Unglauben an die menschliche Fähigkeit, Geschichte, Vernunft und Glück zusammenzubringen. Sein im renommierten Schweizer Ammann Verlag erschienenes, im doppelten Sinn vielseitiges Lesebuch zeugt davon. Es enthält autobiographische Prosa, Reisebilder, kulturgeschichtliche Betrachtungen, Gedichte und Essays. Die Wanderschaft kann nach Bukarest oder Vilnius führen, Städte, die der Autor nach dem Umbruch aufsuchte. Viel öfter führt sie ins Weichbild sächsischer Städte, in die „Stadtranddörfer“, ins Thüringische und Anhaltinische, beispielsweise zur „Bockwindmühle in Brehna“, die immer noch in Betrieb ist. Czechowski widmet sich der sorgsamen Durchmusterung der Geschichte als Alltagsleben, dem Aufsuchen, Aufzeigen und Aufzeichnen der Lebensspuren vergangener Generationen, ihrer noch nicht vom Mahlwerk des Fortschritts zerschroteten Zeugnisse. Dem Prosastück ist das Gedicht „Brehna“ beigesellt. Es schließt:
Der Hunger
Wird uns
Vermutlich nicht töten, heimgeholt
Ins Reich der Akkumulation,
Werden wir nicht mehr verstehn,
Wie wir zu denen wurden,
Die wir sein werden.
Der Gegenstand des Chronisten Czechowski sind also nicht die geschichtlichen Oberflächenbewegungen, und seien sie in ihren Turbulenzen noch so dramatisch. Vielmehr ist es die Fortschritt genannte anhaltende Ausnutzung und Vernutzung der menschlichen Lebenswelt. Dagegen erhebt Literatur Einspruch. Als Spurensicherung ist sie Widerspruch gegen fortschreitende Zeit. Freilich wird sich das Interesse vieler Leser zuerst darauf richten, was der Autor, seit langem in Leipzig ansässig, als unmittelbarer Zeitzeuge der Wende zu Protokoll gibt. Das ist in der Fülle der Mitteilungen, Reflexionen, Reaktionen und Invektiven aufregend, stammen die Texte doch aus einem Zeitraum, der es erlaubt, Vorgeschichte und Folgen der Wende in die Betrachtung einzubeziehen. Zugleich ist der Abstand zu den Vorgängen gering, die Texte verdanken sich (relativ) spontanem Reagieren und Notieren. Deutlich wird: Ihr Autor hatte 1989 keine politische Utopie zu verabschieden, die Distanzierung vom Realsozialismus setzte in den siebziger Jahren ein, wie Czechowski in einem autobiographischen Text über das sorbische Dorf Wuischke selbst schreibt. Zeugnisse dieser Desillusionierung sind im Band reichlich vertreten: In zahlreichen Texten voller Sarkasmus und grotesk-bitterem Humor hatte Czechowski seit längerem die „gestörten Verhältnisse“ attackiert. (Und der aufmerksame Leser dieses Bandes kann so über oder unter dem nüchtern-melancholischen Grundton eine Vielzahl anderer Töne auffangen.) Czechowski sah keinen Anlaß, für eine wie auch immer reformierte DDR zu optieren. Sein Urteil:
Es ist Zeit, daß es Zeit ist.
Vereinigungseuphorie freilich war nicht angesagt. Das kann mit Blick auf das eingangs Zitierte nicht verwundern. Denn sollte nun über Nacht eine Zeit angebrochen sein, in der beste menschliche Wünsche und Absichten einerseits und die aus dem Verfolgen unzähliger Einzelinteressen resultierende Geschichte andererseits in befriedigendem Maße übereinstimmen? Czechowski kann der Behauptung geschichtlicher Subjektmächtigkeit, ohne die ein Politiker schwerlich die Rednertribüne betritt, nicht folgen. Eben deshalb war die „Wende“ keine Wende in seinem Schreiben. An Deutlichkeit läßt die Selbstauskunft „Nach dem Umsturz“ nichts zu wünschen übrig:
Grundsätzlich
Sehe ich keine
Veränderungen, die
Mich betreffen.
Und in seiner Rede „Von der DDR nach Deutschland?“ bekräftigt er, „daß der Pessimismus der Geschichte, den wir uns angesichts der Aussichtslosigkeit unserer Bemühungen um eine bessere Welt anempfahlen, keine nur dem real existierenden Sozialismus geschuldete Enttäuschung gewesen ist“.
Nun ist es höchste Zeit zu bemerken, daß sich Czechowskis Schreiben nicht allein als Chronistenwerk charakterisieren läßt. Es sei denn, der Begriff schlösse die Chronik des Subjektiven ein: der Stimmungen und Gefühle, Meinungen und Frustrationen, der Ängste und Wünsche, der Mitteilungen über Schreib- und Lebenskrisen. Das aber hieße, ihn unzulässig auszuweiten: Vom Chronisten erwartet man nun mal, daß er das Gesehene und Gehörte notiert, nicht aber, daß er sein Innenleben ausbreitet und seine Gefühle offenbart. „Ich schreibe planlos, vielleicht ums Überleben, vielleicht auch nur, um meiner Pflicht nachzukommen, Chronist zu sein“, heißt es im Prosastück „Nachtspur“, das dem Band den Titel gab. Diese Bemerkung vom Schreiben „vielleicht ums Überleben“ ist nicht weniger ernst zu nehmen als das Bekenntnis zum Chronistsein.
Literatur ist so auch unmittelbare Lebensregung und -erregung. Das Gedicht „Nimms, wie es kommt, nimms leicht“ liefert die Poetologie:
Ja,
Ich schreibe zu schnell: das Gedicht
Ersetzt mir das Tagebuch, Stenogramme
Des täglichen Lebens, gelebt
Zwischen den hohen Tönen der Bücher und
Den Banalitäten des Tages. So
Verweigert die Sprache
Sich nicht. Aber wie lange? Ich hink
Den Vergleichen davon. Wohin
Mich der Weg führt,
Ist mir ein Rätsel.
Freilich sollte solche Aussage den Leser nicht zum schnellen Lesen verführen. Der eine oder andere Text mag nicht viel mehr als ein „Stenogramm des täglichen Lebens“ sein. Aber Czechowskis Gedichte generell als Notate in „Kurzschrift“ anzusehen wäre ein Mißverständnis: In ihrer Mischung von Empirismus und Reflexion, Detail und Kommentar, historischer Reminiszenz und Selbstaussage eröffnen sie Räume geistiger Besinnung. Nur scheinbar sind sie en passant geschrieben, Kunstanspruch zeigt sich gerade in dessen Herabsetzung, in der Herabstimmung der „hohen Töne der Bücher“. Der Lyriker flieht die in den kunstvollen lyrischen (Über)Bauformen steckenden Bedeutungen, Ordnungen – „Jede Ordnung ist eine Vergewaltigung“ – und schließlich Lügen: „Ein Überbau von Lügen / erhob sich über die Basis / Der Tatsachen“, heißt es im Gedicht „Als die Wörter verboten waren“, das das Tun (und Lassen) der schreibenden Zunft selbstkritisch reflektiert. Czechowski entkommt den „hohen Tönen“, sofern wir sie als Synonym für Sinnversprechung, gar ideologische Verheißung begreifen. Zum anderen verleihen – innerhalb weitgehend normaler Satzstruktur – die Zeilenbrechungen notwendigerweise den Worten und Wortsequenzen eine gewisse Bedeutungsschwere, die mit dem Gestus des Beiläufigen kontrastiert. Und der „hohe Ton“, wie ihn beispielsweise die Ode hervorbringt, wird in zahlreichen Gedichten durch die spannnungsvolle Beziehung von Strophengliederung und Sprechweise erinnert und zugleich zurück genommen.
Wie verunsichert auch immer, in Czechowskis Gedichten artikuliert sich bedeutungsträchtig ein Subjekt. Sie sind „altmodisch“, wäre denn das „neumodische“ lyrische Bedeutungsflackern, das an die Atmosphäre einer rammelvollen, von Lichtblitzen durchzuckten Disko erinnert, ein Maßstab. Czechowskis verschiedenartige Texte fügen sich zu einem lockeren Ganzen, das wesentliche Stück deutscher Geschichte anschaulich werden läßt, nicht zuletzt anhand der Biographie des Autors. Als Beitrag zu einer „Wende“-Literatur wurde der Band nicht konzipiert. Vielleicht ist er gerade deshalb auch zu einem der wenigen wesentlichen literarischen Zeugnisse der „Wende“ geworden.
Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 487, Juli 1993
Michael Braun: Die zusammengebrochene Generation
Die Weltwoche, 27.5.1993
Braun, Michael: Nichts geht mehr
Die Woche, 15.7.1993
Alexander von Bormann: Grüsse von einem anderen Stern
Neue Zürcher Zeitung, 28.5.1993
Sibylle Cramer: Hölderlin möchte ich sein
Die Zeit, 4.6.1993
Jürgen Verdofsky: Die Zeit hat keine Ohren
Stuttgarter Zeitung, 18.6. 1993
Beatrice Eichmann-Leutenegger: Deutsch-deutsches Lesebuch
Der kleine Bund, 3.7.1993
Kurt Drawert: Ohne Antwort
Freitag, 30.7.1993
Fritz Popp: Legoland ist noch nicht in Sicht
Die Presse, 14.8. 1993
Florian Bungart: Ein halber Abschied von der Nische
die tageszeitung, 17.8.1993
Christine Tresch: Einsichten vom Rande
WochenZeitung, 10.9.1993
Karl Riha: Es ist Zeit, daß es Zeit ist
Frankfurter Rundschau, 21.10. 1993
Wolfgang Ertl: „Sonnenhang“ und „Nachtspur“: Reiner Kunzes und Heinz Czechowskis poetische Positionen im Zeitgeschehen um die Wende
The Germanic Review, Heft 4, 1995
1. Tabula rasa
„Ich bin kein Gelegenheitsdichter!“, schrieb mir Heinz Czechowski empört zurück, als ich im Februar 1990 den Dichter fragte, ob er Texte über den Fall der Mauer verfasst habe. Wir kannten uns nicht persönlich. Natürlich fürchtete er sich vor einer schnellen Vermarktung dessen, was später ,Literatur der Wende‘ genannt wurde. Dabei hatte ich gar keine bösen Absichten, ich wollte bloß Material für mein Lyrik-Seminar zusammenstellen. So beharrte ich auf meiner Frage mit einem zweiten, längeren Brief. Und tatsächlich hatte Czechowski viel geschrieben, und die Texte wurden mir großzügig zugeschickt. Etwa 20 Gedichte kamen per Post, auf dünnem Papier getippt. Darunter ein Text, der mir emblematisch für die damalige Lage vieler DDR-Intellektueller zu sein scheint: „Notiz“.
Der zerrissene Tag. Das
Alte Maß. Einen Brief
An H. geschrieben. Be-
Deutungslos. Das also
Wäre die
Bessere Welt? Gestern
Hatte ich noch
Ein Gewissen. Heute
Habe ich nur noch
Den alten Adam
In mir. Kernholz. Kern-
Seife. Kern
Im Kern. Ich bin
Ein Sonntagskind,
Sagte eben mein Sohn
In der Badewanne. Ich
Lese in alten Büchern, die
Noch gestern die alte Wahrheit ver-
Kündeten. Mir
Bleiben vielleicht
Noch ein paar Jahre. Texte
In zeitlicher Folge
Habe ich nicht
Zu verteidigen. Vielleicht aber
Werde ich vorkommen,
Nachdem ich mich selber
Vergaß.
29.12.19891
Mehr als fünfzehn Jahre sind inzwischen vergangen, aber kaum ein Text gibt uns die Wendestimmung so treffend wieder. Der bescheidene, unauffällige Titel vermittelt dem Leser das Provisorische des Schreibens jener Zwischenzeit. Tagebuchartig und kurzatmig ist das Gedicht.2 Oft rutscht das Ich vor das Versende, entblößt vor der Kapitulation einer Wahrheit, in der es aufgewachsen war. Was nun hinter ihm liegt, weiß der Dichter, unbekannt ist die Zukunft. Die verbissenen Jahre sind vorbei, aber sie haben die Hälfte seines Lebens mitgenommen; nun bleibt ihm das Nachtrauern.
Nicht, dass Czechowski ein angepasster Intellektueller gewesen wäre, im Gegenteil, er selbst hat der DDR „den Tritt versetzt“, um mit den Worten von Volker Braun zu sprechen.3 Daher vernimmt man neben der Erschütterung auch eine Spur von Stolz, eine helle Note, die mit seinen „Einzelkämpfen“ als Lektor beim Mitteldeutschen Verlag in Halle verbunden ist: Sein Mund ist gesund, er war kein Dissident der letzten Stunde und braucht heute nicht, „in zeitlicher Folge“, sein Werk zu verteidigen.4 Aber im Mauerschatten ist es doch spät geworden, es wird nicht leicht, mit einem neuen Leben anzufangen. Zwischen gestern und morgen zerfällt das verbrauchte Ich zum adamitischen Kern, seine alte Existenz wird abgeheftet, eine neue gehört vielleicht der nächsten Generation an.5 Wenn auch der hypothetische Schluss auf eine Zukunft hinweist, scheint der Preis dafür die Ausradierung der eigenen Identität zu sein – oder eine permanente innere Leerstelle. Beobachten wir die Endkonstruktion. Noch treiben ,Vielleicht‘ und ,Nachdem‘ den Blick vorwärts, der vorletzte Vers spannt sich vor dem Schluss, der dann aber wie ein Urteil fällt. Denn – was heißt sich selber vergessen?
Der letzte Vers, vom Präteritum des Verbs ganz besetzt, führt zum Absurdum, zeigt, wie in der Zeit Zick-Zack gelaufen wird, als ob sich der Dichter wünschte, diese Amputation schon hinter sich zu haben. Was heißt dann ,vorkommen‘? Ein Aufbruch vielleicht, aber in ein resigniertes Niemandsland. Hatte der Dichter schon damals – im Dezember 1989 – geahnt, dass die DDR dazu bestimmt war, zur Anmerkung der deutschen Geschichte zu werden? Wir werden sehen.
2. ,Danach‘
In der Tat hat Czechowski nichts vergessen oder verdrängt, sondern alles in vollem Bewusstsein gehalten und kritisch weiter geschrieben. Verfolgen wir die Chronologie. Der Dichter hatte sich wohl öffentlich und begeistert für die Einheit eingesetzt: „Mit endlich geöffnetem Mund / Schreie auch ich: WIR / SIND EIN VOLK!“6 Aber es reimt sich doch alles nicht, wie ein Vers von Karl Krolow lautet,7 und die Bonner Politik in den neuen Ländern leitet dann auch für Czechowski einen Desillusionierungsprozess ein. Mit unverstelltem Blick vernimmt er die rapide Veränderung der östlichen Landschaft. Der Hintergrund ist bekannt. Die DDR wird „vereinnahmt“, die Wirtschaft privatisiert, und das Land der Produktionsgenossenschaften wird von der Treuhand an westliche Unternehmer verkauft. Auf dem Dach des Leipziger Hauptbahnhofs leuchtet der Mercedesstern.8 Lebenswelten werden plattgemacht.9 „Kahlschlag in Dresden, Kahlschlag / In Leipzig, Amokläufe / Gegen die Leere“ registriert der Dichter.10 Straßen- und sogar Schiffsnamen werden geändert.11 Die alten Sieger, die Russen, ziehen als Besiegte ins Nichts zurück, Jugendbanden fangen an, Friedhöfe zu beschmutzen oder in der S-Bahn Ausländer zu jagen. Am Grenzübergang Friedrichstraße versuchen scharenweise Bürger aus Ost-Europa in den Westen auszureisen.
Es entstehen Texte, die neben dem ästhetischen Wert eine historische Valenz in sich tragen, weil sie die Etappen dieser Veränderung lyrisch bezeugen. Jedes Gedicht trägt eine Chronik in sich, die auf die jüngste deutsche Geschichte verweist: z.B. „Hinter der Stadt“.
Die Flurstücke, abendwärts, Feldwege,
Von denen du sprachst,
Ziehen sich durch Raps- und Gerstenschläge
Ehemaliger LPGen, gequert
Von den Gleisen der Grubenbahn
Aufgelassenen Lehms. Staubfahnen ziehen vom Baggerloch
Über verkrautete Felder, aufgeteilt
In Parzellen künftigen Wohneigentums.
Alles im Umbruch. Verwaist
Der Schafstall am Kollm, der Schlachtberg,
Markiert mit dem Apelstein Nr. 13,
Befahren von liebesnestsuchenden
Automobilbesitzern. Die Mangelgesellschaft
Abgelöst von der Marktwirtschaft. Gewerbegebiete
Versiegeln den Boden. Sprachlos
Gewordne durchstreifen das Land
Auf der Suche nach
Verlorenen Gegenständen. Volkseigener Schrott,
Herrenlos, türmt sich
Um Dörfer, viehlos, das Soll
Ersetzt durch die Milchquote.
Auf der Suche
Nach Rast und Ruh
Findest du eine
Weggeworfene Schreibmaschine, Marke Filia,
Unbrauchbar
Der computergestützten Gesellschaft.12
1993
Das Gedicht verbalisiert die Ratlosigkeit vieler DDR-Bürger vor den ökonomischen Maßnahmen der Treuhand. Kein Adressat zeigt hier das ,du‘, im Selbstgespräch schaut sich das lyrische Ich in der Abendzeit um. Die Sprache ist genau und lakonisch in der Form einer Inventur geführt. Man erkennt die Landschaft um Leipzig, wo man früher aufgrund der vielen Lehmgruben Ziegel herstellte. Noch wird das Land durch die Lexik jener Arbeit gekennzeichnet – Gleise, Grubenbahn, Baggerloch – die mit der Privatisierung aufgegeben wurde, aber es sind nichts als Rost, Schrottberge und staubige Fetzen geblieben. Die Privativa – herrenlos, viehlos – steigern den Eindruck von Verlassenheit.
Befahren wird dieser inzwischen verwilderte, bleichende Boden nun von „Automobilbesitzern“ – das Wort hatte für den DDR-Leser eine kapitalistische Konnotation – und westdeutschen Bauunternehmen, die nach der Wende im Osten mit guten Steuervergünstigungen rechnen konnten. Mit dem zehnten Vers bricht die Geschichte in die Landschaft ein, ein Gestus, der bei Czechowski oft vorkommt. Die slawische Toponomastik lässt ein Stück deutscher Geschichte empor steigen. Um den Text zu verstehen, sollte nun der Leser mitarbeiten: Der verwaiste Schafstall „am Kollm“ weist auf eine altsorbische Kultur hin, auf die Zeit vor den Auswanderungen der Germanen nach Osten im 10. Jahrhundert, als die Sorben vertrieben wurden. Und wie bekannt, hat 1813 in Leipzig um den „Schlachtberg“ die berühmte Völkerschlacht stattgefunden, in der Preußen und Russen Napoleon besiegt haben.
Das Geheimnis von Worten, die man nicht auf den ersten Blick identifizieren kann, mag etwas Orakelhaftes haben. Aber jetzt wissen wir: Die Landschaft rund um diese Stadt ist vom Krieg gezeichnet. Sogar noch mehr. „Apelstein Nr. 13“ – was heißt das? Die Bezeichnung verweist uns auf eine Art militärische Genauigkeit: Es gab in Leipzig einen Lehrer namens Apel, der lange einer fixen Idee nachgelaufen ist. Er hatte alle Punkte, an denen Schlachten stattgefunden haben oder an denen Napoleon oder Scharnhorst mit ihren Pferdekarren mal gestanden haben, mit einem Stein gekennzeichnet und nummeriert. Dieses wohl versteckte Detail evoziert das 19. Jahrhundert und wirkt rückblickend wie ein provinzielles kleindeutsches Zinnsoldatenspiel, im Kontrast zu einer „Marktwirtschaft“, die nun die neuen europäischen Regeln – die „Milchquote“ – aus der Ferne diktiert.
Bis jetzt greift der Verfasser in den Vorgang nicht ein, bleibt hinter den nüchternen Fakten verborgen. Erst am Ende kommt das Ich wieder laut hervor, einsam im Zwiegespräch. Phonetisch fallen nun die dunklen U-Laute auf, dabei vernimmt man das Echo eines bekannten Gedichts von Goethe.13 Dann die alte (tschechische) Schreibmaschine, Metapher einer weggeworfenen Gesellschaft, die das vereinte Deutschland nun als unbrauchbar bezeichnet. Jetzt spürt der Leser die Spannung zwischen jener lyrisch produktiven Vergangenheit, die sich im zweiten Vers andeutete, und einer von Aphasie bedrohten technischen Gegenwart. Soll das bedeuten, dass die Poesie selbst unbrauchbar geworden ist? Der Schluss deutet darauf hin. Etwas bleibt aber im Ohr des Lesers zurück, es ist der Goethe-Nachklang, der eine zweite Interpretation suggeriert. Er schafft etwas wie einen Raumgewinn, eine Weitung. Wurde nicht damals „Ein Gleiches“ an eine Bretterwand geschrieben? Wenn auch die „Marke Filia“ obsolet geworden ist, wirkt nun dieser poetische Hinweis weiter und permutativ über das Entstehungsdatum hinaus. Er bezeugt ein Kontinuum, das eine lyrische Brücke über Zeit und Raum schlägt.
3. Wohin?
Es ist bekannt, dass die Wende oft auch das Familienleben zerrissen hat. Czechowskis Zuhause, an dem er gebaut hat, zerfällt.14 Das Kind, das im Gedicht „Notiz“ erscheint, wird mit seiner Mutter im Osten bleiben, Czechowski zieht dagegen in den Westen, zuerst nach Limburg, dann nach Schöppingen in Westfalen. Dort versucht er, seinen Frieden zu finden. Er nimmt Abschied von seiner Ursprungsgesellschaft und hofft im Westen wieder Wurzeln zu fassen.
Bezeichnend ist der Titel seiner ersten Sammlung: Mein westfälischer Frieden. Doch (west)deutsch sozialisiert wird er nicht, auch nicht im Taunus oder in Frankfurt, wo Czechowski jetzt lebt:
Ich aber sitz in westfälisch Sibirien
Buchstäblich zwischen den Schweinen.
Die Schmeißfliege, die mich täglich besucht,
Kommt aus dem Schlachthaus.15
Schwierig ist es, gegen die steigende Flut des Marktes, gegen dessen Appetit auf Moden anzuschwimmen.16 Sarkastisch glossiert Czechowski die kapitalistische Welt. Das Unglück des Menschen bestehe „Vor allem in der Tatsache, einer Gesellschaft anzugehören, deren höchster Wert der Wohlstand ist“.17 Plötzlich das Gefühl, keinen Satz, nichts mehr fest in den Händen zu halten. Welche Sprache wofür?, fragt sich der Dichter. „Die Leute lesen nicht mehr“ lautet der erste Vers eines unbetitelten Gedichts von 1991.18 Das alte Gleichnis führt zu nichts. Verbraucht und zerrissen steht das Ich einsam vor der neuen Freiheit in dem Gedicht „Ach, die Eisenbänder“.19
ACH, DIE EISENBÄNDER
die mich fesselten,
sind zerrissen. Ich bin so frei
wie noch nie. Jetzt
sollte ichs schleunigst
den Vögeln nachtun:
Das ziellose Herz, flatternd
im Aufwind, will
seiner Schwärze entfliehen, rot,
ein blutiger Klumpen,
lügt es sich
etwas vor: von der Freiheit
hör ich es singen,
aber es weiß nicht
wohin.
Eigentlich ist das Incipit dieses Gedichts zweideutig. Ist es nicht doch auch ein erstauntes „Ach“? Der etwas pathetische Ausruf leitet eine überstürzt rasche Befreiung ein und trägt mit sich eine Spur von Verwunderung, sodass die implizite Feierlichkeit der folgenden Freiheitserklärung gedämpft erscheint.
Dann der Vergleich mit der Natur. Der Rhythmus des Enjambements unterstützt die Bewegung nach oben, aber schon der Konjunktiv – „sollte“ – signalisiert neben einer ethischen Instanz auch eine Unsicherheit des Ichs, als ob es schwierig wäre, die alten Fesseln abzuwerfen. Hier ist kein Neugeborener, kein Ganymed, der sich voll starken Dranges in die Freiheit aufschwingt, sondern ein Subjekt, das mit sich selbst entzweit ist und seine innere Zerrissenheit betroffen registriert. Mit dem siebten Vers dreht sich die Perspektive von der ersten zur dritten Person, dabei wird der Vorgang chromatisch markiert. Das rote „ziellose Herz“ wird objektiv, fast klinisch in seinen unsicheren Fluchtbewegungen aus einer kreatürlichen „Schwärze“ beobachtet. Es entsteht aber kein Aufschwung, sondern ein erbärmliches Flattern, das durch die schleimig abwertende Wortwahl – „ein blutiger Klumpen“ – richtungslos und gefährdet wirkt. Kein Licht, auch kein Wegweiser am Horizont, der diesem Herzen die Flugorientierung gäbe. Daher der Kurzschluss, der die alte Zeit der Illusion hervorruft. Die Verseinheit „lügt es sich“ wiegt besonders schwer. Verrät hier das Verb „lügen“ seine ursprüngliche Homonymie zu dem Verb „liegen“? Liegt dem Menschen die Lüge nahe? Genau wie zur Zeit der alten ideologischen Ordnung scheint es diesem Herzen heute wieder als notwendig, sich „etwas“ vorzulügen, um weiterleben zu können. Der Doppelpunkt im zwölften Vers kündigt ein kleines Intermezzo an, nun überschneiden sich das Herz und die lyrische Stimme: „von der Freiheit / hör ich es singen“. Kontrastiv dazu spricht dann ein unbestimmtes (unpersönliches) „es“ das nescio aus – ein negativer Schluss, der das aufklärerische Verb der Ratio endgültig verneint:
aber es weiß nicht
wohin.
Die Freiheit, die anfangs vergleichsweise – „Ich bin so frei / wie noch nie“ – begrüßt wurde, bleibt am Ende ein ferner Gesang, wobei das ziellose Herz wie ein losgerissener Drachenhalbhoch in der Luft schwebt. Worum geht es in diesem Gedicht? Man kann meinen, es herrsche hier die absolute Heimatlosigkeit und der Dichter fühle sich in einem Zwischenraum, sich selbst entzogen, an die Wand der Geschichte gedrückt. Aber Gedichte sind eben etwas ganz Eigenes. Einerseits ist die Biographie gegenwärtig, und hier könnte man sogar eine Herzkrankheit Czechowskis erwähnen. Andererseits gibt es die Gegenständlichkeit der Dichtung, die Kunst, die ihre eigenen Transformationen und Bewegungen hat, die den Sinn des Textes erweitern. Damit entgleitet das Gedicht seinem Verfasser und passt sich einer anderen Lesart an. Nun, abgesehen von der Tatsache, dass die Heimatlosigkeit eine Chiffre der europäischen Lyrik ist, die nirgends zu Hause und nie angekommen zu sein scheint, ist sie wohl eine allgemeine Kondition, die besonders nach 1989 verbreitet ist. Es hat sich gezeigt, dass das Ich heute kein Bezugspunkt mehr ist. Entwurzelung und Identitätsverlust verweisen auf eine typische Existenzweise unserer Zeit. Zwischen Woher und Wohin scheint besonders die Generation der Autoren zu stehen, die Ende der zwanziger oder Anfang der dreißiger Jahre geboren sind. Die Nicht-Erfahrung ist nicht nur den ostdeutschen Dichtern eigen. Es ist ein Zug der postideologischen Zeit. Von den verschiedensten Positionen her signalisiert die Lyrik nach der Wende tendenziell einen Desillusionierungsprozess. Oder eine gespannte Erwartung ins Nichts. „Es ist ausgeträumt“ – der nicht veraltete Vers von Nicolas Born gilt als Siegel dieser inneren Abgestorbenheit.20 Der sonst ironisch aufklärerische Hans Magnus Enzensberger schreibt 1990:
Alles kommt anders, ganz anders.
Die blaue Vene tickt, ein rotes Wunder geht auf,
das wir nicht erleben.21
Das Ich als gequälter Körper des europäischen Menschen ist zugleich besetztes Gehirn, dem alte Utopien ins Gedächtnis schallen. Und das Gedicht gewahrt, was hinter dem Horizont verschwindet.
4. Auf Dantes Spuren
Im Jahre 1993 packt Czechowski seine Sachen und fährt nach Süden. Ziellos bereist er Italien. Die Reise ist Bekundung einer Sehnsucht aus der Enge der deutschen Verhältnisse nach einer idealen Landschaft der Schönheit, wie sich seit Goethe der Süden den deutschen Dichtern darstellt. Grenzüberschreitend innen und aussen versucht der Flaneur Ruhe zu finden. So einfach ist es aber nicht. Seit vier Jahren lebt und schreibt er nun im Westen, als er in Florenz ankommt. In einem fremden Land, mit einer fremden Sprache, in einer fremden Umgebung – und dann auch noch im Winter. Kein Wunder, dass der Zyklus „Inferno“ heißt.22 Der Status quo wird in freien Epigrammen benannt. Ohne die traditionelle linksbündige Lehne, mit einer Mittelachse gesetzt, betont die Graphik dieser konzisen Texte sein Dazwischensein.
NATALE,
und Regen,
die ganze
Via Senese
hinunter:
Morgens schon
war ich zu Gast
in der kleinen Bar,
um zu trinken
und zu telefonieren.
„Du
hast keine Heimat mehr“,
sagte sie kühl,
und ich
versuchte
hinter der Mauer,
die Blut schwitzte,
eine Kalaschnikow
zu erwerben.23
Der Dichter findet kein Zuhause, Stimmen der Ranküne erreichen ihn, die Erinnerung treibt zu Eifersucht und männlichen Phantasien der Gewalt.24 Die irre Halluzination des Ichs entspricht der Gewalt der Welt. In den florentinischen Gassen sieht er Blut. Die Zeit steht still und „der Tod / geht sichtbar / über die Piazza“. Eingesperrt in seine vier Wände bringt er seine Erfahrungen „zwischen zwei Zügen / nicht mehr auf den Punkt“.25
Doch richtet sich Czechowski auf in der Krise, in der er unterzugehen droht. Er schreibt sich von der Heimat weg:
Deutschland
Ist ein zu fernes Land.
Mit Wut und Wort hängt er am Leben:
Wenn mich
der Schmerz, die Wut verlassen,
Werd ich verloren sein.26
Er ritzt sein verletztes Ich in die italienische Landschaft ein. Dabei kommt es wieder zum schon erwähnten charakteristischen Zug seiner Lyrik, zum Einbrechen der Geschichte ins Gedicht. Deutlich zeigt sich sein thematisches Zentrum wieder. Der konkrete Mensch in einer Landschaft, in die die „Leidens-Geschichte ihre Spuren eingegraben hat“ (Wolfgang Emmerich).27
VENEZIA
Hingerissen sah ich im Getto
Die schöne französische Jüdin.
Abseits tranken wir Wein
Und aßen gebackenen Fisch.
Als sie, an ein Gitter gelehnt, mich betrachtete und ich
Mit der Hand ihren Hals berührte, sagte sie „scusi“.
Nur mit der Hast meines Alters versehen,
Fuhr ich zurück nach Chioggia,
Um mich von Hitze und Lärm
Betäuben zu lassen.28
Der Titel bürgt nicht mehr für ein prächtiges meerdurchströmtes, vielbewegtes Venedig, das aus den Fluten emporsteigt, wie in der deutschen Literatur von Seume bis Rilke. Die Vergangenheit dringt durch die Lexik in die Landschaft vor. Eine Lexik, die von Geschichte weiß, von der italienischen und deutschen Geschichte. Das Getto ist heute Teil des „Sestiere Cannaregio“, aber immer noch sind die alten Wächterhäuschen sichtbar, die einst das Judenviertel absperrten. Schon dieses Wort profiliert die Landschaft.29 Es wirkt wie ein Grenzstein. Über der vom Titel eingeführten Szenerie liegt plötzlich, trotz des zum erotisch neigenden Gedichtansatzes, ein Hauch von Trauer. Ein Deutscher und eine französische Jüdin stehen sich in einem geschichtsbeladenen Ort Aug in Aug gegenüber. Umsonst bringt das „wir“ der folgenden Situation ein Flair von zufälliger Gemeinsamkeit auf. Im fünften Vers ist die Frau an „ein Gitter gelehnt“, ein Bild, das auf Absperrung und Drahtgitter verweist. Nicht, dass sie nun als Opfer stilisiert wird, im Gegenteil. Hier spürt man sogar eine Reminiszenz an Rilkes Malte, als er in Venedig schreibt:
Sie stand allein vor einem strahlenden Fenster und betrachtete mich.30
Bei Czechowski dehnt sich der weibliche Blick den langen Vers entlang und angeblich nicht abweisend, da das Ich vorsichtig, wohlbemerkt aus der Verskippe, eine leichte Berührung wagt. Aber das gleitende Ausweichen der französischen Frau schließt alle Erwartungen aus. Es ist das Ende dieser flüchtigen Begegnung und zwar nicht nur als Ergebnis ihrer Verneinung, die auf italienisch ausgesprochen wird, sondern auch, weil sich die jüdische Frau paradoxerweise entschuldigt: „scusi“, ein fataler Zweiklang, der eine mögliche Kommunikation, sie antizipatorisch umkippend, untersagt. Die Frau ist unberührbar, indem sie – die Jüdin – sich entschuldigt. Nun bleibt dem Ich, das sich bei Czechowski oft als schroff gibt, nichts anderes mehr übrig, als in der Betriebsamkeit eines italienischen Sommers alleine unterzugehen.
5. Deutsche Schatten
Gewiss ist das Sterben der Juden ein zentrales Thema in der deutschen Lyrik der Nachkriegszeit. Wie bekannt, sind es zuerst die deutschsprachig-jüdischen Dichter, die diese Tragödie bearbeitet haben; man denke an Nelly Sachs, Paul Celan und Rose Ausländer. Später haben sich weitere Autoren wie Johannes Bobrowski, Ingeborg Bachmann und Günter Kunert mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt. Wenn man diese Problematik vor der Wiedervereinigung untersucht, ist es aber sinnvoll, zwischen Ost und West zu unterscheiden. In Westdeutschland wurde erst Ende der sechziger Jahre im Rahmen der Studentenbewegung und des neuerwachten Interesses für die Psychoanalyse die Frage nach der Verantwortung der Väter in den Nazijahren gestellt. Dadurch ist eine eindrucksvolle Produktion an autobiographischen Werken zu verzeichnen, die um das Thema der Wiedergewinnung des deutschen Gedächtnisses kreisten. Immer wieder konfrontierte sich die sogenannte „unschuldige Generation“ mit der schmerzenden Frage:
Welchen Namen werden wir
schwer zu tragen haben ins
andere Leben Nagelblut und Blei
(Hans Georg Bulla, „Frage“).31
Anders in der DDR, wo eine bedeutsame Ungleichzeitigkeit zu erwähnen ist. In Bezug auf die Literatur der Nachkriegsjahre ist oft bemerkt worden, dass das Schuldgefühl der Deutschen sich mit größerem Nachdruck bei in der DDR aufgewachsenen Menschen bemerkbar machte, wo die Entnazifizierung energisch durchgeführt worden ist. Dagegen ist in den siebziger Jahren der Nazismus praktisch kein Thema mehr für die ostdeutschen Autoren, die nun in die Konfrontation mit dem Stalinismus verwickelt sind und darunter leiden. Im Osten taucht das Gespenst der Vergangenheit allenfalls 1989 mit dem Bild der vereinten Nation wieder auf, wie bei Czechowski in ,Historische Reminiszenz‘ zu lesen ist. Ein Gedicht, das kurz nach der Wende in Dresden entstanden ist:
Wenn ich die Augen schließe,
Hör ich die Rufe der Masse
Wie Brandung. Auf diesem Platz,
Der einmal einer der schönsten
Europas gewesen,
Gedenk ich der Toten,
Die auf dem Pflaster verbrannten.32
Nach der Wende hat sich das Thema der Vergangenheit ausgeweitet. Stärker werden politische und biographische Bezugnahmen ineinander verknotet. Besonders die Kindheit mit ihren ersten Regungen wird oft evoziert. Dabei rücken alte Schatten heran.
Im Interview hat Czechowski den autobiographischen Hintergrund des folgenden Gedichts direkt erwähnt. Aber der Text geht darüber hinaus. Bemerkenswert scheint mir die Tatsache, dass hier das Subjektive – die Erfahrung des Kindes – objektiv wirkt, weil wir wissen, dass das, was vorgeführt wird, eine allgemeine Erfahrung gewesen ist.
DIE BITTERKEIT AUF MEINER ZUNGE
Rührt nicht von der Orange, die ich soeben verzehrte.
Es ist eine Bitterkeit, die nicht vergeht. Für sie
Habe ich keinen Begriff. Ich glaube,
Ich hab sie als Kind während des Krieges
Mit einer Handvoll Schnee,
Die meinen Durst stillen sollte,
Zu mir genommen. Es gab
Keine Märchen, aber es war damals immer
Ein großes Geflüster um mich: die Erwachsenen
Erzählten sich hinter vorgehaltenen Händen
Vom Kriege, vom damals gewesenen Kriege,
Von Grünen Minnas und von Soldaten,
Die beinlos aus Stalingrad wiederkehrten.
Ich sah auch den Hitlergruß
Des Blockwarts und hörte,
Während ich mir das Haar schneiden ließ,
Von dem an die Wand spritzenden Blut
Galizischer Juden. Der schier endlose Zug
Der Russinnen abends den Wilden-Mann-Berg empor,
Wenn sie vom Goehle-Werk
Sich in ihr Lager zurückschleppten,
Und schließlich die Panjewagen,
Beladen mit den Toten des Bombenangriffs,
Das alles muß in dieser Handvoll
Schnee gewesen sein, die ich mir
In den Mund steckte, um meinen Durst
Zu stillen, diesen kindlichen Durst,
Der mich nie verließ, und von dem
Diese Bitterkeit auf der Zunge zurückblieb.33
Auch dieses Gedicht besteht aus freirhythmischen Versen ohne Reim und festes Metrum. Auffallend bei diesem Gedicht ist das Fehlen des gesonderten Titels. Thematisch symmetrisch konstituieren der erste und letzte Vers eine Zange, die den Text umfängt. Von der Bitterkeit auf der Zunge geht das Gedicht aus, und damit schließt es auch. Es ist nicht die einzige Symmetrie. Sowohl der Schnee als auch der Durst werden aneinandergereiht – (Vers 6–7; 26–7) – sodass die Sequenz die Vorstellung eines Kreises hervorruft.
In diesem Text geht es um eine Konfrontation mit frühen Kindheitsbildern, die das schreibende Ich endgültig geprägt haben. Die selbe Thematik kommt in jener poetologischen Prosa vor, die dem Band von 1993 den Titel gibt: Nachtspur. Hier geht es um das Problem des Anfangs beim Schreiben: „Anfänge sind eine heikle Sache“, bemerkt Czechowski, und das sei kein technisches Problem, sondern eher „ein existenzielles“.34 Da die Dinge nicht „ortlos“ sind, muss der Autor „den Ort, an dem alles begann, wiederfinden, wiederfinden“. Hier spricht die sich steigernde Epanalepse das Bedürfnis aus, die Vergangenheit in eine räumliche Dimension einzubetten, sie sinnlich genau zu rekonstruieren, um sie begreifen zu können. Etwas weiter lesen wir:
Mit den Kasernen hat ja ohnehin fast alles begonnen. Wie schmeckte denn die Erbsensuppe am Tag der Wehrmacht in der SS-Kaserne am Wilden Mann? Und wie roch es im Lazarett in Radebeul, in dem mein Bruder, der Flakhelfer, lag? Und wie in den Baracken der Flakstellung Wölfnitz, in die ich ihm Obst und Kuchen brachte? […] Man sah, was man sah. Und hörte, was man hörte. Auch als Kind. Die KZ-Häftlinge, die eine Mauer um die SS-Kaserne bauten und uns, den Kindern, die wir an ihnen vorbei in den Wald zogen, etwas zuriefen, das wir nicht verstanden. Aber daß wir überhaupt so wenig verstanden haben in jenen Jahren?35
Auf diese letzte Frage versucht Czechowski später lyrisch zu antworten. Das Potential des offenen, diaristischen Dichtens wird weiter entfaltet. „Die Bitterkeit auf meiner Zunge“ zeigt, wie Schreiben identisch mit dem Versuch ist, zum Ursprung der eigenen Existenz zu kommen, indem man unter dem Staub des Vergessens die „Nachtspur“ verfolgt.
In ihrer kruden Körperlichkeit signalisiert die Bitterkeit auf der Zunge eine innere Störung, deren Ursache zu suchen ist. Das Ich schmeckt in sich hinein. Der dreifachen Negation – nicht, nicht, keinen – Vers 2–4 – folgt eine Vermutung, dem das Ich ,proustisch‘ nachgeht. Mit dem Präteritum im achten Vers steigen wir tief hinab in die dunkle Grube der Geschichte. Das Gedicht nimmt nun einen erzählerischen Charakter an, Fakten werden aus einem kindlichen Blickwinkel genau und reich an Bildlichkeit evoziert. Nüchtern wird der damalige Alltag dargestellt: Die biedere Gestik des Flüsterns und der Hitlergruß, die Verfolgung der Juden und die Ausbeutung der russischen Gefangenen. Es fällt auf, wie sich das Leiden der Deutschen – die amputierten Soldaten und die Toten des Bombenangriffs – mit der Gewalt der Täter undifferenziert vermischt. Der Dichter scheint hier – die unschuldig kindliche Perspektive ausnützend – Ursache und Folge nicht unterscheiden zu wollen. Aber im 23. Vers ist eine Art historischer Nemesis wahrzunehmen. Waren die „Grünen Minnas“ deutsche Polizeiwagen, die trotz ihres anmutigen Namens zum Gefangenentransport dienten, so sind es die „Panjewagen“, d.h. die von der Wehrmacht in Russland requirierten Pferdewagen, die nun tote Deutsche zu den Massengräbern transportieren.
Und dann der Durst. Ein Wort, das etymologisch mit Dürre verwandt ist. Das heißt mit der Angst, dass Sprache und Seele geistig vertrocknen können. Dass die Zunge gebunden bleibt. Zweimal verbunden mit dem Schnee, zeigt die Metapher des nie zu stillenden Durstes das brennende, fortwährende Bedürfnis nach Klarheit.36 Die wiederholte, spontane Geste des Kindes, die Hand und Mund mit der natürlichen Reinheit des Schnees verbindet, könnte zwar für Unschuld sprechen, aber Czechowskis Alter Ego weiß, dass das Individuum der Last der Geschichte nicht entweichen darf, dass selbst die Sprache von jener „Nachtspur“ nicht ungetastet bleiben kann. Daher kommt das Gedicht nicht bei einem Ruhepunkt an, sondern führt kreisförmig auf den ersten Störfaktor zurück. Man beachte die Verbzeiten der letzten Verse: die Bitterkeit bleibt am Ende eine erinnerte Präsenz, die raunend das Ich in der Vergangenheit festhält.
Es gibt viel Trauer in diesen Versen von Czechowski, und das gerade in einer Zeit, wo der Markt von der Literatur immer mehr Vergessen und Spaß verlangt. Bei ihm quillt dagegen die deutsche Geschichte immer wieder hervor. Dies ist aber auch ein Weg zur inneren Wiedervereinigung. Über die Vergangenheit schreibend, tritt der Dichter sich selbst gegenüber als gesellschaftliches Wesen, ja – als Deutscher: Er schreibt Gedichte, die durch ihre Zerrissenheit hindurch von der gesamten Nation sprechen.
Anna Chiarloni, in Karen Leeder (Hrsg.): Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog, Editions Rodopi, 2007
– Zu Heinz Czechowskis neuen Texten. –
Teil 1. Eine Auseinandersetzung als Abhebung
An neuen literaturwissenschaftlichen Einschätzungen Czechowskis sind für mich von besonderem Interesse die Aussagen von Ursula Heukenkamp und Wolfgang Emmerich, haben beide doch sein Schreiben über einen größeren Zeitraum beobachtet und kritisch begleitet: Ursula Heukenkamp zuletzt mit einem längeren Artikel, der zusammen mit dem von ihr geführten Czechowski-Gespräch 1988 in den Weimarer Beiträgen erschien,37 gedanklich fortgeführt 1991 mit Überlegungen zu utopischem Denken bei DDR-Autoren;38 Wolfgang Emmerich mit der Fortschreibung seines Czechowski-Beitrags im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.39
In Ursula Heukenkamps Artikel „Unsere Sprache ist vielleicht nicht die eigentliche. Der Lyriker Heinz Czechowski“, (künftig zitiert mit Seitenzahl in Klammern) von 1988 steht dessen Band Kein näheres Zeichen im Zentrum.40 Sie setzt ihn in Beziehung zu früheren Gedichtbänden, wozu für sie auch Ich und die Folgen zählt, bei ihr bibliographisch angegeben (und so auch zitiert) mit Jahreszahl 1984, obwohl beide genannte zeitlich parallel 1987 erschienen sind.41 Die Verarbeitung des letztgenannten Bandes ist sowieso merkwürdig: ein nur dort erschienenes Gedicht, „Zákupy“, ist der von Heukenkamp am ausführlichsten behandelte Text; das sogar an zwei Stellen (830 und 832) mit einigen Zeilen zitierte Gedicht „Es ist Zeit“ ist im angeführten Band nicht enthalten, was auch für „Besuch“ gilt, das aber zumindest in KnZ (167) steht, während der andere Text nicht aufzufinden ist.
Ihre bisherige Sicht auf Czechowski weiterführend,42 spricht Heukenkamp in bezug auf Kein näheres Zeichen davon, daß seine Sprache sich „treu im elegischen Duktus [bleibe]“ (829): „Trauer gab es immer; jetzt wird sie die vorherrschende Empfindung“ (830). Oft seien sogar „Binsenwahrheiten der Anlaß, von ihr zu sprechen, etwa, wenn die Hoffnung verklagt wird, daß sie sich an den Strohhalm klammere, der ihr bleibt“ (830). Sie zitiert dafür aus „Zwei Gedichte, Januar 1981“ die Zeilen:
Dies
Ist die Hoffnung, ich seh sie
In grauen Kleidern, verbündet
Selbst mit dem Floß der Medusa,
So lange es trägt43
Es handelt sich dabei um die aus dem ersten Teil dieses Doppelgedichts herausgegriffenen Schlußzeilen. Der mit „Hoffnung, Gekrönte, in welches / Haus kehrst du ein, Geschmähte?“ beginnende Teil ,1‘ verweist darauf, daß „Viele“ nach ihr riefen, „seitdem die Welt…“ [zu ergänzen: besteht], berichtet aber auch:
Ich,
Im ersten Drittel dieses Jahrhunderts geboren,
Hab überlebt. Mehr
Ist kaum zu sagen. Oder ich warte,
Mit all meiner Schwäche,
Daß ich verschont bleiben möge von dem,
– Was ich täglich lese,
woran Heukenkamps Zitat, noch auf derselben Zeile, anschließt.44 „Hoffnung“ steht meines Erachtens hier in einem deutlich markierten Kontext: den täglichen Nachrichten. In dem bei ihr fortgelassenen Teil ,2‘ ist nun Rede davon, daß das Ich „Widerspruch [brauche]“ und deshalb behaupte:
Nichts geht mehr
Keiner höre und widerspreche seinen unentwegten Versuchen. Es schließt mit der Wiedergabe eines dieser Versuche:
Auf der Herrenstraße zu Halle,
Wo es Ersatzteile geben soll, aber nicht gibt,
Treffe ich Möhwald, der schwimmen gehn will.
Januar. Alles grau. Voller Betrübnis
Sag ich zu ihm: Das
Ist der Zustand. Man
Widerspricht nicht, das
Macht mich endgültig traurig. (KnZ, 60)
Diese Ironisierung von Traurigkeit, zumal in der Kopplung an die doch herausfordernde Behauptung „Nichts geht mehr“, diese ihrerseits in Verbindung gebracht mit erhofften, doch nicht vorhandenen Ersatzteilen, wird von Heukenkamp unberücksichtigt gelassen.
Sie fährt fort mit dem Hinweis, daß jetzt das „Arsenal des Elegischen, Rückblenden, Selbstzitate und Erinnerungen“ ausgebreitet und abgewandelt werden, daß „Vergeblichkeitsklage und das Damoklesschwert“ geradezu stehende Topoi seien:45 „Sache dieser Gedichte ist nicht die Analyse, und ihre Sprache verfährt nicht selektierend und folgernd“. Die eigentliche Mitteilung stehe nicht in den Sentenzen und direkten Urteilen: „Sie liegt vielmehr in der Durchlässigkeit des Textganzen für die Phänomene des Alltagsbewußtseins“, von dem sich die Gedichte nicht abgrenzten. Zwischen Empirie und Poesie würde auch nicht der „Riegel des theoretischen Bewußtseins“ vorgeschoben (830).46 Dafür, daß manchmal „die Struktur von Alltagserfahrung“ abgebildet wird von der „Syntagmatik eines Gedichts“ (830), führt Heukenkamp „Zákupy“ als Beispiel an.47 Es beginne mit dem Satz:
Ich fall immer tiefer ins Leben hinein – …
Das werde „im weiteren als irgendein Bildungsgut undeutlichen Ursprungs bezeichnet“ (830):
Dieser Satz, der, ich weiß es, nach Rilke klingt,
Fiel mir ein in Zákupy […]
Dem folge ein Abriß „der mit Zákupy verbundenen Geschichte der Donaumonarchie und eine Schilderung der Stimmung, die der Anblick des nun vergessenen Ortes auslöst.“ Dann mische sich der Anfangssatz ein und das Autor-Grübeln:
Vielleicht… von Franz von Assisi?
Unvermittelt sei „der Betrachter auf seine Bewußtseinsinhalte fixiert“, finde sich „vor der äußeren Anschauung wie vor der inneren Sensation untätig, kontemplativ“, worauf die anschließende Reflexion Bezug nehme (830f.):
Unser Dasein
Löst keine Aktionen mehr aus: Orte,
Wie dieser, taugen bestenfalls noch
Als Bastionen unserer Erinnerungen, denn hier
War ich schon einmal, als Kind
Meinen Vater besuchend. Aber wo
Ist die Forsthochschule, in der er wohnte?
Nach Heukenkamp entsteht ein sinnvoller Zusammenhang, wenn die unterschiedlichen Sprachhandlungen auf ein Subjekt bezogen werden, „das sich der zufälligen Vermischung innerer und äußerer Bezüge überlassen will oder muß“. Die Reflexion darüber lange dabei an, „daß alle Wahrnehmungen nur Gleichnisse lieferten, aus denen die Verlorenheit des Subjekts gegenüber den Ereignissen hervorgeht“ (831):
Wichtig in diesem Einerlei von Geschichte
Erscheint letzten Endes nur noch der Satz
Einer alten Frau auf dem Friedhof: Denkens,
Ein Kilo Salami
Kost jetzt neinzig Kronen! – Wer aber
Braucht schon ein Kilo Salami?…
Ich sehe das nicht als „Abschweifungen, Assoziationen“, vermag auch in solchen, angeblich „zahlreich[en]“ [ohne Nennungen, G. L.], „ausgiebig bei banaler Rede verweilenden Texte[n]“ keinen „inzwischen […] eigenen Kompositionstyp“ zu erkennen. Überhaupt nicht teilen kann ich ihre Meinung, daß deren „Botschaft […] die geringe Größe des gewöhnlichen Menschen, die Beschränktheit seines Handlungsvermögens [ist]“, zumal nicht mit ihrer Folgerung: „Immanent korrigieren sie das übliche Bild vom neuen Menschen’“ (831, Hervorhebung im Original). Hier wird ein in keiner Weise ausmachbares Botschaft-Mensch-Konstrukt unterstellt (sozialistischer, ggf. expressionistischer Provenienz).
Der nach Rilke klingende Eingangssatz – so lese ich den Text – fiel dem Sprechenden ein „in Zákupy, ehemals Reichstadt“, als er auf der Brücke zum Franziskanerkloster stand (wodurch der Gedanke, dieser Satz könne vielleicht von Franz von Assisi stammen, nicht mehr so abwegig zu sein braucht). Erwähnt wird dann, daß Hitler im Jahr 1941 den „Sarkophag / Des Herzogs von Reichstadt, einem Sohn Napoleons“, „Großmütig der besiegten Republik Frankreich geschenkt“ habe und daß das Schloß der letzte Wohnsitz gewesen sei „des Thronfolgers Franz Ferdinand, / Den man in Sarajewo erschoß“, ehe an eine Kindheitserinnerung an diesen Ort angeknüpft wird.48 Die Fragen: „Aber wo“ ist die Forsthochschule geblieben, in der der Vater gewohnt hat; „Und wer / War Franz Joseph Lichtenberger […]“, Gründer des örtlichen Veteranenvereins, scheinen zu bekräftigen, daß „in diesem Einerlei von Geschichte“ wirklich nur noch der Satz der alten Frau „wichtig“ ist. Die die Alltagsrealität des jetzigen Salami-Preises keineswegs ignorierende, nur ironisierende Frage („Wer aber / […]?“) leitet im Gedicht unmittelbar über in die (bei Heukenkamp fortgelassene) Erwähnung eines Ladens „im Ghetto von Prag, / In dem keine Juden mehr wohnen“, sowie „eine[ r] Bronzebüste Franz Kafkas“ (der besagte Eingangssatz könnte, wie es heißt, auch von ihm stammen) und fährt dann fort:
Im übrigen aber
Sind Lidice und Oradour
Uns so nah und so fern,
Daß keiner der jungen Leute,
Die wir befragten,
Sich an den Namen des Mannes erinnern konnte,
Der Heydrich erschoß. Und wer
War übrigens Heydrich?
(IuF, S. 27. Hervorhebung G. L.)
Mit Lidice und Oradour werden Orte genannt, die auf eine andere Weise geschichtliches Gewicht haben als Zákupy/Reichstadt. Lidice ist der Ort in Böhmen, der am 10. Juni 1942 von der SS als Repressalie für das am 27. Mai 1942 in Prag auf Heydrich verübte Attentat zerstört wurde, weil Einwohner die Attentäter unterstützt haben sollen: alle männlichen Einwohner über 16 Jahre wurden erschossen, die Frauen in KZs verbracht, die Kinder auf deutsche Familien verteilt.49 Das südfranzösische Oradour wurde als Repressalie gegen Partisanentätigkeit von deutschen Truppen am 10. Juni 1944 eingeäschert, wobei der größte Teil der Bevölkerung umkam.50 Diese beiden Namen stehen für mehr als nur für sich als Ort. Daß die befragten jungen Leute nicht mehr den Namen des Attentäters wissen, kann befremden. Die Brisanz steckt meines Erachtens in der Frage nach dem Erschossenen (die hier wie nebenbei gestellt erscheint, nämlich in der gleichen Form wie die nach einem Franz Joseph Lichtenberger und ähnlich einfach wie die anläßlich der Aussage der alten Frau). Reinhold Heydrich, seit 1936 Chef der Sicherheitspolizei und seit September 1941 Stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, war mit Hitler und Himmler Hauptverantwortlicher für die NS-Massenvernichtungsaktionen und für die berüchtigte Einsatzgruppen-Tätigkeit.51 Ist die Erinnerung an den/die Attentäter-Namen52 auch nicht unwichtig, die an Heydrich bringt die nationalsozialistische Gewaltpolitik ins Bewußtsein – und das ist ein Stück Zeitgeschichte, uns heute noch ganz direkt angehend. Würde das verdrängt oder abgedeckt von einem, um Heukenkamps Formulierung aufzunehmen, Alltagsbewußtsein mit seinem vorgegebenen Realitätssinn (gerichtet auf Probleme des täglichen Lebens), wäre das gerade nicht ein Fallen „immer tiefer ins Leben hinein“ (Anfangszeile des Gedichts), sondern eines aus diesem heraus.53
Ich sehe „Zákupy“ als einen mehrschichtigen Text: ein Reise- bzw. Stadtporträt-Gedicht, bei dem die Ortsbesichtigungen mit Hilfe verschiedener Erinnerungen unterschiedliche Geschichts-Verhältnisse evozieren; ein Gedicht, bei dem an auffälliger Stelle die Sprachform gegen das mit ihr Aufgerufene steht, was bereits textintern eine Problematisierung des Thematisierten erzeugt. Ist die „Alltagsbewußtseins“-Kennzeichnung in bezug auf die alte Frau ironisierend, bei aller Ähnlichkeit der Abschlußfrage nach Heydrich ist sie hier von ganz anderem Gewicht, denn damit wird Zeitgeschichte angesprochen. Das kann eine Verbindung von ,kleiner‘ mit ,großer‘ Geschichte sein, eher aber eine Rezeptionsvorgabe an den Leser, jedoch eine ohne ein festes ideologisches Konzept.
Zuzustimmen wäre Heukenkamp, daß mit der Rede der alten Frau „eine verbreitete, das Verhalten beeinflussende Denkfigur abgebildet“ (831) wird. Doch kritisch wird es bei der Fortführung ihres Gedankengangs: Im Abbild werde erkennbar, „daß jedermann ihr zuneigt, aber auch, wie diese Einsicht das poetische Subjekt entmutigt“; Czechowskis Gedichte gingen mit dem Alltagsbewußtsein „selbstkritisch um, zeittypische Züge desselben ausfällend, Selbsterkenntnis sammelnd“; das Ich seiner Gedichte zerfalle nicht selten „in zwei Parteien, den Beobachter und den Akteur“, woraus „Selbstironie [entsteht], die freudlos ist“. In dieser Teilung werde das Ich zum Thema. „Dieses Ich jenseits des theoretischen Bewußtseins wirkt schlechthin unveränderlich“ (831). Dazu wird aus „In unerklärlicher Absicht“ angeführt:
Seitdem
Ist Hoffnung auf Hoffnung
gekommen, gegangen…
Sprachlos geworden reden wir um uns herum (832).54
Bei dem Zitat handelt es sich um die drei Anfangszeilen des dritten und (nach den Auslassungspunkten) die beiden Anfangszeilen des 5. Blocks (Strophe). Die von Heukenkamp vorgenommene Reduzierung ist noch einschneidender als die bei „Zákupy“, denn was bei ihr als einfache Aussage eines Ich-Zustandes erscheint, sind herausgelöste Zeilen innerhalb eines ideologie-kritischen, eines gesellschaftspolitischen Textes. Nach dem „heroische[n] Traum“, daß „der Eiserne“, d.h. Stalin, „väterlich unser Schicksal“ lenkte und der Zerstörung dieses Traums mit dem Herabstoßen von „seinem Sockel“, „Ist Hoffnung auf Hoffnung / Gekommen, gegangen“, ist auch „der lange Zug der Verbannten / Zurückgekehrt […] / In unser Bewußtsein“ (3. Block/Strophe).55 Noch immer „Gefesselt“ von der marxistisch-leninistischen Erklärung der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und mit dem ,Internationale‘-Refrain vom „Letzte[n] Gefecht“ im Ohr,56 reden wir, „Sprachlos geworden“, „um uns herum“. Das im Gedicht aufgebaute Ideologie-Verhalten wird in der Schlußformulierung durch deren Doppeldeutigikeit ironisch nochmals in Frage gestellt: Situation „Bewegt“ hinsichtlich der zerbrochenen Hoffnungen.57 Heukenkamps Herausnehmen von Zeilen zerstört die innewohnenden Spannungen des Text-Komplexes und bringt ihn damit um seine politische Dimension.
Solch Verkennen oder Ausblenden der zeitgeschichtlich-politischen Dimension findet bei Heukenkamp durchgängig statt. Das stellt sich sogar ein beim Gedicht „In aller Stille“, das sie als Beispiel dafür anführt, daß Czechowski eine der Wurzeln für die „Unempfindlichkeit“ suche „im lässigen Umgang mit der Geschichte des deutschen Faschismus. ,Nein, Deutsche, / Ihr habt nicht gelernt, / Das Unsagbare sagbar zu machen: / Euer Auschwitz, / Euer Theresienstadt, / Eure Himmlers und Heydrichs / Und eure Jugend…‘“ (837).58 Heukenkamp zitiert die um die Schlußzeile gekürzte dritte Strophe des vierstrophigen Gedichts und übergeht damit schon einmal die doch nicht gerade unpolitische Ausgangssituation (Beginn-Zeilen):
Sonnabend abend: das Land
Schweigt, schweigt noch immer.
Auch der Papst
Fährt nicht nach Beirut,
Sondern schickt Mutter Theresa.
Man selbst sieht vielmehr im Fernsehen die „Revue ,So ist das Leben‘“ [sic!], wonach „ein bärtiger Kommentator / Das Credo des Abends / Für alle / Ackerbauern und Bürger“ verkündet (damit einen unverkennbarer DDR-Bezug herstellend). Hiernach folgt das von Heukenkamp Zitierte, zu ergänzen mit der Zeile „Die sich selbst auf den Arm nimmt –“, gefolgt von der ebenfalls mit einem „Nein“ anhebenden Schlußstrophe. Diese nimmt den Gedanken des Nichts-gelernt-Habens wörtlich auf und knüpft mit „Ein einziger Kommentar“ ironisch an den „Kommentator“ aus der zweiten Strophe an, dessen „Credo“ alles andere gewesen sein muß als ein ,Glaubensbekenntnis‘ zur politischen Lage, hieß es doch bloß:
Müde
Wälzt sich die Nacht
Auf die andere Seite (KnZ, S. 138):
Nein, es geht weiter,
Sancta Simplicitas, alles
Ein einziger Kommentar
Zu dem Kontinuum,
Aus dem
Nichts gelernt worden ist
In aller Stille.
Die Schlußzeile hat als „Stille“ Bezug zu dem am Anfang zweimal angeführten ,Schweigen‘, sie wirkt aber zugleich durch ihre Eigenbedeutung („In aller Stille“: „ohne alles Aufheben, ohne Aufsehen zu erregen, unbemerkt, heimlich“)59 und durch die formelhafte Verwendung gerade in Zusammenhang mit der mit Namen aufgerufenen Zeitgeschichte (Auschwitz, Theresienstadt; Himmler, Heydrich).
Meines Erachtens hängen diese auffälligen Text-Reduzierungen zusammen. Sie ergeben sich aus Heukenkamps Sichtweise auf das Werk von Czechowski. In einer längeren allgemein gehaltenen Passage heißt es über die von ihr gesehene „Summe von Kein näheres Zeichen“ (833), daß hier „Eine ,Welt‘ […] in Frage gestellt“ wird,
nicht um zu provozieren, sondern um Signale zu geben, die negativ tönen mögen, aber Notwendigkeiten gesellschaftlichen Umdenkens auch jenseits von Sicherheitstheorien anzeigen. Es springt ins Auge, wie fremd Alltagsbewußtsein und erworbene Weltanschauung einander an manchen Punkten geworden sind, kaum daß sie sich berühren. (833)
Und weiter:
Wenn die Abwesenheit von Wahrheit konstatiert wird und die Leere des Sinndefizits, dann bedeutet das nicht, daß nun nach neuen Gewißheiten gerufen würde. […] Auf ihre Art stellen die Gedichte die Frage nach dem Kantschen Sittengesetz in unserer Brust. Sie führen den Konflikt zwischen Formen und Normen praktischen Verhaltens und den Mustern zu ihrer ideellen Verarbeitung herbei und sind im Begriff, damit ein Nebeneinander zu denunzieren, das gefährlich geworden ist angesichts einer Welt, die häufig den humanen Hoffnungen überhaupt Hohn zu sprechen schien.
Wehrlosigkeit und Unverbindlichkeit der Gebote dieses Humanismus sind daran nicht unschuldig. (833)
Verwickelt seien die Gedichte in den Widerspruch, daß hinter vielen Redensarten „in Wahrheit eine Sprachlosigkeit steht“, „,Sprachlosigkeit‘ als eine moderne Form des Schicksals“ (833). Von „Widerstandskraft, die der Alltag nährt“, wüßten die Gedichte nicht mehr viel. Vielleicht verschlucke er in der Tat „die Ideale, Mythen und Utopien, so daß alle Tode gleich schrecklich und alle Lieben gleich vergänglich sind“: „Dann antwortet die Melancholie des Lyrikers […]“ (834).60
Das alles ergibt eine beachtliche Reihe erschreckender Defizite in der gegenwärtigen Lebenssituation. Doch das in und mit den Gedichten zur Sprache Gebrachte scheint sich für Heukenkamp abzuspielen in einem politik-enthobenen (Frei)Raum, losgelöst von der Gesellschaft DDR, wie es die zitierten Gedichte in der von ihr reduzierten Form ja auch ausweisen. Das Czechowski-Erleben, seine Erfahrungswelt wird beschrieben, als lebe er ohne Austausch mit der Gesellschaft, hätten seine Aussagen keinen Bezug zu ihr, als brächten nicht seine Probleme in und mit ihr in jeweiligen Zeitkonstellationen etwas durchaus ,Reales‘ und damit grundsätzlich ,Politisches‘ zum Vorschein (eben in Form von Lyrik und ihren besonderen Aussage-Möglichkeiten).
Durch die von Heukenkamp benutzten Begriffe und Umschreibungen für das von Czechowski Signalisierte wird er weggedrückt, wird er abgeschoben in eine vormarxistische Position: die gewählten Termini und Vorstellungen sind weitgehend solche des deutschen Idealismus.
Daß sie so vorgeht, ist für mich eine Folge ihrer Sichtweise, deren Kern am Schluß ihres Beitrags formuliert wird. Da Czechowski den Untergang Dresdens miterlebt habe, „Wie soll er sich da frei machen von der Vision eines anderen Untergangs?“ (840). Das, was „den Elegiker aus ihm werden ließ“, kehre nun in seine Bilder zurück; die Gedichte teilten mit, „wie schwer es ist, sich solcher Bilder zu erwehren“ (840):61Nichts von dem, woran sie erinnern und womit sie die Gleichgültigkeit zu erschüttern suchen, ist ganz unbekannt.62Information und Aufklärung fehlen nicht. Wieviel Aussicht bleibt da für Gedichte und ihre offenbaren Geheimnisse? Czechowski hält Gericht über die eigenen und die gemeinsamen Hoffnungen der Vergangenheit. […] Neue Griffe nach der Zukunft wären wohl auch nicht angemessen, ehe nicht alle nötigen Fragen an die Vergangenheit gestellt sind, die die jetzt Lebenden zu verantworten haben. (840, Hervorhebung im Original).63
Auf diesem Hintergrund kann sie von „romantische[n] Vorstellungen“ sprechen (836), die im Raum ständen. Czechowski schaffe sich so, „Durch den Rückzug auf poetische Welten“, selber Beweise, „daß subjektive Intentionen über den Verfügungsraum des Subjekts hinaus gelten“. Er verarbeite „Namen und Verse von Klopstock und Hölderlin, von Bobrowski und Rilke“, schreibe Portät- und Widmungsgedichte, „die Künstlerschicksale darstellen“ („Existentielle Nöte der Künstler wiederholen sich regelmäßig“): „Die Tradition vermag auf diese Weise noch etwas von der bergenden Gemeinschaft zu bieten, deren Fehlen in der Gegenwart die Gedichte häufig beklagen“ (836). Für mich handelt es sich hier um ganz anderes, nämlich um die Aktivierung eines kulturellen Erfahrungsfundus für lyrische Gegenwarts-Aussagen durch Parallelisierung resp. Kontrastierung.64
Das Ergebnis dieser Sicht ist eine Reduzierung des Autors/des Gedichtbandes auf sog. „existentielle Nöte“, die hier aber gesehen werden als (bloße) Bewußtseins-Probleme, die im Inneren der Ich-Figur bzw. in deren Schreibprozessen reflektiert werden. Czechowski wird zu einem Fall, der die Selbst-Probleme abarbeitet in einer eigenen Gedicht-Welt, weitgehend ohne Kontakte mit den realen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen, müßte das doch andernfalls auch als eine politisch-zeitgeschichtliche Aussage begriffen werden. Als Eigen-Welt zeigt sie, in Heukenkamps Verständnis, Probleme des Alltagsbewußtseins an, mit denen praktisch jeder mehr oder weniger umzugehen hat. Deshalb konnte so etwas als eine Erscheinungsform von Literatur in der DDR akzeptiert werden (mit seiner Wirkungslosigkeit hatte der Autor selbst fertig zu werden). Heukenkamps Begriffs- bzw. Vorstellungssystem markiert das ganze als etwas, das einer früheren, vor-marxistischen Geistesepoche (Künstler-Gemeinschaft in ,romantischer Tradition‘) zugehört. Konsequenterweise hebt sie Porträt- und Widmungsgedichte hervor und solche, die die Leben-Tod-Problematik behandeln, ggf. unter Zurechtstutzen weiterreichender – zeitgeschichtlich-politischer – Bezüge. Sprachlich-Gestalterisches, wie z.B. Ironie, bleibt dabei unberücksichtigt.65
Daß es sich hierbei keinesfalls um ein ,verdecktes‘ germanistisches Schreiben handelt, nicht um eine ,Schutz‘-Darstellung für einen andernfalls gefährdeten Autor, sondern um eine sehr bestimmte Sichtweise auf das Werk von Czechowski (es fehlen entsprechende Zeichen), wird für mich dadurch bestätigt, daß Heukenkamp in einem nach der Wendezeit publizierten „Rückblick“ keinerlei Einschränkungen oder Korrekturen ihres 88er Beitrags vorbringt. Vielmehr erscheint in „Von Utopia nach Afrika. Utopisches Denken in der Krise der Utopie“,66 in dem sie neben Volker Braun auf Heinz Czechowski eingeht, das gleiche Konzept, das gleiche Vorgehen. Aus dem in ihrer Anmerkung 8 neben Was mich betrifft genannten Band Kein näheres Zeichen bringt sie (lediglich) als einziges etwas ausführlicher behandeltes Gedicht „Sic transit gloria mundi“, das jedoch ein Wiederabdruck ist aus Ich, beispielsweise.67 Es steht bei ihr als Beispiel dafür, daß bei Czechowski das Ich „von den ,europäischen Utopien‘ nicht loskommt“.68 Im angeführten Gedicht werde
der Weltlauf repräsentiert durch die Namen „B“ (Brecht mit dem Zusatz „Herr“), „Harry S. Brown“ („irgendein[er] (…) aus St. Paul, Minnesota, den der 2. Weltkrieg nach Europa verschlug“); es folgen „Chopin“, „Danton“, „Hitler“ (mit dem Zusatz „Herr“) sowie „Lenin“, „Napoleon“, „Querner“ (mit dem Zusatz „der Maler“), „Robespierre“, „Stalin“. Diese Namen ergeben ein Geschichtsbild, dessen Drehpunkte die beiden großen europäischen Revolutionen sind. Nimmt man noch die Ortsnamen hinzu, so ist der Zweite Weltkrieg ein weiterer Wendepunkt („Annenstraße 1“, „Coventry“, „Kaisersaschern“, „Minnesota“, „Moskau“, „Pont des Arts“). Beide Reihen zeigen Europas Geschichte als Sieg von Gewalt und Verblendung über Weisheit und humane Hoffnungen. Die drei Künstlernamen gehören dazu und sind doch fremd in der Reihe. Gesagt wird, daß sie keinen Einfluß auf irgendeines der Ereignisse gehabt haben. Das fiktive „Kaisersaschern“ fügt sich als Kennwort gedeuteter Geschichte umstandslos ein.69
Bei der von Heukenkamp vorgenommenen alphabetischen Aufreihung der Namen fällt das vielfältige Bezugsgeflecht fort, das mit diesen Namen im Gedicht aufgebaut wird.70 Ihre Schlußfolgerung, hier werde der „Sieg von Gewalt und Verblendung über Weisheit und humane Hoffnungen“ gezeigt, verfälscht den angesprochenen Geschichtsablauf und simplifiziert zudem Czechowskis Geschichtsverständnis.
Das Gedicht hebt nämlich an mit:
Einmal muß
Beglichen werden die Rechnung:
Auch die Liebe
Ging ihren Weg in die Massengräber: Asche
Häuft sich zu Asche,
Und selbst die schwache Stimme der Hoffnung
Kennt kein Erbarmen.
Einbezogen in dieses Vergehen des Ruhms der Welt (Titel) sind
Schuldige, Unschuldige –
Also auch wir –
Gezeichnet sind wir von Angst, beispielsweise,
Daß alles gesagt ist, oder
Der Angst, daß das, was gesagt werden müßte,
Niemals gesagt werden kann.
Auf diesem Hintergrund werden einzelne Beispiele der Geschichte vorgebracht, zu denen mit Blick auf Heukenkamps Behauptung einiges zu sagen ist: Der gefällte Danton war nicht unbedingt ein Gegenbild zu Robespierre, war keineswegs nur ein Vertreter humaner Hoffnungen; Napoleons Flucht aus Moskau war der Beginn des Zusammenbruchs seiner Herrschaft über weite Teile Europas; Lenin warnte zwar vor Stalin, doch unter dessen Führung war die Sowjetunion maßgeblich beteiligt an dem Sieg über den anfänglich unterschätzten „Herr[n] Hitler“; die alliierten Bombenangriffe bewirkten viel, andererseits fielen ihnen auch die Bilder des sächsischen Landschaftsmalers Querner zum Opfer. Im Text erscheint die Komplexität von Geschichte, ihren Auswirkungen auf die Lebenden, aber auch der unterschiedlichen Versuche, ein menschliches Leben zu gestalten, – trotz des generellen ,Vergehens des Ruhms der Welt‘: sozusagen als ständiges Anschreiben, wie hier mit diesem Gedicht, „Gegen die Vergeblichkeit“ (Schlußzeile), auch wenn „täglich ein neues / Damoklesschwert über unsere Köpfe / Gehängt wird“.71 Dafür werden Liebende aufgerufen mit Nennung von Tristan und Isolde, wird auf Brechts Shen Te verwiesen, auf die Mazurken Chopins, auf die a-moll-Fuge Bachs.72 Durch „brennende[s] Kaisersaschem“ wird mit dem Roman Doktor Faustus die Jugendstadt Adrian Leverkühns aufgerufen, doch wohl auch die Zerstörung des Thomas Mannschen Lübeck, damit zugleich der Untergang Deutschlands in dem weiteren geschichtlich-kulturellen Raum Europa.73
Mit der Textreduzierung wird wieder eine ganze Dimension ausgeblendet. Wenn Heukenkamp dann auch noch das kritische Umdenken Czechowskis in die Zeit zwischen Schafe und Sterne (1974) und Was mich betrifft (1981) ansiedelt und praktisch nicht weiter eingeht auf seine 87er Aussagen, die aus den Jahren 1989/90 überhaupt ungenannt läßt, dann wird er als Autor rückgestuft auf eine Position ohne direkten, unmittelbaren Gegenwartsbezug.74 Damit fallen alle politischen Implikationen unter den Tisch, werden Gegen-Entwürfe zum Geschichtsoptimismus des Marxismus-Leninismus, Infragestellungen sozialistischer Utopie in ihrer simplifizierten, Real-Geschichte überspringenden oder durch Ideologisierung auffangenden Form, weitestgehend neutralisiert. Heukenkamp hat die Gelegenheit für einen Nach-Wende-Rückblick nicht nur nicht genutzt, vielmehr die Autor-Entwicklung auf eine Zeitspanne festgelegt, in der in der DDR in größerem Maße Autoren ihre Arbeits- und Sichtvorstellungen revidiert/verändert/umgebaut haben.
Bei meiner kritischen Abhebung ging es mir nicht um Textnachweise einzelner Geschichts- bzw. Zeitgeschichtsbezüge, vielmehr um den Aufweis, daß bei Czechowski das Zeitgeschichtlich-Politische als eine Dimension erscheint, aus der heraus das lyrische Ich sich artikuliert, aus der heraus es Versuche vorstellt, sich in seiner gesellschaftlichen wie künstlerischen Gegenwart zurechtzufinden, für sich auf diesem Hintergrund Gegenwart so zu organisieren, daß akzeptablere Verhaltensweisen erkennbar werden.
Hier sei aber auch angemerkt, daß Ursula Heukenkamp mit ihrer Einstellung/Arbeitsweise nicht isoliert steht. In „Wider das Gespenst der Vergeblichkeit“, einer langen Besprechung von KnZ, nennt Bernd Leistner75 z.B. „Kritisches Bewußtsein“ [KnZ, S. 58] „eines der bittersten Gedichte“ dieses Bandes. Ins Bild kämen die „visuellen Eindrücke einer Eisenbahnfahrt ,Von Bitterfeld bis Schönefeld‘, ,Gräben, Gräber, Abfallplätze‘; Tristesse aus Abgelebtem, Abgestandenem, Makabrem.“ Solche „Erfahrungslandschaft“ fände sich aber nicht nur in diesem Gedicht:
Verse einer großen, auch Pathos nicht scheuenden Vaterlandsklage finden sich wieder und wieder im Band, ja bilden recht eigentlich sein thematisches Zentrum: „Aufgeschlagen / Hyperions Satz: / So kam ich unter die Deutschen“. Und das Ich reibt sich wund an der Deutschen Vergeßlichkeit, am Biedersinn ihrer geschäftigen Gleichgültigkeit, an der Fernseheinfalt ihrer Feierabendlichkeit.76
Leistner fügt hier (ohne Titelnennung) die beiden letzten Strophen von „In aller Stille“ [KnZ, S. 138f.] – einsetzend mit „Nein, Deutsche, / Ihr habt nicht gelernt“ – an und fährt fort:
Eine schmerzliche Klage, die gerade dem Deutschland gilt, an das die eigene […] Biographie gebunden ist, in dem die Vaterstadt Dresden liegt, und Halle und Wuischke und Leipzig:
Welch eine Vaterlandsliebe, die sich da mitteilt, im grimmig-trauernden Heraussagen all dessen, was schändlich, bedrohlich, deprimierend ist. Und eben diese Vaterlandsliebe – die eines Hölderlin, eines Heine – macht, daß Czechowski in seinen Gedichten nicht loskommt von der Schreckensvision eines „Niemandslands“; besonders seine Dresden-Gedichte erwachsen aus solcher Spannung ganz und gar.77
Und etwas später heißt es, daß die „eigene Aktivität des Redens“ vor allem reagiere auf „die gesellschaftliche Gesprächslosigkeit – die eine Kulturlosigkeit ist, Symptom eines Kulturverfalls“.78 Leistner sieht die Czechowski-Aussagen in einem größeren Zusammenhang, als Äußerungen eines „im Innersten betroffene[n]“ Subjekts, – wobei als Fixpunkt im Vergangenen immer noch gelte:
„Wir hatten einen Anfang.“ Die Erinnerung an die Aufbruchsaktivität der Nachkriegsjahre, diese Erinnerung blieb ungeschwärzt; ja mehr noch: Die trotzig-vitale Resignationslosigkeit des Ichs ist, im Grunde, der unaufgezehrte Impetus von damals.79
Auch von Leistner werden hier Texte als besondere Aussage-Leistung hervorgehoben, ohne daß zugleich gefragt wird, wie die Verbindung zu sehen ist zwischen dem lyrisch Ausgesagten und dem, was dabei als Wirklichkeit, als Lebens-Realitäten erscheint, anders formuliert: ob all das von Czechowski als schrecklich Notierte in der Tat ein Stück DDR-Wirklichkeit zur Sprache bringt. Dessen, wie Leistner es nennt, „bohrende Hinwendung zu Biographisch-Existentiellem“80 kann doch wohl nicht Schreckensbilder produzieren, um die Stärke seiner Vaterlandsliebe zu erkennen zu geben, kann doch schlecht bloß Hinweis darauf sein, daß der jetzt ungefährdet scheinende Fortgang der DDR nicht mehr die Großartigkeit eines gefahrvollen Anfangs besitzt.
Von Leistner wie von Heukenkamp wird für Czechowski-Gedichte eine Literarizität reklamiert, bei der die Texte zwar befreit sind von vereinfachender Politisierung, auch von zu kurz ausgelegter Abbild-Funktion, aber auch ,befreit‘ von ihrer gesellschaftlichen (teilweise auch noch ihrer sprachlichen) Wirklichkeits-Dimension. In beiden Fällen handelt es sich um eine in einem engst-verstandenen ,Literatur-Diskurs‘ verbleibende Darstellung, eine in ihrer Weise radikale Ausformung von textimmanenter Interpretation.
Bei dem heute möglichen Blick auf das Gesamtphänomen DDR muß, so meine ich, auch gesehen werden, daß zu bestimmten Zeiten oder Anlässen, vor allem im Verlauf der 80er Jahre, für gewisse Erscheinungen im Kulturbereich Freiräume geöffnet wurden für die künstlerische Produktion wie die literaturkritische, insbesondere literaturwissenschaftliche Rezeption/Interpretation. Das hängt meines Erachtens damit zusammen, daß (aus Gründen gleich welcher Art) in der Praxis eine Trennung von Überbau- und Basis-Erscheinungen akzeptiert und deren gegenseitige Beeinflussung zumindest partiell als nicht gegeben angesehen wurde. Das ließ die Publikation kritischer Literatur zu, ermöglichte auch im Wissenschaftsbereich (der weniger leicht zugänglich war als die Tages-Literaturkritik) ein offeneres Umgehen mit Literatur jeglicher Art, – alles unter der Voraussetzung, daß solche Aussagen nicht kombiniert waren mit öffentlich aktionistischem Verhalten (oder einem, das als solches verstanden wurde). Produktion wie Rezeption/Interpretation konnten so in einem reinen ,Literatur-Diskurs‘ gehalten werden, damit eine Überbau-Erscheinung für sich bilden (auch deutbar als simple oder raffinierte politische Kaltstellung von seiten des Staates unter theoretischem Fortgang des eigenen Ideologie-Verständnisses). Das hatte vor allem Auswirkungen im Bereich Lyrik, wo seit längerem ein subjekt-orientiertes Wirklichkeits-Verständnis akzeptiert war, wo allerdings auch nicht wie beim Drama mit der Theaterrealisation eine große Rezipienten-Menge direkt angesprochen wird, wo auch nicht, wie bei Prosa, schon in traditionellem Verständnis eine Beschreibung breiter erfahrbarer Realität die Rezeptionshaltung bestimmt. Bei dieser Verfahrensweise ist auch ideologisch nicht voll Abdeckbares noch akzeptierbar, sofern es den Überbau-Bereich nicht überschreitet bzw. in ihm argumentativ abfangbar ist.
Dieser mein Erklärungs-Versuch darf auf keinen Fall so verstanden werden, daß die Autoren, Verleger, Kritiker, Wissenschaftler, die zu dieser Zeit Gebrauch gemacht haben von den eröffneten Freiräumen, deshalb als staatskonform gelten müßten. Ganz im Gegenteil: es ist ein Versuch, verstehbar zu machen, wie es möglich war, so viel wichtig Kritisches, so viel Neuartiges zu publizieren, ohne sich damit von vornherein zu identifizieren mit dem Staat und seinen Erscheinungsformen.
In der sehr kurz gehaltenen Fortführung seines Czechowski-Beitrags im KLG leitet Wolfgang Emmerich seine Sicht auf den seinerzeit neuesten Gedichtband Ich und die Folgen (1987) ein mit einer Aussage Czechowkis aus einem Vortrag von 1985, daß endgültig die Zeit vorbei sei, da „Irrtümer und Träume oft identisch“ waren.81 Emmerich fährt fort:
Inzwischen sind beide untergegangen: die Irrtümer, und mit ihnen die Träume; so auch der Traum von der Geschichtsmächtigkeit des Individuums. Am Ende einer heillosen Ernüchterung steht der Satz: „Ich habe nicht Geschichte gemacht, Geschichte hat mich gemacht, ich bin Objekt gewesen“.82
Die zitierte Czechowski-Aussage, für die keine Quelle angegeben wird – sie bildet auch den typographisch hervorgehobenen Kopf des separat beigelegten Begleittextes des Bandes Ich und die Folgen (dort ebenfalls ohne Quellenangabe) –, fiel übrigens bereits 1981 in dem Gespräch mit Christel und Walfried Hartinger und steht dort in einem ganz bestimmten Zusammenhang: der Umschreibung von Konsequenzen aus seiner „Grunderfahrung“: dem „Miterleben jener Katastrophe, jener Zäsur, die weltgeschichtlich war“, der Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945.83
Die direkt an den Czechowski-Satz anschließende Behauptung, daß aus „Zweifel […] Verzweiflung [wurde], aus Ratlosigkeit Bitterkeit, aus Verunsicherung Resignation“, daß die „großen Worte – Wahrheit, Geschichte, Zukunft, Heimat, Ideologie – […] nicht nur ausgespart [werden], sondern strikt verworfen“, belegt Emmerich mit einigen als „programmatisch“ bezeichneten, von ihm aus nicht benannten Gedichten herausgelösten Zeilen: „Heimat / Was für ein Wort / Im Mund / Der Geschichtslosigkeit“ [„Eliasfriedhof“, IuF, S. 17; KnZ, S. 28]; „Fast entscheidet ein Wetterbericht / Schon mehr als alle Ideologien“ [„Welch ein sonorer Ernst“, IuF, S. 42f.; KnZ, S. 62f.]. Daraus folgert er:
Der letzte Schub einer offenbar unumkehrbaren Ernüchterung hat sich nicht nur zum Guten von Czechowskis Poesie ausgewirkt. Gewiß gibt es immer wieder schöne Gedichte oder zumindest Verspassagen [keine Nennungen, G. L.], und des Autors schonungslose Offenheit im Umgang mit Reizthemen wie der Umweltzerstörung oder der Mandarinwirtschaft des realsozialistischen Staates (z.B. in „Aus dem Chinesischen“) ist eindrucksvoll. Aber insgesamt haben die neuen Gedichte an Spannung und Widerständigkeit verloren.84
Dieses Urteil ist nicht nur anfechtbar wegen der Abstinenz, was die Nennung von Titeln betrifft (der einzige genannte, „Aus dem Chinesischen“,85 ist nicht enthalten in IuF, sondern in KnZ, S. 142 als Wiederabdruck aus An Freund und Feind). Bei dem Gedicht „Eliasfriedhof“, das wie einige andere die Leben-Tod-Thematik aufnimmt, sollte nicht unberücksichtigt bleiben, daß der zitierte Teil 2 zwischen dem Eingangsbild „[…] hier / Sammelt die Zeit / Ihr Vergessen, […]“ und einem Schluß (Teil 4) steht, der mit „Hier ist Dein Jetzt“ als eine Aussage gelesen werden kann gerade gegen das Vergessen und eine Geschichtslosigkeit. Wer aus „Welch ein sonorer Ernst“ die (gegenständigen) „Wetterbericht“-„Ideologien“-Zeilen herauslöst, verkennt die verschiedenen, verworteten Ironie-Komplexe dieses längeren Gedichts.86 Zu denen sind durchaus die zitierten Zeilen zu zählen; diese werden zudem mit den Schlußzeilen noch einmal ironisch gebrochen:
[…] Es mangelt,
Alles in allem,
Ganz einfach an Informationen
(IuF, S. 43; KnZ, S. 63).
Nicht stichhaltig ist für mich Emmerichs anschließende Argumentationsreihe:
– Des Autors bitterer Satz „,Sprachlos geworden / Reden wir um uns herum‘ trifft schon auch seine eigenen Texte, deren Grundgestus häufig ein ,widerstandsloses Parlando‘ (Gerhard Rothbauer) im Gehäuse des ,real existierenden Sozialismus‘ ist“;87
– „Czechowski ist – wohl endgültig – ein elegischer Nonkonformist geworden, dessen Verse zwar noch nicht die Schwärze […] Günter Kunert[s] erreicht haben, aber sich ihr immer weiter annähern“;88 Andreas Kilb habe „treffend formuliert, Czechowskis Gedichte seien gemacht ,für Leser in Halbtrauer‘“, und in der Tat vermisse man „nach wie vor Verse von unerhörter, bestürzender Radikalität, die einen atemlos machten (wie es einem z.B. bei Volker Braun, Sarah Kirsch oder Uwe Kolbe geschehen kann)“.89
In seiner, wie ich meine, differenzierenden, abwägenden Rezension stellt Rothbauer voran, daß einer, der schreibt, das ja tue, „weil er die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat“; seine Hoffnung sei sein Gedicht, wie es der letzte Vers von „Sic transit gloria mundi“ nenne:
geschrieben
Gegen die Vergeblichkeit90
Bezugnehmend auf einige Zeilen dieses Gedichts fragt sich Rothbauer allerdings, ob Czechowski seine Melancholie nicht manchmal „zu effektvoll“ arrangiere. Die beiden ersten Gedichte des neuen Bandes [KnZ] zeigten, „auf welch gegensätzliche Weise Czechowski von der Vergeblichkeit im Gedicht sprechen kann“: in „Urnenfeld“ komme es praktisch zu einem Verstummen, Ich und die Folgen kenne solch Hindernis nicht.91 Es durchbreche die Grenzen des Verses, gehe in Prosa über (mit Nennung vieler Personen, vieler Orte rings um Dresden), unbearbeitetem Stoff, „der sich dem Gedicht bislang entzogen hat“, münde aber eben auch „ersatzweise“ in „eine traditionelle Metapher (,der Schatten eines riesigen Flügels über dem Ahorn vorm Hause der Mutter’‘) und in ein Brecht-Zitat“.92 Hatte sich früher etwas als Stoff entzogen, scheint für Rothbauer jetzt einiges in eine Art von Kunstfertigkeit überzugehen. Er knüpft daran die nun zugespitztere, im Vergleich mit Emmerich offenere Frage an:
Vergeblichkeit, wie sie im Verstummen, öfter aber im widerstandslosen Parlando vernehmlich wird – sind solche Extreme vielleicht auch ein Indiz dafür, daß Czechowski nach einer Mitte sucht – nicht nur im Formalen?93
Bei Emmerichs Einbeziehung von Rothbauer scheint eine besondere Erwartungshaltung gegenüber Czechowski durchzuschlagen, wie sich das in bezug auf die an ihm als Mangel vermerkte Noch-nicht-Kunert-Schwärze zeigt,94 für mich deutlicher noch an der Verwendung der zitierten Doppelzeile. Die aus dem Gedicht „In unerklärlicher Absicht“ herausgelösten Worte – „Sprachlos geworden, / Reden wir um uns herum“ – stehen dort in einem Text, der – bitter, doch hochgradig ironisch-politisch – die Situation nach dem Sturz Stalins kritisch umschreibt: „Sprachlos geworden“, stehen „wir“ jetzt im Ineinander von „Tagesberichten“ und „den unerklärbar gewordenen Theorien“ auf „Standpunkte[n]“ (Hervorhebung G. L.), [im doppelten Wortsinne] „Bewegt“.95 Der Gedichttext als ganzer spricht gegen die offensichtliche Beliebigkeit des Textstücks. Auch der ,Beleg‘ Kilb ist nicht so eindeutig wie vorgestellt. Er wird von Emmerich herangezogen als derjenige, der die „Kontroverse“ zwischen den Czechowski-Interpreten – „ob des Autors Haltung mit dem größeren Gefühl der ,Trauer‘ (Labroisse) oder dem kleineren, privateren der ,Traurigkeit‘ (Heukenkamp) zu charakterisieren sei“?96 –, ohne diese zu kennen, mit seiner „Halbtrauer“-Formulierung auf den Punkt gebracht habe. In Kilbs Rezension ist in bezug auf einzelne Texte die Rede davon, daß Czechowski leise spreche, „fast ohne Zorn, mit verhaltener Trauer, manchmal zynisch, meistens milde“, daß er kein Mahner sei, „eher ein heimlicher Idylliker“. „Seelenschmerz“ ist Kilb allerdings zuwider, auch die „Andacht, die Gemütlichkeit“, die in manchen Gedichten herrsche [ohne Titelnennungen]. Er beanstandet, daß „nirgends ein Schrei“ auftauche. Doch dann konkludiert er nicht ohne positiven Schwenk:
Ich und die Folgen, das sind beherrschte, gedämpfte, scheue Gedichte für Leser in Halbtrauer; die werden sich finden, hoffe ich.97
Emmerichs Abwertung der 87er Gedichte, seine ebenfalls rückstufende Begrenzung des Autors erfolgt ohne genauere Textbeachtung, ohne Differenzierungen. Das betrifft auch seine Sicht des Unterschieds zwischen Heukenkamp und mir, geht es hier doch keineswegs um die zwischen Trauer und Traurigkeit, zwischen größerem/kleinerem Gefühl (Heukenkamp spricht durchaus auch von Trauer). Gegenüber ihrer Einschätzung neuerer Czechowski-Gedichte als Aussage von Empfindungen, als „Stimmung“ des lyrischen Ich hatte ich die Frage nach der lyrischen Präsentation ins Zentrum gerückt, weil meines Erachtens zu zeigen ist, daß dort Erfahrungen (von Ich/Schreiben/Gesellschaftsrealität) artikuliert werden in Form komplexer Spannungsverhältnisse, als sprachliche (gedankliche) Spannungs-Gebilde, die auch nicht oder gerade nicht im Textverlauf aufgelöst werden, vielmehr durch diese Präsentation einer ein-deutigen Lesart des (jeweils) Thematisierten entgegenstehen.98
Zwischenbemerkungen zur Textlage
Aus den frühen Gedichtbänden Czechowskis sowie dem einen neuen Ansatz bringenden Was mich betrifft (1981) war 1982 ein umfänglicher Auswahlband zusammengestellt worden: Ich, beispielsweise (Leipzig: Reclam). Dem hatten die Herausgeber Christel und Walfried Hartinger ein im März 1981 in Leipzig geführtes Gespräch mit dem Autor als Nachwort angefügt.99 Die 1983 bei Hanser/München unter dem Titel An Freund und Feind publizierte Auswahl aus eben diesen Einzelbänden (mit 69 gegenüber 107 Gedichten des Leipziger Bandes) stellte Czechowski erstmals direkt in der Bundesrepublik vor.
Im Vergleich mit der Münchner Auswahl nennt Wolfgang Emmerich die 1987 von Sarah Kirsch und Karin Kiwus (in Zusammenarbeit mit dem Autor) für den Rowohlt-Verlag vorgenommene Zusammenstellung Ich und die Folgen „ein[en] geglückte[n] Gedichtband“, der „ganz überwiegend neue Gedichte“ enthalte, in Klammem hinzufügend: „nur teilweise identisch mit dem 1987 in der DDR erschienenen Band Kein näheres Zeichen“100 Diese Aussage müßte allerdings in dem Sinne verstanden werden, daß die 47 parallel abgedruckten Gedichte (von ingesamt 58) in dem DDR-Band immerhin in einem Gesamt von 102 Gedichten stehen.101 Die West-Ausgabe enthält, anders als Kein näheres Zeichen, keinerlei Anmerkungen, läßt sogar bei älteren Gedichten die seinerzeit beigegebenen erläuternden Hinweise fort.102
Im Jahr 1989, noch vor der ,Wende‘, erschienen von Czechowski gleich zwei Gedichtbände in der Bundesrepublik: die von D[ietrich] E. Sattler besorgte Auswahl Sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluß sowie Mein Venedig.103 In diese Gruppe gehört praktisch auch der 1990 in Leipzig publizierte, von Wulf Kirsten ausgewählte und mit seinem Nachwort „Die Stadt als Text“ versehene großformatige Band Auf eine im Feuer versunkene Stadt, einmal schon in Anbetracht der in der DDR üblichen langen Drucklegungszeiten, vor allem aber wegen der Parallelabdrucke.104 Für den Bremer Band gibt Sattler an, daß die ersten 17 Gedichte dieser Auswahl den 5 Einzelbänden im Mitteldeutschen Verlag entnommen wurden (wozu noch das Gedicht „Kein Wort zuviel“ auf der hinteren Umschlagklappe hinzuzurechnen wäre); von den weiteren 18 als bisher unveröffentlicht bezeichneten Gedichten sind lediglich 2 auch in Mein Venedig abgedruckt.105 Letzgenannter Band ist mit ingesamt 37 Gedichten und Kurzprosastücken die weitaus umfangreichste Sammlung, zudem die einzige mit Anmerkungen zu den Texten.
Im Frühjahr 1993 erschien der Band Nachtspur.106 Wie der Untertitel angibt, bringt dieser Band „Gedichte und Prosa 1987–1992“, und zwar 104 Gedichte und 31 Prosatexte (mit unterschiedlicher Länge). Eine größere Anzahl Texte ist datiert, einige sogar mit genauem Tagesdatum (vgl. entsprechende Hinweise bei meiner Textbehandlung). Zwei erscheinen mit der den angegebenen Zeitraum überschreitenden Jahreszahl 1986. Es wurden jedoch auch Texte aufgenommem, insbesondere einige Kurzgedichte, die bereits 1983 und 1984 erstmals publiziert worden sind. Trotz der teilweisen zeitlichen Deckung mit den 89/90er Sammelbänden halten sich die textlichen Überlappungen in engen Grenzen.107
Teil II. Kontinuitäten und Innovatives in den neuen Textbänden
In Teil I meine ich aufgezeigt zu haben, daß die Heukenkampsche Erklärungsweise, doch auch die davon nicht prinzipiell unterschiedene von Emmerich auf nicht weiter diskutierten Vor-Entscheidungen beruhen. Das ließ sich ablesen an der Art und Weise ihres Umgehens mit dem 87er Textkorpus: der Beschränkung auf ,passende‘ Gedichte und im Zurechtstutzen an Einzeltexten auf nur das, was ihren Erklärungsweisen für das angesetzte Schreibkonzept des Autors entspricht, reibungslos in ihnen aufgehen kann. Diesem Verfahren fallen vor allem ironische Texte/Textteile zum Opfer, entspricht Ironie doch nicht dem unterstellten elegischen Gestus, nicht Traurigkeit/Trauer, bringt sie vielmehr vernünftig-kritische Elemente auf eine spielerische Manier zur Geltung.
In „Mit annähernd fünfzig“ (KnZ, S. 148), in dem zu Beginn erwogen wird, 8–10 Jahre gründlich an einem Roman zu schreiben als „Protokoll eines noch nicht zu Ende gelebten Lebens“, schließt der Sprecher seinen kritischen Rück- und Ausblick nach der Mitteilung: „Nur ein Gedicht kann noch immer Unvereinbares in sich vereinen“, mit der zurücknehmend-anspruchsvollen Zeile:
Und schließlich reicht es ja auch aus, wenn einer ordentlich formuliert, was ein paar andere angeht.
Die Beschreibung seines Weges zum „Botanische[n] Garten“ (KnZ, S. 168f.) läßt das Ich enden mit den Strophen:
Denn lieber sind mir allerdings
Die bescheidenen Freilandquartiere,
Nicht zu beschreiben im März,
Wenn die Frühblüher erwachen,
Gleich vom neben dem Eingang,
Wo ein schamlos sich sonnendes Mädchen
So tut, als läs es in einem Buch.
Trotzdem:
Es bleibt zwischen Verzicht und Entsagung
Allsonntäglich noch dieser Gang
Durch den Bayrischen Bahnhof
Zum Botanischen Garten,
Wegen des schamlos sich sonnenden Mädchens oder
Der unscheinbaren,
Am Wegrand wachsenden
Salzflora Mitteleuropas. (S. 168f.)
Die vom Text selbst nicht gedeckte, hochgespielte Ausweitung des Spaziergangs mit Benn-Ton zum Problem „Verzicht oder Entsagung“ (169)108 wird mit der Gegenüberstellung des „schamlos sich sonnenden Mädchens“ zur „unscheinbaren“, ebenfalls „Am Wegrand“ zu findenden „Salzflora Mitteleuropas“ nochmals ironisch-komisch überzogen, jedoch ohne dabei eine gewisse Ernsthaftigkeit ganz zu verlieren.
Besonders gelungen finde ich das Gedicht „Der Abtritt“ (KnZ, S. 111), eine gewisse Parallele zu Günter Eichs Gedicht „Latrine“. Bei Czechowski ist nicht nur der Ironie-Ton voll durchgezogen, die aufgerufenen Literatur/Dichter-Bezüge werden noch in sich selbst, zudem unterschiedlich, ironisiert, da ihre Realitätsbezüge variieren bzw. auf verschiedene Weise kontrastieren: „Mein Sachalin“ gegenüber „Mein Muzot“ [Rilke]; „reiner Widerspruch“ [Rilke] als „Mit Sand und Ata gescheuert“; „Weimar“ als „Saustall, / Wie Goethe ihn vorfand“; daß „kein Eckermann / […] IHN dorthin begleitet“ habe, „Wo ich oft bin“ („Ein letzter der Götter / Im Winkel des Gartens“, einem Hölderlin- und damit auch Eich-Anklang).109 Zu beachten ist dabei auch die sprachliche Verarbeitung im einzelnen, wo z.B. die Anfangsreihung „Geheiligter Ort, Altar“ und „Seele“ eben nicht mit „Gedanken“ fortgeführt wird, vielmehr mit „Grundstück[.] / Mit Brettern verschlagen / Mein Sachalin“, das hin wieder als Verbannungsort positiv bewertet und in der folgenden Strophe mit Rilkes Schloß-Aufenthalt parallelisiert wird: „Du, mein Muzot“.
Diese Beispielreihe läßt sich fortsetzen, so mit „Das geheiligte Öl“, schaut man bloß auf die Anfangs- und die Schlußstrophe (KnZ, S. 114f.),110 oder mit dem „Ort“ bezeichneten Reisegedicht durch die Lausitz (KnZ, 69f.), das damit arbeitet, daß – wie die 1. Strophe mitteilt – Heine in Berlin „bei dem Gedanken, / Hier oder da / Könnte Lessing gegangen sein, / Immer ein Schauer“ überlief.111
Zum anderen zeigen die 87er Bände das erweiterte Ausgestalten einer spezifisch angesetzten Ich- bzw. Sprecher-Position, nämlich das Bewußtmachen oder im Bewußtsein Behalten des von Geschichte bestimmten Ortes des aussagenden Ich und der zur Sprache gebrachten Thematik, was als geradezu notwendige Bedingung für die sinnvolle Orientierung im Komplex der Gegenwarts-Probleme erscheint.
Wie bereits bei einigen der angeführten Gedichte gezeigt, erscheint bei Czechowski ein nicht bloß abstraktes lyrisches Ich (als bestimmte Aussageform), vielmehr ein konkret ausgestaltetes, und zwar in konkret gehaltenen geschichtlich-politischen Zusammenhängen und eben nicht in Geschichte schlechthin, in Geschichte als großem welthistorischen Ablauf sozialistischer Provenienz. Auf welche Weise das geschieht, variiert von Ansätzen bis hin zur völligen Durchdringung des Textes.
In „Gedichte kommen oder kommen nicht“ (KnZ, S. 30f.), das lyrisches Zur-Sprache-Bringen thematisiert, erscheint eine Reihe erinnerter Bilder/Bildteile: „überm Stromtal“ hängende „Weihnachtsbäume“, die Dresden „noch einmal erglänzte[n]“, ehe die Bomben die Stadt zerstörten, Menschen „brennend durch die Straßen irrten“; als Zeichen für „neu / Aus den Ruinen“ aufblühendes Leben werden „ein Mandelzweig / In Solferino“ und „im Hinterhof / Beim Ponts des Arts ein Feigenbaum“ genannt (S. 30). Der Nationalhymnen-Anklang112 verweist im weiteren nicht auf DDR-Realität, vielmehr wird das Paris-Bild aufgenommen für die historische Weiter- bzw. Rückführung, taucht doch eine Gestalt auf, „vielleicht / Ein Überlebender, der sich / Die schmale Rue de la Roquette hinunterschleppte“. Damit wird Bezug genommen auf die Pariser Kommune vom Frühjahr 1871, den sozialrevolutionären Versuch, an dessen schnellem Ende die sich durch die genannte Straße vor den anrückenden Truppen zurückziehenden Kommunarden schließlich zusammengeschossen wurden.113 Die Geschichts-Reihe: Zerstörung/Untergang – Neuansatz – zerbrochene Hoffnung bei einem frühen Ansatz geht über (bevor der Gedanke vom Schreiben von Gedichten direkt aufgenommen und zu Ende geführt wird) in die auch die Entstehung von Gedichten einbeziehende Überlegung:
Ein Zeuge, wie wir alle zeugend,
Von dem, was möglich ist, solange wir
In einen Spiegel sehn, in dem wir uns begegnen:
Fremd, ohne Wurzeln, ein Gewächs,
Das seine Tage zählt und trinkt
Aus einer nie gesehnen Quelle, einem Strom,
Der fließt und fließt und dessen Fließen
In der durchwachten Nacht gehört wird. […] (S. 30)
In „Geschichtsbild“ (KnZ, S. 21f.) sieht das „Unter Papiergirlanden“ „Aus der Ohnmacht erwachte“ Ich, als es sich wie jeder „Mensch, / Aus der Ohnmacht erwachend“, ein „Weltbild“ machen will und dafür wieder die Augen schließt und mit geschlossenen Augen sieht:
[…] die fest geschlossenen Reihen,
Die mit ruhig-festem Schritt
Den Wilder-Mann-Berg emporzogen […].114 (S. 21)
Das bis in Einzelheiten erinnerte Bild der Jugendzeit wird noch einmal aufgerufen in der Mitte des Textes. Jetzt ist es eine „SS-Kompanie“, die „Mit ruhig-festem Schritt“ den Berg emporzieht. Der sie anführende Offizier – die Beschreibung geht über in die von mir zitierten Schlußzeilen – sieht aus
Wie in einem Text, der
In einem Buch steht, den ich vor Jahren geschrieben,
Und an den ich dachte, während ich
Unter Papiergirlanden aus diesem Halbtot erwachte,
Als vor mir
Eine SS-Kompanie den Wilder-Mann-Berg emporzog. (S. 21)
Bedrängend-bedrückend – man beachte das dreimalige Aufrufen dieses Bildes – reicht die NS-Zeit in die Gegenwart hinein und spricht damit gegen den Versuch einer schnellen (und einfachen) Weltbild-Formung.
Direkter in Gegenwarts-Verhältnisse hineinreichende, dabei zugleich kritische Stellung beziehende Aussagen erfolgen auf unterschiedliche Weise. Die „Zwei Nachtstücke“ (KnZ, S. 174f.) – Traum-Stücke in Prosa – sind Texte ohne direkte Ortsangabe, doch die Zeit ist nicht unbestimmt-allgemein. Das erste Nachtstück beginnt mit dem Satz „Im Traum sitzen Freunde und Feinde an meinem Tisch„ und dürfte mit dem traditionellen Gegensatzbild auch auf den Bandtitel An Freund und Feind (1983) verweisen. Die im 2. Stück auftauchenden „nächtlichen Reiter“, die „nur Ja und Nein“ kennen, für die „Als ausgemacht gilt: Wer nicht für sie ist, muß gegen sie sein , können „die Zeitung des Tages nicht lesen“ (S. 174):
Alles, was wächst, ist ihnen fremd. Sie können nur eines: verfolgen, aufbrechen, töten. Die Liebenden reißen sie auseinander wie altes Papier. Die meisten widersprechen ihnen schon lange nicht mehr. Man kann auskommen mit ihnen, sagen sie leise. Und gehen auf Zehenspitzen. (S. 174f.)
Assoziationen mit dem politischen Zustand in der DDR sind kaum abzuweisen, entspricht ihm doch im offiziellen Bereich die starre, wertende Entgegensetzung von Sozialismus und Kapitalismus, waren solche Verhaltensweisen vor diesem Hintergrund von jedem selbst zu erfahren, abgesehen davon, daß sie oft genug beschrieben worden sind. Was textlich wie ein zwar beklemmender, jedoch letztlich nicht festgemachter Allgemeinplatz politischer Möglichkeiten erscheinen kann, bekommt bestimmteren Inhalt, wenn man den Text in Verbindung setzt mit anderen Gedichten dieses Bandes, insbesondere mit „Kritisches Bewußtsein“ (KnZ, S. 58). Was wie ein DEFA-Film-Arsenal aussieht, diese „Armutei“, ist benennbare Realität: Von „Bitterfeld bis Schönefeld“ (Hervorhebung G. L.) fährt der Zug vorbei „an Gräben, Gräbern, Abfallplätzen“. Hier sind „Bauplatz und Schrottplatz / Kaum zu unterscheiden“, kurz darauf wertmäßig verstärkt:
Es scheint, das Land besteht aus Müllabladeplätzen.
Der Blick aus dem Fenster (mit Film-Anspielung) wird weitergeführt und im Überdrehen verschärft:
Gesichter
Von Knattermimen und Komparsen
In Uniformen: in der Dichter Land
Wird die Vergangenheit bewältigt.
Der Arnims Gräber, Huchels Wilhemshorst –
O Land, o Lessing-Land,
In dem sich so viel Traurigkeit versammelt. (S. 58)
Der Lessing-Anruf korrespondiert mit dem Gedichttitel, doch ,Kritisches Bewußtsein‘ hat hier keinen erkennbaren, nachweislichen Niederschlag gefunden, zumal der Text fortfährt mit der erschreckenden Feststellung: „Ein Volk von Jägern und Gejagten / Beginnt, in die Geschichte einzugehen“ – eine fragwürdige Gegenwärtigkeit von „Vergangenheitsbewältigung“.115
Was die Titelzeile „In den Ruinenstädten des zweiten Weltkriegs“ (KnZ, S. 158) an Erinnerungs-Schrecken wachruft, wird eingeholt von Schrecken neuer Art: das tägliche Näherkommen der „Braunkohlenbagger“ und das schlafstörende „Pfeifen der Lokomotiven“, wovon wir umstellt sind und wovor auch die Flucht nicht hilft, denn
Wohin du auch fliehst, deine Gebeine
Zerbricht dir der Bagger
Am Morgen des Jüngsten Gerichts, Lokomotiven
Singen den Psalm der Fossilien. […]
Das sicht- und hörbare Voranschreiten des Abbaus von Kohle für den Aufbau des Sozialismus in der DDR wovon uns noch „Hören und Sehen vergehe[n] wird“, verweist auch sprachlich auf die innere Widersprüchlichkeit solcher Gegenwart. Die zweimalige Nennung der Kennworte mit Zeilenendstellung von „Lokomotiven“ legt bei dieser gesellschaftspolitischen Thematik eine weitere kritische Assoziation nahe. Galt einmal Elektrifizierung als Symbol für zukunftsweisenden sozialistischen Aufbau, galt marxistischer Sozialismus überhaupt als Lokomotive der Geschichte,116 erscheint jetzt das Kernstück der DDR-Ökonomie als etwas Ruinös-Zerstörerisches, als die zukünftige Endzeit für Landschaft und Gesellschaft.117
Bei einem anderen Autor hätte die Literaturkritik/-wissenschaft so etwas als Zeichen kritischer Haltung auffällig hervorgehoben, ob lobend oder ablehnend. Bei dem auf elegischen Duktus und Traurigkeit/Trauer festgelegten Czechowski werden Aussagen dieser Brisanz nicht registriert.
Auch aus dieser Perspektive kommen meine Vorbehalte gegen die Heukenkampsche Darstellung mit ihrer vorentschiedenen und einebnenden Textauswahl und Betonung der Dresden-besetzten Psyche, womit der Autor in eine Eigen-Welt enthoben werden kann (was auch auf Leistners Darstellung zutrifft).
Das von mir Angezeigte setzt sich fort, wird noch ausgebaut in den 1989/90 erschienenen Bänden.
In dem von Dietrich E. Sattler ausgewählten Sammelband Sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluß fällt eine größere Anzahl Gedichte auf, in denen das schreibende Ich (durchaus als der Autor Czechowski ausmachbar) reflektiert über seine Schreib-Situation und die Art dieser seiner Schreibtätigkeit. Dessen Aussagen zu einer Poetologie, z.T. in Form neuartiger (erzählender) Langgedichte, erfolgen in einem bestimmten politisch-gesellschaftlichen Raum: es geht nicht um Poetologie schlechthin, Kunstproduktion gegenüber Nicht-Kunst bzw. Realität überhaupt.
Weil Geschichte für sich abläuft wie ein Naturvorgang (über einstige Schlachtfelder rauschen jetzt „Bäume / Im Wind“, ziehen sich Straßen), weil Zeit von beängstigender „Lautloskeit“ ist, muß geschrieben, dagegen angeschrieben werden, und das in „Wut“ (ähnlich der des Hundes, der einem Vorbeikommenden gegenüber „sich an seiner Kette [verzehrt)“), ist doch das „die Sprache, die wir verstehen“: „Es wird nichts verziehen“, hat der Schreibimpetus zu lauten, von dem das Gedicht „S. Augenmaß“ (SgT, S. 56) spricht, mit zweimaliger Nennung dieser Losung.
Eine differenziertere, weniger allgemeine Sicht bringt „Poetologie“ (SgT, S. 54). Der so einfach klingende Eingangssatz „Alle meine Gedichte / Sind Liebesgedichte“ steht in deutlichem Kontrast zu den nachfolgenden Ausführungen, wird von ihnen aufgehoben und hebt sie zugleich hervor (oder die mit „Liebesgedichte“ zu verbindende Ich-Du-Beziehung erhält eine zusätzliche Dimension). „Mißtrauisch“ geworden mit der Zeit, erhält Schreiben hier eine sehr bestimmte, sich von dem üblichen Reden/Schreiben wesentlich unterscheidende Form und Funktion:
Gestern im Radio sprach H.
Über die Vereinbarkeit der unvereinbaren Dinge.
Und er sparte so vieles aus,
Über das längst schon geredet sein müßte.
Meine paar Freunde und ich,
Das ist meine Hoffnung,
Werden vielleicht ein paar Leerstellen füllen,
Die die Zeit hinterließ.
„Einiges“ wird sich vielleicht „Nur im Anmerkungsteil finden, / Den die Nachkommen schreiben“, heißt es weiter, ehe der Gedankengang seinerseits mit einem treffenden, wenn auch nicht wörtlich genommen guten Schluß beendet wird:
Die nicht geschriebenen Schlüsse
Mancher Gedichte sind die Bonmots,
Über die niemand lacht, wenn es gut geht.
Generell [Noch-]Nicht-Geschriebenes, erst von Späteren Ergänzbares wird hier unterschieden von absichtlich unausgeführt bleibenden, offen lassenden Gedichtschlüssen. Gesehen werden sollte das, meine ich, nicht bloß als eine Form von Rezipienten-Aktivierung, sondern auf dem Hintergrund von Czechowskis häufig artikulierter Ablehnung von festgefügten Überzeugungen geschlossener Weltbilder (wie dem offiziell vertretenen Marxismus-Leninismus), weil damit Zukunft als schon Gewußtes begriffen ist, als etwas, das man bereits zu haben/kennen meint (mit der bekannten Unbeweglichkeit als Konsequenz). Unausgeschriebene Schlüsse (Schluß ggf. nicht nur zu verstehen als Abschluß, sondern auch als Schlußfolgerung) sind nichts zu Belachendes, noch nicht einmal dann, wenn das zur Sprache Gebrachte einmal gut ausgehen sollte, denn auch das ist eine ernsthafte Konsequenz.
Aussagen über Anlaß und Art des Gedichte-Schreibens dieses Ich sind in „Epistel“ (SgT, S. 71–75), einem der beiden Langgedichte dieser Auswahl, ausgeweitet zu einer Existenz-Aussage, in die Erfahrungen aus verschiedenen Lebensabschnitten eingebaut sind. Dieses Schreiben ist, so setzt der Text ein, mehr als „nur ein Zeichen, / Daß ich noch leb“ (lediglich von Belang für den Familien- und Freundeskreis), es ist „Ein Stück jener Schuld, / Die ich mich abzutragen bemühe“. Das Ich spreche von sich („wovon sonst“), täglich „am Schreibtisch / Die Grenzen zu spüren“ bekommend, in denen es lebt: „Ich spreche von meiner Schuld, / […]“ (S. 71). Es folgen Erinnerungen an einige Kindheits- und Jugenderfahrungen, nicht gelungene Bewältigungen von Vergangenheit, gescheitert daran, daß Vergangenheit in uns, weil etwas Wirkliches, weil der „Prägestock des Jahrhunderts“, überhaupt „nicht zu bewältigen“ ist (S. 73). „Unüberwindlich“ sei der in uns wohnende „Verrat“. Die empfundene „Trauer in mir, / […] / Hat gute Gründe“: „Die Angebote des Todes / Nahm ich nicht an“, machte vielmehr aus „meinen nicht zu bezwingenden Lügen“ Gedichte (über „das Gelb / Des Ginsters der Kindheit“ etc.); „Sogar / Mit den Bilanzen / Meiner verfehlten / Jahre verdiente ich noch mein Geld“ (S. 73). Das Ich verriet die Genossen, wie diese „mich verrieten“. „Das Feuer verglomm“ (S. 74):
Glaubt mir: Ich
Bin mir selber verdächtig, irgend etwas
Stimmte von Anfang an nicht, auch heute
Tue ich nicht, was ich tun müßte, und sag
Mir zum Trost: Ich
Kann nichts tun außer tun,
Von ein paar gelungenen Zeilen
Will ich nicht reden. Unbearbeitetes
Bezeugt, wie ich aus Eitelkeit
Bestimmten Wahrheiten auswich. Im Vergleich
Mit anderen hielt ich mich aufrecht,
So lange es ging. Jetzt
Bin ich zurückgekehrt in meine Wohnung.
Argwöhnisch
Geb ich mir Stichwort um Stichwort, ein Zeuge.118 (S. 74)
Der Text schließt mit der intensivierten Frage, was das Ich „tun“ soll in Anbetracht dessen, daß es für sich „keinen Rat“ weiß, eigentlich schon immer nicht wußte, was ihm „zu raten gewesen wäre“:
Gewissenlos ehrlich,
Steh ich mir ferner denn je. (S. 75)
Diese Konstatierung – „Gewissenlos ehrlich“ – von Ratlosigkeit ist die gewissenhafte Standortbestimmung (Hervorhebungen G. L.) dieses schreibenden Czechowski-Ich.119 Seine besondere „positive“ Aussage sehe ich in dem deutlich werdenden Negieren von üblichem Bescheidwissen, Kennen des richtigen Weges, Bereithaben von Lösungen (bei schuld-haftem Einbezogensein des eigenen Verhaltens).
Auch der Band Mein Venedig bringt eine Reihe von Reflexionen über den (möglichen) Stellenwert des eigenen Schreibens. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Reise-Langgedicht „Theodor Fontane besucht zum letzten Mal seinen alten Vater“ (MeV, S. 63–66). In zeilen-aufwendiger Schreibweise à la Fontane, anhebend mit dem Hinweis, manchmal erwache man und wisse genau, „was man zu schreiben hat“ (S. 63), wird „eine wie nebenhin / Gemachte Bemerkung / Über das Geld“ wiedergegeben:
[…] Ja,
Das verdammte Geld, aber
Es gibt auch gutes Geld,
Sagte Fontanes Vater, und ich mache mir jetzt
Mitunter so meine Gedanken darüber… Fontane,
Der es eigentlich besser gewußt hat,
Wiegelte ab: Ach, Papa
Rede doch nicht davon, du weißt ja,
Es ist uns ganz egal…
Unwillkürlich
Werden auch so
Dahingesagte Sätze
Zu echten Metaphern: Ja, sagte der Vater,
Laß uns umkehren,
Wir haben dann den Wind im Rücken,
Und da spricht es sich besser… (S. 64f.)
Der Gedichttext fährt fort mit (wie schon vor diesem Wortwechsel) „Stichwörter[n]“ (S. 64) zu Fontane, um dann zu erwähnen, daß es „immer / Diese berührenden Reminiszenzen“ seien, diese „Rückblenden / In ein so fernes / Und uns doch so vertrautes / Jahrhundert“, die uns bemerken ließen, „Wie sich das Leben / Gleicht und wie sich / Das Unvergleichbare / Doch wiederholt, freilich / In anderer Gestalt“ (S. 65f.). Die wenigen Zeilen über so einen nur einmal im Jahr stattfindenden Besuch Fontanes bei seinem Vater – „bis Eberswalde per Bahn, / Dann im offenen Wagen / Bis Freienwalde, das letzte Stück / Aber zu Fuß, bis er den Alten / Schon winken sah auf der Brücke“ (S. 66) – leiten über zum Schluß des Gedichts, der nüchternen Mitteilung, daß das „eigentlich alles“ ist:
Und es erteilt keine Lehre, es sei denn,
Man nehme die Abfassung eines Textes wie diesen
Als einen Versuch, sich selbst zu erkennen
Im Widerschein der Vergangenheit, aber das,
Ich gebe es zu,
Ist bereits
Reine Spekulation. (S. 66)
Das so betonte Hervorkehren von (bloßer) Spekulation wird zur Rezeptionssteuerung: in Richtung Einschätzung dieses Textes als mehr denn eine Reisebeschreibung, wie vom Titel angezeigt.
Der Text im ganzen ist ein kunstvolles Gebilde, und das nicht schon wegen der Art der Einführung („Präliminarien“ für dieses „redundante […] Gebilde“, das das sprechende Ich noch „Gedicht“ nennt [S. 63]) oder die der Thematisierung: der Minimalisierung der Besuchs-Beschreibung in auffälligem Gegensatz zum Lang-Text und dem Hervorkehren seiner Abfassung. Genau im Zentrum des Text-Gebildes steht der Wortwechsel mit dem Vater: 50 Zeilen führen hin zu der „Bemerkung“ („über das Geld“), der nach ihrem gedanklichen Ausbau noch einmal 50 Zeilen folgen (ab „ich sehe“, in der Form dem ansetzenden „Ich weiß“ von Zeile 1 entsprechend),120 nicht als Abgesang, sondern als Hinführung zu einem textauslegenden Höhepunkt. Was in diesem Mittelpunkt „wie nebenhin“ gesagt wird, diese knappe Stellungnahme zum Charakter des Geldes, reißt ein ökonomisch-ethisches Zentralproblem an, entscheidender für den Textzuammenhang hier ist die Weiterführung, ist das, was – mit Doppelpunkt satzmäßig direkt verbunden – die „echte […] Metapher […]“ nennt:
Ja, sagte der Vater,
Laß uns umkehren,
Wir haben dann den Wind im Rücken,
Und da spricht es sich besser… (65).
Die absichtlich hergestellte, für diesen Moment günstigere Position zum Sprechen (sozusagen im Windschatten), die durchaus dem Gesamtgeschehen fest verbunden bleibt, kein Sich-Entheben ist, ist mögliches Abbild für ein kommunikativ fruchtbares Sprechen als Schriftsteller heute, in windigen Verhältnissen. Das wäre – „Reine Spekulation“ – eine Selbsterkenntnis, zugleich ein Sich-erkennbar-Machen „Im Widerschein der Vergangenheit“ (S. 66).
In einer Reihe von Gedichten werden Schreib-Überlegungen in ideologisch-politische Kontexte gestellt. In dem Prosagedicht „Weltbild“ (MeV, S. 9)121 nimmt das sprechende Ich Erinnerungen an seine Kinderzeit auf, vor allem an die Seufzer der Mutter beim Zählen des nie reichenden Geldes. Daran schließt sich die Mitteilung an: „auch ich / füge zusammen, / was hinten und vorne nicht reicht“, sofort gefolgt von:
Ich
mißtraue dem ganzheitlichen Weltbild,
das manche, glaubte man ihnen,
noch immer besitzen122
Dem wird der Gedanke angeschlossen:
Ja, ich mißtraue auch Romanen
und ihren Figuren
die ihrem Schicksal
mit tödlicher Sicherheit niemals entkommen
Für mich ist das eine aussagestarke Parallelisierung. Weltbild-Ganzes und Roman-Ganzes sind beides feste Fügungen, mit eingeschriebenen Entwicklungsbedingungen der bzw. für die Figuren. Auch das „ganzheitliche […] Weltbild“ ist ein Kunstprodukt, künstlicher Versuch, Realität, Geschichte zusammenzufügen, wobei das Zusammengefügte nicht bloß fiktional „tödliche […] Sicherheit“ bietet für das Schicksal der betroffenen Figuren. Das anschließende (selbst)ironische Umkippen-Lassen des Textes in „Ich, beispielsweise, weiß immer noch nicht, / wieviele Seiten man täglich schreiben muß, / um Schriftsteller zu sein, / oder wieviele nicht“,123 d.h. in simpel scheinendes Aufrechnen von Seitenzahlen als Schriftsteller-Nachweis, nimmt einmal das Rechnen der Mutter auf, läßt aber auch durch den Kontrast die Weltbild-Charakterisierung verschärft hervortreten.
In dem knappen Gedicht „An meinen Freund V. B.“ (MeV, S. 34) erlaubt sich das Ich zu fragen,124 „Wie’s um die Wahrheit steht bei uns im Osten“.125 Zu fragen ist:
[…] Wer übernimmt die Kosten
Für jene andre Hälfte, die
Uns überkommt in schöngeschminkten Reden?
„Auf dem Papier“ stehe nur „Die halbe Wahrheit“, – auch optisch zum Ausdruck gebracht mit nur halben Verszeilen bei sonst durchgängigen Blankversen. In Anbetracht der vergehenden Zeit ist es Zeit, jetzt „zu reden!“ (Gedichtschluß). Hinzugefügt könnte werden: jetzt ungeschminkt (vs. „schöngeschminkt […]“), auch ohne Rücksichtnahmen, steckt doch „Der Splitter eines jeden / Im Aug des andern!“
Das Langgedicht „Tag im Februar“ (MeV, S. 69–74) erwähnt das Problem des Schreibens, hier hineingestellt in ein Zeitbild besonderer Art. Schreiben sei heute „keine Botschaft mehr“ (S. 69), auch gelänge ab und zu „noch ein Vers, / Der schön ist und / Doch nicht verlogen. // Von der Wahrheit will ich nicht reden“ (S. 71). Was wichtig wäre, wenn, wie Hölderlin es formulierte, „das Reich der Finsternis / Mit Gewalt einbrechen will“ (S. 74, Hervorhebung im Original), wenn in Anbetracht des uns den Atem Benehmenden,126 des Lebens „im real existierenden Dunst“ (S. 73),127 die ,Zuspitzung‘ von Demokratie Ernst genommen würde – „Wir brauchen die Demokratie / Wie die Luft zum Atmen. (Gorbatschow) // Und die Luft zum Atmen / Wie die Demokratie. (Czechowski)“ (S. 73) –, dann müßten wir etwas tun:
die Feder unter den Tisch [werfen]
Und gehen dorthin,
Wo die Not am größten ist. (S. 74, Fortgang des Hölderlin-Zitats,128 Hervorhebung im Original)
Es ist sicher ein Jammer, daß so etwas bloß „Zitat“ bleibt, daß der „Sermon“, diese Predigt, nicht umgesetzt wird in ein politisches Tun (S. 74, Schlußpassage).
In spezifizierter Form erscheint Umwelt, erscheint ,Ökologisches‘ auch im Gedicht „Im Allgemeinen“ (MeV, S. 84f.) und in „Industrieviertel P.“ (MeV, S. 86–88).129 „Im Allgemeinen / Geht es uns gut, nur die Natur / Läßt uns mitunter erblassen“, mit dieser Feststellung beginnt der erste Text. „Feuchtbiotop[e]“ – „niedergewalzte […] / Äcker oder ein Stück / Landschaft am Collm“ – schließen sich um uns als „grüne Schlinge“,130 „wo nicht / Die Industrie uns unserer Sinne / Benimmt, tut es / Die Gülle“ (S. 84). Für das Schreiben eines „grüne[n] Gedicht[s]“ ist es schon zu spät, ist die Situation doch die:
Mitunter
Erreichen uns noch
Kartengrüße lügender Fotografen:
Heile Dächer, Heile Welten, Gleich
Der Sortenreinheit Polierter Früchte
Auf Bilderbuch-Märkten:
Die Zukunft
Ist schon Geschichte.
(S. 84f.)
Etwas Gespenstisches erscheint in „Industrieviertel P.“: Ein Kraftwerk (am „vergammelten Teich“) als „rauchende[s] Monstrum […] zur dreischichtigen Fabrikation / Vierpfündiger volkseigner Fische“. Hinter den „uralten Mauern“ ist „das Keuchen der Werktätigen“ zu hören, „alles / Idealische Typen, fast / Wie in Mickels Gedichten“ (S. 86). Sie „schufteten im Schweiß ihres Angesichts“, vertrieben immer wieder die Ratten, die sich „Der auf dem Fließband liegenden Fische / Bemächtigen wollten“, in ihren Augen „Warn hundert Jahre / Als wie ein einziger Tag“ (ein Treiben, das „Lehmann“ [lt. Anm.: „Kapitalist, Begründer des Industrieviertels Leipzig-Plagwitz“] von seiner Zinne „Mit großem Vergnügen“ sah) (S. 86f). Ins Bild gebracht ist eine ins Abstruse gehende/getriebene Industrialisierung der Industrialisierung (eine Höchstform von Kapitalismus), ironisiert-gesteigert noch mit dem zugestandenen „Blick / Ins Innerste“: auf „Leisten und Drähte“, bereit liegend, „Der Fische Gerippe zu biegen, und das / Auf Maschinen, / Die alle einer sehr fernen Zeit angehörten“ (S. 87). Doch die Zukunftsplanung wird weitergehen: (in Klammern gesetzter längerer Textteil): Man kommt dahinter, daß „auch die Gräten / Entbehrlich sein werden“, und dann wird die Leipziger Volkszeitung berichten:
Die Werktätigen haben beschlossen,
Nur noch Fischpaste zu produzieren,
Erhältlich
Im DELIKATladen gleich um die Ecke, ein
Erzeugnis mit erhöhten
Gebrauchswerteigenschaften und auch
Als Schmiermittel gut zu verwenden.
(S. 87)
Das vor diesem Schauerlichen die Flucht ergreifende berichtende Ich bleibt zumindest heute noch ,bewahrt‘, denn der Plagwitzer Ratskeller hatte seinen Ruhetag (Gedichtschluß). Gesehen wird die Natur und ihr Elend131 –: „O nature morte“ (S. 87) –, die Natur als Verarbeitungs-Objekt, als Objekt für optimierte Arbeit, die mit dem angezielten Höchststand (im Gedicht die „Fischpaste“) umschlägt ins Widersinnige, weil nicht mehr der Arbeit und dem Technik-Aufwand entsprechend. Der Text ist lesbar als Gegen-Bild zu Mickels Gedicht „Der See“.132 Ist dort eine optimistische, in diesem Falle gewalttätig produktive Einverleibung von Natur ins Bild gebracht, erscheint hier eine ,Entleibung‘ der Natur, der Tod der Natur in fragwürdiger Gebrauchswert-Optimierung.
Zu der Reihe ,politischer‘ Gedichte dieses Bandes – mit durchaus wechselnder Direktheit und unterschiedlicher Brisanz – rechne ich bereits ein Gedicht wie „Damals“ (MeV, S. 10), auch wenn hier anscheinend nur Jugenderlebnisse berichtet werden. „Damals“, in der Kinderzeit, als von vielem „noch nichts“ gewußt wurde (Gedichte, Mädchen und Frauen) oder „kaum etwas“ (Gott) und „Nicht viel / Von Stalin, doch vielleicht etwas mehr / Von Hitler, Goebbels und Göring, / Damals / War alles anders als heute […]“. Und „lange noch“ standen Wracks und Erinnerungen direkt vor Augen. Im Rückblick erst wird dem sprechenden Ich klar, daß „Damals“, als „die Russen im Lager die langen / Sommernächte hindurch melancholische Lieder“ sangen, als „Alles noch offen schien“, „der dritte Krieg schon verloren [war]“: in der politischen Bedeutung nicht erkannt (nur gespürt „in unserer Küche“), markierten die „Rosinenbomber“, die unsichtbar „während der Stromsperre“ die Stadt überflogen,133 um das bedrohte West-Berlin zu versorgen, die Festschreibung der Machtverhältnisse und damit den Verlust des Kalten Krieges auf dieser Seite.
Eingeleitet von einer brisant formulierten Zeile – „Lenin, die rote Ikone“ –, erzählt „Dorfanger Leipzig-Probstheida“ (MeV, S. 89), daß Lenin auf dem Fahrrad die nach 1945 errichtete „Iskra-Gedenkstätte“ besucht, den Ort, an dem er diese 1900 gegründete sozialistische Exilzeitschrift – Iskra (dt.: Der Funke) – bis 1903 geleitet hat,134 und dort sich mit dem Genossen Bebel „in ein Gespräch / Über die Zukunft [vertieft]“. Böse das Iskra-Motto – „Aus den Funken wird die Flamme schlagen“135 – verkehrend, heißt es weiter:
Tatsächlich
Der Funke sprang über: rötlich
Leuchtet die brennende Stadt
Ausgerechnet einem hinzukommenden Pfarrer [allerdings einer traditionellen Instanz für die Betreuung von Ikonen] wird die an Lenin gerichtete Frage in den Mund gelegt:
Was
Halten Sie von der Ironie der Geschichte?
Lenin,
Müde geworden von all den Jahren
Als Schneewittchen im Glassarg,
Winkt ab: Nähere Auskünfte
Erteilt jetzt die Prawda.
Das ist eine „Ironie der Geschichte“, wenn der zu seiner Leipziger Zeit revolutionäre Lenin, der im Glassarg im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau zur angebeteten „roten Ikone“ Gewordene, für die Geschichte verweist an die Prawda (dt.: Wahrheit), das einstmals revolutionäre Sprachrohr der revolutionären Bolschewiki, jetzt zum offiziellen, ideologie-bewachenden Sprachrohr der KPdSU erstarrt. Dem folgen die beiden, in meiner Sicht auch resignierenden, Schlußzeilen:
Sputnik,
Zieh deine Bahn: dalsche, dalsche… (Hervorhebung im Original)
Sputnik (dt.: Der Weggefährte) zieht seit seinem Start am 4.10.1957 als erster Satellit überhaupt seine Bahn. Bei allem damit demonstrierten technischen Fortschritt ist sein „dalsche, dalsche…“, sein ,weiter, weiter…‘136 bloß eine im Umkreisen der Erde sich ständig wiederholende mechanische Bewegung, – grundverschieden von dem einst mit Iskra und Prawda, mit dem Oktober 1917 vom Gefährten Lenin vorgezeichneten Weg, jenem hoffnungsvollen revolutionär-politischen Fortschreiten hin zur Befreiung der Menschheit aus ihren gesellschaftlichen Fesseln.
Ein politisches Gedicht mit ganz anders formulierter Deutlichkeit ist „Ein bißchen zuviel“ (MeV, S. 31–33). Hier stellt sich ein „Ich“ einem „Ihr“ („eure“) gegenüber mit kritischen Lage-Befragungen, da es „das Staunen / Noch nicht verlernt [habe], darüber, / Daß Millionen / Euren täglichen Anblick / Ertragen“ (S. 31, Eingangsstrophe). Es akzeptiert durchaus deren „Vergangenheit“ und „Verdienste“, fragt aber „unter uns“:
Ist das wirklich
Alles so auffällig
Oder ist nicht ein Achtstundentag
In Bitterfeld oder Leuna
Auch nicht von Pappe?
(S. 31)
Es sagt nicht, daß „Ihr“ die Sprache erfunden hättet, „Die unsere Zeitungen füllt“, wehrt sich aber gegen deren Verlangen, „für all das / Auch noch geliebt [zu] werden“ (S. 31f.). Mit Verkehren eines Rilke-Satzes wird resümiert:
Nicht alles Schreckliche
Ist der Anfang des Schönen.137 (S. 32)
Das Versprechen schöner Zukunft ist keine Rechtfertigung für Schreckliches auf dem Weg dorthin. „Noch immer“ zu glauben, hier das Sagen zu haben, sei zu einfach:
Eure für heute und morgen
Gepachtete Wahrheit
Ist vielleicht
Nur jene von gestern.
Aber sie ist
Auch nicht die jener Ahnen,
Auf die ihr euch immer beruft.
Und vielleicht sind die,
Die heute zu reden begehren,
Jene,
Die morgen gehört werden?
(S. 32)
Daß „Andersdenkende“ auch hier anders denken, trotz der Stasi,138 sollte bedacht werden; die Situation sei schließlich die:
Geschlagen
Von den eigenen Losungen
Euerer Toten
Hinkt ihr an der Spitze des Zuges,
Der Zeit
Hinterher.
(S. 33, Schlußstrophe)139
An der Spitze des Zuges der Geschichte (oder wie Czechowski es an anderer Stelle formuliert: des „Zug[s] der Millionen“) sich meinend auf Grund der Philosopheme der Ahnen,140 der Marx, Engels, Lenin, hinken sie, belastet von beanspruchter Wahrheit, besiegt von der Zeit, hinterher. Eine auch in einer Westpublikation seinerzeit nicht ungefährliche Aussage, ist doch trotz ihrer weiträumigen Formulierung durch die Nennung von Bitterfeld und Leuna der DDR-Bezug voll gegeben.
Der neueste, sehr umfängliche Band Nachtspur bringt, wie der Untertitel angibt, „Gedichte und Prosa 1987–1992“. Trotz der teilweisen zeitlichen Deckung mit den 89/90er Sammelbänden halten sich die textlichen Überlappungen in engen Grenzen. Gegliedert ist Nachtspur nicht nach der Entstehungszeit der Texte, vielmehr nach Lebens- und Erfahrungsabschnitten, gesehen in den meisten Fällen aus dem angegebenen Zeitraum. Sie werden präsentiert in den Teilen I–VII ( ein Beitrag gibt jeweils den Titel). Diesen vorangestellt ist die kurze Prosa „Dunkler Tag. Dresden, 13. Februar 1990“; den Schluß bildet die längere Prosa- Vers-Komposition „Im Schatten des Denkmals“. Eine Erinnerung an Dresden, die Stadt der Kindheit und Jugend, am 1. Gedenktag ihrer Zerstörung im 2. Weltkrieg nach der ,Wende‘ leitet ein, Gedanken über das Völkerschlachtdenkmal und Leipzig, den heutigen Schreib-Ort Czechowskis, beenden den Text-Komplex.
„Dunkler Tag“ (Nsp, S. 9–12), der Auftakt, bestimmt auf eine eigene Weise den „markanten Punkt“ (S. 10) dieses Bandes. Bei einem abendlichen Gang durch die Straßen der Kindheit erfährt der Besucher, daß Dresden in der Tat eine „im Feuer versunkene Stadt“ ist (S. 10). Schien es nach Kriegsende in den Aufbaujahren eine Hoffnung zu geben, das Kreieren einer „Weltmacht“ durch die Oberen führte nur „das Land in die Pleite“: „Der Hochmut der Leute, die sich Marxisten nannten, gab dieser Stadt keine Chance“ (S. 11). Auch die „Revolution“ ist eine Täuschung; „Während die einen zu retten versuchen, was nicht mehr zu retten ist, schachern die anderen um einen Leichnam“ (S. 10). In dieser Situation muß wieder einmal gelernt werden zu begreifen: „Es gibt keine Hoffnung, außer der in uns selbst“ (S. 11). Von mir verstanden als: es gibt keine Hoffnung als solche, keine irgendwo draußen, nur die, die wir in uns, aus uns erzeugen, denn „Das Dunkel, das mich umgibt, kennt keine Grenzen“ (S. 11, Schlußsatz).
Die diesen Band schließende und zugleich Ausblick bietende Text-Komposition „Im Schatten des Denkmals“ (Nsp, S. 301–311) erscheint als doppelsträngige Anlage: die lyrischen Partien artikulieren die Schatten, die das Völkerschlachtdenkmal bis heute wirft (bereits einsetzend mit: „Halbruinen auch hier. Und der Totenbunker / Hoch überragend den Ort“ [S. 301]); die umfänglicheren Prosateile diskutieren jüngste Vergangenheit und Gegenwart. Beide werden zusammengehalten und mitbestimmt vom Motto, in dem es – 1913 – von der Völkerschlacht heißt, sie habe „die deutschen Stämme wieder zu einem Brudervolke [vereinigt]“ (S. 301, Hervorhebung im Original). Beide Stränge arbeiten mit der Zeichenhaftigkeit des Leipziger Denkmals.
Bezeichnend für die Art der Diskussion politischer Verhältnisse, doch auch der Sprachführung im Prosa-Strang ist ein Teil, in dem von dem Stadtviertel, in dem das Denkmal steht, gesagt wird, daß es wegen seiner günstigen Lage („abseits der Urbanität des Verfalls“ [S. 305]) auch heute „eine Zukunft“ (S. 304) habe. Mit diesem Viertel verbindet den Verfasser eine Haßliebe: Obwohl er dort nie heimisch geworden sei, habe er sich immer wieder dorthin gesehnt. Dann folgen die Sätze:
Wir ehemaligen DDR-Bürger waren ja auf solche Geborgenheitsgefühle angewiesen, denn bekanntlich waren wir Nischenbewohner. Das Viertel, in dem die Wohnung lag, die Höhle, die wir jetzt zu verteidigen haben gegen die vom Westen Andrängenden, die bezahlen werden, was wir bald nicht mehr werden bezahlen können, war das Terrain, das uns unserer Identität versicherte, die wir nun mit einer Mobilität werden vertauschen müssen, die uns fremd ist. (S. 305)
Das alles ist eingebettet in zwei lyrische Teile. Wenn es im ersten heißt, daß von den den Ort umzingelnden Dörfern nur „Zeichen / Der Anstrengung und / Der Vergeblichkeit“ geblieben seien, gefolgt von den Worten: „Trauer, mein Wort, / In die Steine geritzt, dahinter / Ein Feldweg in Sachsen […]“ (S. 304), dann scheint mir das bei diesem Kontext auf eine bestimmte Lebenshaltung und nicht bloß Stimmung zu weisen: Trauer in Hinblick auf das in der Geschichte immer wieder, zumal auf Dauer sich zeigende Versagen der Bemühungen um anderes, Besseres. Daran anschließen dürfte der nächste lyrische Teil, der nach wenigen Zwischenzeilen den Titel von Schopenhauers Hauptwerk in Brechung benutzt:
Geschichte
Als Wille und Vorstellung, die Welt
Eine brennende Kugel […] (S. 305).
An späterer Stelle wird das fortgeführt mit:
Die Welt zerfällt
Sowieso, wie dieser Stadtteil, man muß
Schließlich kein Pessimist sein, um das
Zu begreifen
(S. 310).
Der folgende Prosateil verbindet dann die beiden vorgebrachten zentralen Begriffe mit dem Denkmal:
Das Denkmal hingegen thront, völlig mit sich identisch und von keinem Mobilitätsgedanken berührt, […] als Popanz über dem Viertel […].
Die Frage wird aufgeworfen, ob es wirklich die Deutsche Einheit symbolisiere oder ein Symbol sei, „das uns einschüchtern soll“ (S. 306). Die Zwiespältigkeit, auch Zweifelhaftigkeit seines Zeichencharakters klingt bereits an in dem Hinweis, daß 1813 die Sachsen „auf der falschen Seite standen und nicht zu den Siegern der Geschichte gehörten“ (S. 306), kommt verstärkt hervor, wenn erinnert wird an das massenhafte Zusammenströmen der Leipziger zum „militärische[n] Spektakel mit anschließendem Höhenfeuerwerk“ anläßlich des 175. Jahrestags der Völkerschlacht am 18. Oktober 1988. Die böse Zwischenbemerkung, hier hätten sie ihre Demonstrationslust vom Herbst 89 vorweggenommen, wird mit der Schlußbemerkung noch überboten:
Wenn nationales Monument, dann vielleicht das der Unmündigkeit des Volkes, eines Volkes, das 1813 dem Ruf seiner Fürsten folgte, wie es sich mit der Losung „Wenn die D-Mark nicht kommt, kommen wir“ der Hoffnung auf den Wohlstand unterwarf. (S. 307)
Zumindest benennt das die einstmals reale, gelebte Widersprüchlichkeit. Das Problematische von ,Wohlstand‘ läuft im Text weiter mit. Bei der – offen gelassenen – Antwort darauf, „was ich verloren habe“ (S. 310), taucht der Nischen/Wohnort-Gedanke des Anfangs wieder auf beim Hinweis auf die geplante Sanierung des Wohnviertels, hier als gewisse Gefährdung zu verstehen. Wenn versucht wird, „Noch einmal / […] alles / Auf einen Nenner zu bringen“, wird direkt und sprachlich auffallend fortgefahren:
auf den Strich
Der Witwen und Rentner
(S. 310).
Zu dem angekündigten Auf-den-Nenner-Bringen führten Fragen wie:
Hat die Vereinigung das Leben im Schatten des Denkmals verändert?
Habe ich mitsingend im sächselnden Chor WIR SIND DAS VOLK / WIR SIND EIN VOLK gefunden, was ich suchte? (S. 310)
Das Wort „Nenner“ wird aufgenommen für die Formulierung der feststellenden und doch offen lassenden Aufforderung, die den auf Prosa und Verse verteilten Schluß einleitet:
Nenn mir das Land,
Das sich vergewissert, um wieder
Ein Land zu sein…
(S. 310, Hervorhebung und Punktierung im Original)
Das Land – so verstehe ich die Schlußpassagen –, das sich vergewissert, was solch Ein-Volk-Sein beinhaltet, welcher Inhalt seiner neuen Identität zu geben ist, kann das (auch noch den Sprecher überlebende) Denkmal „noch einmal zum Symbol von Deutschlands Einheit und Größe erheben“ (S. 311), könnte sich aber auch (vom Sprecher erhofft) für die Ruine der Dresdener Frauenkirche als Symbol entscheiden: das wäre eine Identifizierung, die Mobilität brächte, weil die damit aufgerufene deutsche Geschichte mit NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg den notwendigen Hintergrund lieferte für das Finden der Identität, „auf die es uns ankommt“ (S. 311 ), auf die es ankommen müßte. Diesen nüchternen Überlegungen folgt noch ein Vers-Teil, der den vorher erwähnten „Krieg, der gerade währt“ (S. 311), und das auf den Tafeln des Denkmals verkündete große Jahrhundert („Auferstehung / Einprogrammiert“) bildhaft macht: eine ins Schleudern kommende Geschichte, Karambolagen, Grabenkampf, ein „Letzter Gruß / Aus der Flasche“. Das Bedrohliche steht, besteht (schon durch diese Text-Konstruktion), auch wenn man die abschließenden Zeilen:
Der Totenbunker
Verweigert sich uns. Einziger Ort
Zum Aufbruch in die Vergangenheit:
Wüste Mark Kolmen141 (S. 311)
nicht liest als weitere Verschärfung, sondern im angedeuteten Verweigern die Chance sieht, nicht in diese Vergangenheit aufzubrechen und sich damit in ein Abseits zu stellen.
Was bei „Im Schatten des Denkmals“ angelegt ist mit dem durch Gedichtblöcke gegliederten Text: die Wechselwirkung von (nüchternem) Bericht und (überhöhtem) Bild, ist in dem einen Monat später datierten, im Band in der Mitte stehenden, „Eine Rede“ genannten Text „Von der DDR nach Deutschland?“ (Nsp, S. 166–172) durchgängige Praxis. Auch hier gibt es (gegen Ende) eine kritische Einschätzung der Vorgänge:
Die Demonstranten von Leipzig, auf die Straße gegangen, um zu ihrer eigenen Stimme und zu ihrer Selbstbestimmung zu gelangen, durften nur ein paar armselige Wochen glücklich mit dem Gedanken leben, selbst das Volk zu sein… Vom Olymp der Selbsttäuschung blicken sie indessen von das von der Journaille so getaufte TAL DER TRÄNEN. In aller Unschuld haben sie sich eingeredet, mit der D-Mark käme auch ihr Glück. (S. 170f., Hervorhebung und Punktierung im Original)
Dem geht der Gedanke voraus, daß wir, „Statt die Welt zu interpretieren“, uns vermessen hätten, „sie bis zur Unkenntlichkeit zu verändern“:142 Wir hätten uns „eine fragwürdige Vernunft zum Leitgedanken des Fortschritts“ erwählt, Göttern geopfert namens „Lenin, Hitler und Stalin“:
Und doch begehrten wir unentwegt, nicht schuldig geworden zu sein (S. 169).
Wir hätten dem Gründerjahregeist abgeschworen, „der uns unsere Städte zersaute“, doch „dem Eigenheim und der Datsche, die die Länder unter dem alten Motto ZURÜCK ZUR NATUR zerstören“, seien wir „höriger denn je“. Dem folgt unmittelbar die auf größere Zusammenhänge abzielende Frage:
Und das, was jetzt mit der ehemaligen DDR geschieht: die Heimholung von 16 Millionen aus dem Scheinreich des Sozialismus in das der ursprünglichen Akkumulation143 – ist es nicht die Strafe des Weltgerichts, das die Moderne über uns verhängt hat? (S. 169)
In dieser „Rede“ (Zusatztitel)144 geht es trotz der so direkt wirkenden Titel-Frage „Von der DDR nach Deutschland?“ nicht um einzelne Probleme der Einbeziehung der DDR in ein größeres Deutschland, zum Vorgang selbst und/oder zum neuen Staatsgebilde, vielmehr erscheint dieses Ereignis – bei aller Singularität – als Teil weiträumigerer Verhältnisse. So heißt es, daß der Pessimismus der Geschichte, den wir uns angesichts der Aussichtslosigkeit unserer Bemühungen um eine bessere Welt anempfahlen, keine nur dem real existierenden Sozialismus geschuldete Enttäuschung gewesen ist. (S. 168)
Er ist der „Armseligkeit unserer Existenz“ geschuldet (S. 168), der „unausdenkbaren Leere“, mit der wir es (als Menschen) zu tun haben (S. 167). Selbst alle großen Kunstwerke seien nur „Satiren“, „Nachspiele der großen Haupt- und Staatsaktionen, die sich wirklich ereignet haben“ (S. 167), sind, so möchte ich das formulieren: Widerspiegelungen, Reaktionen auf das, was sich realiter und damit unwiderruflich als ,Geschichte‘ ereignet hat.145
Das „Es soll nicht sein“ (S. 167) ist für das Rede-Ich das einzige Thema der Kunst, ein Rückverweisen auf die „Ohnmacht, von der wir uns außerhalb der Kunst kein Bild zu machen vermögen“ (S. 167). Es ist ein Aufbegehren der an Vernunft sich klammernden „innere[n] Stimme“ (S. 167), Widerstand gegen den „Irrationalismus der Geschichte“ (S. 166). Wir können das vernehmen als „Totenklage des Bewußtseins“, – sofern das nicht zu einem „falsche[n] Bewußtsein wird“, das die Staatsmänner und Politiker uns zu oktroyieren versuchen und das wir auch – „jeweils für einen Moment getäuscht und [uns] selber täuschend“ – glauben:
dieser, der nächste Schritt, sei der unvermeindliche und beste (S. 167).
Diese Sicht auf allgemeine menschliche Verhältnisse ist mitzudenken, wenn im Rede-Text dem anfangs von mir Zitierten über die Selbsttäuschung der Leipziger Demonstranten in bezug auf ihr ,Glück‘ der (bittere) Satz folgt:
Sie hätten jedoch wissen können, daß das Glück nur im Dauerfrostboden der sibirischen Taiga zu finden gewesen wäre (S. 171).
Das danach eingefügte Gedicht „Pirsch“ verwortet auf seine Weise die Fehl-Einschätzung betreffs menschlichen Handeln-Könnens, vernünftigen In-den-Griff-Bekommens von Zukunft: das auf ein Schlüssel-Wort wartende Ich sieht,146 den Blick erhebend, „ins Auge der Vergangenheit“,
[…] Ich,
der ich mich auf der Jagd
nach der Wahrheit gewähnt,
war der Gejagte: im Wald voller Bäume
versteckte ich mich
vor dem Tod.
(S. 171f.)
Der „Schritt der Jahrhundertmitte“, wie ihn Johannes R. Becher einstmals mit optimistisch-einfacher Bild-Vorstellung meinte wiedergeben zu können147 – „,Die Welt will blühen, blühen / So bunt wie nie zuvor, / Und neue Sterne glühen. / Kühn steigt der Mensch empor‘ (Becher)’“ – ist „zum Text eines schlechten Schlagers verkommen“. Eine „neue Zeit“ ganz anderer Art „ist angebrochen“ (S. 172).
Die Rede endet mit einem Hölderlin-Zitat:
Finden Sie an diesen meinen Gesinnungen etwas Fehlerhaftes, so bitte ich Sie, mir solches zu entdecken. Ich schließe also und verbleibe mit aller Hochachtung
Dero
gehorsamster Diener
Hölderlin.
(S. 172, Hervorhebungen im Original)
Man kann diesen Briefschluß148 als floskelhafte Hinwendung an den Zuhörer, den Rezipienten dieser Rede lesen, in der sicher „Gesinnungen“ zur Sprache gekommen sind. Man könnte das Aufgreifen Hölderlins (schon zu Anfang neben Kafka und Büchner genannt, in der Mitte durch Hinweis auf Hyperion) weiter parallelisieren, wird in dem Brief des jugendlichen Hölderlin doch nach Rückblick auf das bisherige wankelmütige, auch selbstgefällige Betragen eine neue, aufrichtige Lebenseinstellung angekündigt.
Der Rede-Text steht fast am Ende des im ganzen disparat wirkenden Teils V, der den Titel „Gestörte Verhältnisse“ nach seinem letzten Gedicht trägt. Was ihn in meinen Augen zusammenhält, ist eine nicht zu überhörende Skepsis, die auch nicht übersehen werden kann, da sie sich in einzelnen Gedichten sogar in der Art der Text-Präsentation zeigt.
Der Teil setzt ein mit „Variationen, Seeburgstraße“ (Nsp, S. 137f.) aus dem Jahr 1987. Hier wird der Zusammenhang zwischen den „schmalen Stirnen“ der Leute von der SED-Bezirksparteischule und dem Begriff „Frieden“ sprachlich durchgespielt („Die schmalen Stirnen, / Hinter denen der Frieden wohnt. // Der Frieden, / Der hinter den schmalen Stirnen wohnt. // Gut. // Aber wohnt hinter den schmalen Stirnen / Wirklich der Frieden?“ [S. 137, Gedichtbeginn]). Durch die ständige Wiederholung dieser Verbindung (achtmal insgesamt) wird die beanspruchte Einheit von Partei und Frieden fragwürdig. Das Gedicht schließt mit der Zeile, daß „auch der Frieden um jeden Preis“, die Bedingungslosigkeit dieses Anspruchs, „seinen Preis haben [wird]“ (S. 138).
Die Wende-Thematik im engeren Sinne beginnt mit dem Kurzgedicht „Die überstandene Wende“ (Nsp, S. 148), einer wortspielenden Aussage, lesbar als Hinweis, daß die „Wende„ erst „überstanden […]“ sein wird, wenn wir außer dem, was „hinter uns liegt, auch noch das „Hinter uns haben“, „Was vor uns liegt“ (Hervorhebungen G. L.).
In „Historische Reminiszenzen“ (Nsp, S. 151f.), datiert „Dresden, 19.12.1989“ (S. 152) – erster Tag des Dresden-Besuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl –, wird gewiesen auf „die Worte des Kanzlers“, die über den Platz ( vor der Ruine der Frauenkirche) fliegen, der das sprechende Ich auch erinnert an „Die Rufe der Masse“ und an die Toten, „die / Auf diesem Pflaster verbrannten„. Die Erinnerung bringt noch mehr hervor: Versprechungen aus DDR-Zeiten tauchen auf – „Was hat man uns nicht alles eingeredet: / Daß uns Monokulturen bekömmlicher sein sollen / Als Vielfalt und daß die Versteppung der Landschaft / Erst deren wahre Schönheit / Uns offenbare“ – und bilden den Hintergrund für die heutigen Versprechungen:
[…] Heute, so scheint es,
Ist auch so ein Tag,
Wo man uns einreden will:
Nun wird alles gut! […]
Versprochen wird „Den Skeptischen Mut, / Den Trauernden Freude und selbst / Noch dem Folterknecht eine / Auskömmliche Rente“.149 Doch auch: „Die Schnellbahnstraße,150 / Ein dichteres Telefonnetz, mehr Fernsehkanäle“ und vieles andere mehr – „Kostspielig / Und doch erreichbar für jedermann“ (S. 151). (Für mich klingt das wie das Versprechen in Heines Deutschland, ein Wintermärchen: „Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen!“ [Caput I, Vers 45f.].) In der „dreimal zerstörten Stadt an der Elbe“151 zieht jetzt die „Dresdener Bank“ Bilanz,
[…] während das Volk
Sich zu zerstreiten beginnt um seinen Anteil
An einer Ordnung, von der niemand weiß,
Wer nun den Kopf hinhalten wird
Für die Vergangenheit des immerwährenden
Historischen Augenblicks.
Demokratischer Aufbruch
Ins Niemandsland zwischen
Gestern und Morgen.
(S. 151f.)
Der ,historische Augenblick‘152 ist hier nicht nur zu sehen als Besonderheit, Erhabenheit eines bestimmten Augenblicks, sondern auch in seiner Historizität: Was wird sein, wie wird es stehen mit den historischen Augenblicken, wenn sie zu einer Zeit-Reihe, zu ,Vergangenheit‘ werden und dann zeigen, was in ihnen steckte, genauer: was aus ihnen gemacht worden ist? Der als nüchterne Feststellung lesbare letzte Satz enthält auch Fragwürdiges in Bezug auf den „Demokratischen Aufbruch“, war doch bei dieser „Reminiszenz“ die Rede von Bank-Bilanzierung und vom neuen Streit des Volkes, wurde gesprochen von den „Eisernen Kanzlern“ (S. 151), womit Kohl in Verbindung zu Bismarck gebracht wird, dem ,Einheits-Kanzler‘ des alten Deutschland (preußisch-nationaler Couleur).
Das Prosagedicht „Es geht weiter…“ (Nsp, S. 158f.) arbeitet (mehr skeptisch als hoffnungsvoll) mit dieser Formel, ist mit ihr aufgebaut und auch strukturiert:
Es geht weiter, daran ist nicht zu zweifeln. Immer / Ist etwas weitergegangen. Auch / Die Reimwörter Wende und Ende / Haben noch ihre Bedeutung. / Es wird also weitergehen. /[Anfangszeilen]153
So geht es auch weiter mit der Kunst, mit den Parteien:
Endlich
Hat ja der Widerspruch seinen Widerspruch.
Also
Geht auch die Dialektik
Nicht an sich zugrunde.
Es ist beruhigend,
Daß es weitergeht: mit uns,
Mit dem Staat,
Mit den Politikern,
Die uns nicht
Im Stich lassen werden,
Wenn wir sie fragen,
Wie
Es denn weitergeht.
Auch in der Geschichte ging es immer weiter: mit Bismarck, mit dem Kaiser:
Hitler,
Ich gebe es zu,
War ein peinlicher Zwischenfall,
Doch kein Beweis,
Daß es nicht weiterging. Denn
Es ging wieder weiter:
Aus den Ruinen
Blühten uns neue Ruinen, der Fortschritt
War unverkennbar: Wir
Bauten eine der besten
Mauern der Welt.154
Dann sind wir, das Volk, „weitergegangen, als wir je zu träumen gewagt“, weitergegangen seien aber auch die „Widergänger“. Deren Charakterisierung erfolgt im Bild einer Uhr, doch mit unerwartet gegenläufigem Begriffsgebrauch, was die politische Links-Rechts-Einteilung betrifft, und endet mit einer sich offen gebenden Frage:
Linksherum gehen die Wiedervereiniger, rechtsherum die,
Denen die Uhren nicht schnell genug gehen.
Doch geht nicht vielleicht
Einiges zu schnell?
(S. 159)
Ein vorläufiges Fazit scheinen die Schlußzeilen zu bringen, in die der Refrain-Beginn von Brechts „Solidaritätslied“ doppelsinnig aufgenommen ist, als Kennworte des (nun überwundenen) Sozialismus, doch auch verwendbar für die heute notwendige Grundhaltung:
Was hinter uns liegt,
Ist die Botschaft von gestern:
VORWÄRTS UND NICHT VERGESSEN,
Hieß es
Im Lied des breitgetretenen Quarks,
Durch den wir marschierten.
Mit endlich geöffnetem Mund
Schreie auch ich: WIR
SIND EIN VOLK! So
Geht es weiter.
(S. 159, Hervorhebungen im Original)
In „Brief nach L.“ (Nsp, S. 159–161), datiert „3. Oktober 1990“ (S. 161), überdenkt das Ich am Vorabend der Vereinigung von BRD und DDR die Situation:
[…] Tränen, Liebste,
Werden in dieser Nacht
Fließen, Tränen,
Von denen niemand
Weiß, was sie bedeuten.
(S. 160)
Die Parallelisierung dieser Feier mit Weihnachten, diesem „verlogene[n] Fest“, führt zu der betonten Aussage: „Nein, / Ich sage ja nichts / Gegen die Wiedervereinigung / Der so lange Getrennten. Nein, / Ich bin einverstanden […]“ (S. 160), dann aber auch zu: „Unser Gewissen / Hat seine Stimme verloren, doch so, / Merken wir plötzlich, / Geht es ja auch“ (S. 161). Die Schlußpassage lautet:
[…] Ich
Bin immer noch ich, unverwandelt
Werd ich ins kommende Jahr gehn.
Ich pflanz keinen Baum. Ruhig
Werd ich sogleich
Die Straße betreten,
Furchtlos.
(S. 161)
Ich sehe darin einerseits eine Bestätigung dieses Ich (mit indirekter Ablehnung der üblich gewordenen Suche nach der eigenen Identität in den neuen Verhältnissen),155 andererseits ist der Schlußsatz mit der so ostentativ herausgestellten Furchtlosigkeit doch wohl eher Camouflage für eigene Unruhe und Furcht angesichts der vorgebrachten Bedenklichkeiten, was auch das behauptete Unverwandelt-Sein doppeldeutig macht.156
Eine Leichenrede besonderer Art ist das mit Hexametern einsetzende Gedicht „Epitaph“ (Nsp, S. 149), geschrieben für einen, der bisher dem Schreibenden trotz anderer Meinung „keinen Schmerz bereitet“ hatte, der aber jetzt, bitter ironisch formuliert, dessen Beifall bekommen muß: Ist er doch abgesprungen „vom Zug […], der noch fuhr“, sitzt wieder im Sessel, den er sich „im Clinch der Positionen / Errungen“ hat (gereimt mit „muß sich lohnen“). Das noch betonend und eine Redewendung (böse) abwandelnd, heißt es:
Das Reich der Freiheit naht…
Ja, da muß einer sein, der über Schwellen geht
Und weiterschreibt, was gut verkäuflich ist.
Ihm komme zu, „daß du dort oben bist“ (reimend und rhythmisch parallel zu „gut verkäuflich ist“),
Wo jene fehlen, die sich nicht so lieben.
Du hast den neuen Text schon in der Hand.
Aus gleicher Einstellung wird im Prosastück „Es ist Zeit“ (Nsp, S. 154f.) die „einen redlichen Begriff [schändende]“ „,Trauerarbeit‘“ derjenigen Schreiber attackiert, die „von der Revolution überrascht“ worden sind wie das Volk, aber anders als dieses nur um ihre Pfründe bangen, um ihre Fähigkeit fürchten, „weiterhin auf dem Seil tanzen zu können“ (S. 155).157
Alles in allem: das zeigt „Gestörte Verhältnissse“, wie das titelgebende Lang-Gedicht dieses Teils V (Nsp, S. 177–179) das nennt und vorführt mit dem Ineinander, dem Durcheinander verschiedenster Mitteilungen, Vorstellungen, Überlegungen des Sprechenden über sich und sein Schreiben und dem von Kollegen, über die Situation in Leipzig, im Land überhaupt. Das erfolgt z.T. unter Verwendung marxistischer Begriffe, abgewandelt gebraucht oder in andere Kontexte gestellt, gegen Schluß das zu dieser Zeit gebräuchliche Bild aufnehmend vom abgefahrenen Zug, der bereits gefallenen Entscheidung in die eine Richtung deutscher staatlicher Vereinigung.
Das Gedicht setzt bereits, bezeichnend für die Verhältnisse, ein mit:
Abendsmog. Die dunklen Straßen in Stötteritz158 und Umgebung
Erhellt von den neuen Reklamen, von Fledermäusen umschwirrt,
Frisch aus Pandoras Büchse.
(S. 177)
„Fast alle“ Dichter hätten „Ihre Vergangenheit gut im Paket / Des gewöhnlichen Stalinismus verschnürt. / Weggesteckt / Wird das Gift der geschlossenen Gesellschaft“ (S. 177). Der ,real existierende Sozialismus‘ ist somit abgeschoben auf einen bekannten Schuldträger, dem damit auch entsprechende Verantwortung zufällt (mit ironisierter Bandbreite von „gewöhnlich“). Im sprechenden Ich dagegen bringen „die gestörten Verhältnisse und meine / Schlaflosen Nächte“ die „Gegensätze zum Reden“:
[…] auch ich
Entrichtete meinen Obolus an die Macht und auch in mir
Lebt ein Stück von der Seele Berijas. Aber auch jetzt
Lasse ich mir von meinen Kollegen den Mund nicht verbieten.
(S. 178)
Ihm kommt keine Art von Wahrsagerei aufs Papier,159 statt dessen (mit Ironisierung marxistischer Begriffe),
Immer nur Übergänge, kleine Schritte
Ins Reich der Freiheit und der Einsicht
In das noch immer Notwendige.
Es gibt kein Zurück. Das
Gereicht mir zum Trost. Jetzt
Kann ich mir auferlegen, zu reden oder zu schweigen.
(S. 178)
Vielfältig und zwiespältig sind die umgebenden gesellschaftlichen Zustände. Zwar scheinen sich die „unaufhebbare[n] Gegensätze“ (einstmals als ,antagonistisch‘ begriffen) zu verbünden, doch die „Transmissionsriemen“ [sic!] „verkuppeln […] Freude und Leid, Polizei und Verbrechen“ (S. 178). Deshalb erscheinen Visionen eines künftigen Europa der „unversöhnbaren Gegensätze“ nicht hergeholt (S. 179). „Auf den Bahnsteigen / Steht frierend das Volk, das Staatsvolk, das Volk / ohne Staat“ (S. 179) . Das „schlechte […] Gewissen“ des Sprechenden richtet sich auf; er hört „Im Überfluß / Aller Nachrichten“ auf seine „innere Stimme“ (S. 178). Sein ihm ganz eigener, sein existenzieller „Zug“ – so begreife ich das – kennt trotz der gestörten Verhältnisse „sein Ziel“: die „engere Heimat“, den Bereich des persönlichen Sprechens.
Die so einschneidenden politisch-gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR werden in diesen Texten nicht dramatisiert. Wenn der große Einschnitt eher heruntergespielt erscheint, dürfte das zusammenhängen mit einer Skepsis gegenüber dem, was sich hier abspielt, in Anbetracht dessen, was aus Geschichte/Zeitgeschichte bekannt ist. Andererseits zeigt es auch die Kontinuität des kritischen Schreibens von Czechowski.
Der mit dem Dresden-Rückblick eingeleitete Band Nachtspur bringt in Teil I: „Der Garten meines Vater“, rückblickend auf die Kindheits/Dresden-Zeit, neben drei Prosastücken (darunter das den Titel dieses Teils tragende, alle bereits in AiF) das Gedicht „Spätsommer“ (Nsp, S. 20). Dort weiß das Ich „Heute“, daß „kein Weg zurück in die Freiheit [führt], / Die man uns versprach, / Als ich fast noch ein Kind war“. Das Gegenteil wird wahrgenommen (bezeichnet mit einem älteren Ausdruck):
In meinem Gedächtnis
Stehen die Wolken über den Gärten
Wie Prophetenbärte,
Während unten die Grüne Minna160
Vorbeifährt
(S. 20)
Teil II: „Und also zogen wir aufs Land“ behandelt in gewisser Weise die Jugendzeit und dabei das Kennenlernen der Landschaft der Lausitz und der Sorben.161 Für mich ist die Prosa „Ursula“ (Nsp, S. 40–42) der interessanteste Text dieses Teils. Er nimmt das Problem Hoffnung aus dem Vorspann „Dunkler Tag“ auf und formuliert sie an dem Kunst-Beispiel des Konzerts „An Ursula“ von Friedrich Gulda stärker aus, damit auch Stellung nehmend zu „Schwermut und Trauer“ (S. 40). Die vom Erzähler in dieser Musik wahrgenommene Hoffnung „war der Gesang der Ohnmächtigen und jener, die aus dem Wissen um das Widerspiel von Macht und Gewalt keinen persönlichen Vorteil zogen“, durch den sich habe ausdrücken lassen, „daß das Bewußtsein nicht auszuschließen war von seiner Teilhabe an Tod und Vergänglichkeit und daß es trotzdem nicht sein Recht verwirkt hatte, auch jenseits des Machtraumdenkens am Leben teilzuhaben“ (S. 41 ). Meines Erachtens ist das eine diskutable Aussage zur Frage von „Schwermut und Trauer“ (S. 40) und ihrer möglichen Positionierung.
Die Texte von Teil III: „Bild eines friedlichen Landes“ reichen von der Mitte der 80er Jahre bis 1989 und stehen konträr zur Überschrift. Das gilt bereits für das Titelgedicht (Nsp, S. 69) mit der aufgenommenen Jahreszahl 1987 (gegenüber dem Titel in SgT, S. 46),162 doch auch für „Vor vierzig Jahren“ (Nsp, S. 73f.; in SgT u.d.T. „Unterbelichtete Filme“, S. 47f.)163 und für das von mir bereits oben behandelte „Augenmaß“ (Nsp, 81; SgT, S. 56).164 Besonders auffällig sind die diesen Teil einleitenden kurzen Gedichte,165 lakonische Aussagen, die mit boshafter Ironie und treffenden Zuspitzungen den Gesamtton angeben, wie z.B. „Die Fische“ (Nsp, S. 57):
Die Fische sind bei uns stumm.
Ich weiß nicht,
Ob das woanders auch so ist,
Aber es ist zu vermuten.
Als ich meine Sprache
Verloren hatte,
War ich noch lange kein Fisch.
Als ich ein Fisch war,
Konnte ich sprechen,
Aber das
Glaubte mir nicht der Koch
Der Prosatext „Das Zwingende“ (Nsp, S. 87–89) bringt in Teil 1 (S. 87) eine aufschlußreiche Aussage zum eigenen Schreiben: Das „Zwingende“, das „meine Gedichte“ zu „meine[n]“ macht, sei „das Zwingende aller Widersprüche in meinen Gedichten“. In den „Räumen zwischen den Dingen“ wohne „das Nichts, der Gesellschafter“. Seitdem dem ein Name gegeben werde, sei das, „Was bleibt“, „die von Wort zu Wort, von Vers zu Vers, von Gedicht zu Gedicht sich fortschreibenden Aufhebungen“ (S. 87). Auch wenn gesagt wird, daß „Jede Ordnung […] eine Vergewaltigung [ist]“, kann, so meine ich, gefolgert werden, daß die durch solche Schreibweise erzeugte „Ordnung“ der Welt sich wesentlich von anderen, zumal politischen Ordnungen unterscheidet, daß sie etwas anderes ist.
In Zusammenhang mit dieser Schreibproblematik ist das mit 1989 datierte Gedicht „In memoriam“ (Nsp, S. 83f.) zu nennen, eine böse Kollegen-Abrechnung. Bissig zu nennende Bemerkungen über tote Dichter (G. Hauptmann, Joh.R. Becher), zu früh verstorbene (Brecht) und den für den Sprechenden schon längst gestorbenen „Charles Bukowski“, diesen „,Und-ich-hatte-ihn-fast-schon-drin‘-Barde[n] / Der frühen sechziger Jahre“, folgt die beruhigt klingende, alleinstehende Zeile:
Da ist es gut zu wissen, daß noch einige leben… (S. 83).
Ein erstes Umfunktionieren der Titel-Formel erfolgt mit der Reaktion auf die um Auskunft bittende Frage:
Und wen, Verehrtester, meinen Sie eigentlich? –
Ich seh mich erbleichen
Nach namenlos bleibenden Bemerkungen über in jüngster Zeit gesehene Autoren wird in der letzten Strophe die Formel vollends überzogen, wird sie gegenläufig eingesetzt:
Ja, sicherlich, doch nun schreibt er wieder
Am fünften Band seines Monumentalwerks „Der Friede im Osten“,
Zu Lebzeiten schon seine Unsterblichkeit lebend,
Einer, der sich zu Lebzeiten schon überlebte.166 (S. 84)
Mit Nennung eines zentralen Werks des Sozialistischen Realismus wird die Selbstüberschätzung seines hier nicht direkt genannten Autors, des zweifachen Nationalpreisträgers Erik Neutsch, entblößt, indirekt aber auch ein Stück offizielle Kulturpolitik.
Teil IV: „Rückreise“ bringt Gedichte und Prosa zu Reisen in der Zeit von 1986 bis 1988, vor allem ins westliche Ausland, Berichte vom so anderen, von anderen Städten, Landschaften und Lebensweisen, und damit Kontrastives zur DDR. Aus den häufig sehr personbezogenen, ich-verbleibenden Texten tritt das Langgedicht „Die Fähre“ (Nsp, S. 119–122), eine bearbeitete, manches verdeutlichende Fassung von „Charon“ aus SgT (S. 66–69) hervor, von mir in dortigem Zusammenhang behandelt. Das titelgebende Prosastück „Rückreise“ (Nsp, S. 93f.) bringt anläßlich des Grenzübertritts in die DDR bei einer Rückreise von Prag einige Reflexionen im Anschluß an die sich auf Gorbatschow beziehende Feststellung, daß „der Sozialismus – wir begreifen es wieder einmal mehr – zum wievielten Male nun eigentlich? –, […] seine Überzeugungskraft nicht bewiesen [hat]“ (S. 94). Die interessante Bemerkung, daß wir, „haben wir schon keine Utopie mehr“, „noch eine bestimmte Gewißheit [haben], wie wir uns die Welt nicht vorzustellen wünschen, hier in Europa zumindest“ (S. 94, Hervorhebung im Original), wird jedoch selbst nicht mit Fragen weitergeführt, bleibt es doch bei bloßer Nennung von ,dritter Welt‘.
Die Teile VI: Nachtspur und VII: Unstrutwärts bringen fast ausschließlich neueste, zwischen 1990 und 1992 datierte Texte.167 Es sind Überblick-Versuche über die neue Situation, Versuche Czechowskis/des Schreibenden, als Art „Chronist“168 die Zerstörungen dieses ex-sozialistischen Landes punktuell, partiell zu orten. Die frühere intensive Einbeziehung von oder sogar Zentrierung auf Geschichte/Zeitgeschichte tritt hierbei zurück gegenüber sehr konkretem Politisch-Gesellschaftlichem, das allerdings immer auch als etwas mit Vergangenheit Verbundenes erscheint.
Teil VI bringt eine ganze Reihe von Aussagen zur Problematik des Schreibens jetzt, heute, nach der Erfahrung dieses Umbruchs.169
Die nicht nur den Titel dieses Teils, sondern den des gesamten Bandes abgebende längere Prosa „Nachtspur“ (Nsp, S. 193–201) setzt ein mit Reflexionen Czechowskis über die Art seines Schreibens zu Beginn seiner Tätigkeit als 17. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim.170 Hinweisend darauf, daß wir Sätze zu bauen versuchen, „die den Bildern entsprechen, die wir […] in unseren Köpfen mit uns herumtragen“, zugleich darauf, daß „die Dinge“ keineswegs ortlos seien (später werden Beispiele angeführt, die z.T. bereits in Gedichten von ihm thematisiert wurden), erscheint ihm Schreiben jetzt als
der Ersatz für die nicht begreifbare Endlichkeit des Lebens. Zufälligkeiten, nach welchem Ordnungsprinzip auch aus dem Material herausgegriffen, das uns in seiner Unendlichkeit zur Verfügung steht. Also erfinden wir vielleicht eine Fabel, um etwas Stellvertretendes in den Griff zu kriegen, etwas, das eine ,Aussage‘ ermöglicht. (S. 194)
Diese prinzipielle Aussage läßt jedoch die besondere Selbstbetroffenheit nicht aus, die sich zeigt, wenn er bei Erwähnung der „guten Sitten“ (S. 198), die die DDR-Gesellschaft zusammengehalten hätten,171 die beiden möglichen „Abweichungen von dieser Norm“, „Dissidenz oder Privilegien“, dahingehend erläutert: Der Ausreiseantrag für Nichtprivilegierte sei etwas gewesen
wie der Ausweis, aus dem Leben dieser Gesellschaft ausscheiden zu wollen. Die andere Möglichkeit auszuscheiden, war die Flucht in die Krankheit. Sie gehörte zur anderen Seite des Lebens, wo man am dröhnenden Lachen der in der Kneipe beim Bier Überlebenden zerbrach.
Auch der Schreibende hatte, bevor er aufgab, sein Soll zu erfüllen. (S. 199)
Die Verfallserscheinungen, die er beschrieben habe, gehörten bereits der Vergangenheit an. Über die „schmerzlose Ablösung von mir selbst“ empfände er nicht die erwartete „Trauer“, fühle sich „gleichgültig und kalt“; interessant sei ihm die Vergangenheit nur „als Landschaft der ,Seele‘“ (doch ganz anders als bei Eichendorff) (S. 200).
Das Prosastück endet mit den für mich traurig, auch bitter, irgendwie enttäuscht klingenden Sätzen, daß bei seiner Rückkehr der neue Mercedesstern auf dem Dach des Leipziger Hauptbahnhofs sich wohl tatsächlich dort drehen werde:
Leuchte, mein Stern, leuchte! – war das nicht der Titel eines Sowjetfilms? Alles war einmal anders gemeint. (S. 201)
In dem langen Prosastück „Die Bockwindmühle in Brehna“ (Nsp, S. 262–274) eröffnet ein Besuch der Gegend von Brehna, östlich von Halle, Zusammenhänge von Landschaft und Geschichte und führt hinüber in die jetzt von politisch-ökonomischen Interessen geprägte Gegenwart. Stellte „Nachtspur“ das eigene Empfinden mehr allgemein und kritisch den DDR-Verhältnissen gegenüber, bringt dieser Text eine differenzierende Einschätzung der „Sehnsucht nach einem einfachen, anspruchslosen Leben“, der „rückwärtsgewandten Utopien“ (S. 274). Vielleicht sei das nicht bloß eine „trügerische Glücksverheißung“ gewesen, sondern auch so etwas wie eine „Hoffnungsbrücke […]“, ein „Potential auf der Suche nach einer ideologiefreien Wahrheit“:
Im Widerstand und im Gegensatz zur machtverbundenen Pracht- und Prunkentfaltung, die dazu beitrugen, daß die Dresdner Semper-Oper wiedererstehen konnte, holte sich mancher DDR-Bürger sein alternatives Geschichtsbewußtsein aus einer Vergangenheit, die – wie die alte Mühle in Brehna – im Abseits der Machtparaden zu finden war. (S. 274).
Das Reisegedicht „Litauen, beispielsweise Vilnius“ (Nsp, S. 226f.) verwortet in aufschlußreicher Weise den tiefreichenden Unterschied zwischen der DDR und Litauen, beide ehemals dem Ostblock zugehörend. „St. Kasimir“, den Namen des Heiligen und Schutzpatrons von Polen und Litauen tragend,172 zuletzt „Museum des Atheismus“, steht für „Glaubensüberfluß, vereint / Mit der Hoffnung aufs nationale / Auferstehungsmodell“ (S. 226). Bei allem Ausgebeutetsein dieses Landes:
Litauen
Ist heimgekehrt zu sich selbst.
Den Heimkehrenden erinnert bei Bitterfeld die Heide, die „zwischen den ausgekohlten Restlöchern / Dem Winter entgegenherbstet“, noch einmal an „die von Gott / Entsegnete Natur zwischen Vilnius und Leipzig”, zu Hause angekommen, klingeln in seinen Ohren „Noch immer die Glöckchen […], die / Die Wandlung einleiten“ (S. 227).
Das Gedicht „Unstrutwärts“ (Nsp, S. 277f.), dem letzten Teil den Namen gebend und damit gewissermaßen (datiert: 1992) die neue Lage ins Bewußtsein rufend, die mit ihren unzusammenhängenden, teilweise gegenläufigen, noch nicht durchschaubaren, in den Ansätzen beunruhigenden Entwicklungen Fragen aufwirft. Im Text fungieren „Orte als Anlässe“ (Gedichtbeginn), hier „Zscheiplitz“, gelegen an der Kante eines Kalksteinplateaus, „Unstrutwärts unten der Kolk“. Hier dient, doppelsinnig formuliert, die Natur
Als Refugium für abgekippte
Waschmaschinen, abgefahrene Autoreifen: Wohlstandsmüll, Ver-
Einigungswerte […]
(doch zugleich mit Blick auf „die Wiesen der Jagdgemeinschaft ROTER OKTOBER“). Im Tale
Mitten im Hoffnungsgrün, hat FIAT
Sein Heerlager aufgeschlagen, die Fähnchen
Bereiten den Sturm
Auf Freyburg und Laucha vor, die arbeitslosen
Zementwerker Karsdorfs trinken das Freibier
Des verkaufsoffenen Sonntags.
(S. 277)
Die Frage ist, „Wie / Ein Ende finden, wo alles / Erst einen Anfang hat?“
Der nicht nur Fragliches signalisierende, auch in der Frage verbleibende Gedichtschluß – „vergeblich / Warten wir auch hier / Auf eine verbindliche Antwort“ (S. 278) – steht ganz in der von Czechowski vertretenen Linie. Ist auch in solchen Zeiten einer „Sintflut“ (S. 278) der Wunsch nach genauen Zielvorgaben nur zu verständlich, er ist nicht nur ein nicht zu erfüllender Wunsch, er ist geradezu unpassend, führen doch geschlossene Weltbilder/Konzepte, festgelegte Handlungsketten zu Abschottungen, vor allem Reduzierungen von Realität, von Geschichte gegenüber der weiterlaufenden, offenen Zeit. Das andere bedeutet Ängste, läßt aber auch Chancen.
Der Band Nachtspur zeigt auf nachdrücklich eindrucksvolle Weise Czechowskis schriftstellerisches Hinübergehen in die Nach-Wende-Zeit mit unterschiedlich angelegten Reflexionen zur neuen Lage und zur eigenen Position als mit-erfahrender Schreibender. Der Band zeigt auch mit dieser Zusammenstellung von Gedichten und (kurzen) Prosastücken, wie eng bei Czechowski ,direkte‘ Aussagen zusammenzugehen vermögen mit lyrischen. Diese zeitorientierte und schwerpunktmäßige Zusammenstellung ist überzeugender als die thematische und chronologische von Auf eine im Feuer versunkene Stadt, zumal die mit Dresden eine rückwärts gerichtete Eingrenzung bringt (ohne daß ich damit die von Czechowski selbst ausgesagte Bedeutung seiner Dresden-Erfahrung für ihn und sein Schreiben herabsetzen möchte ).173
Wie ich diesen Band einschätze, wie ich ihn zu dem bisherigen Œuvre habe in Beziehung setzen können, bringt er nicht nur eine Weiterführung, eine Ausfaltung autobiographischer Komponenten (Dresden; Reisegedichte) und von Überlegungen zur Schreib-Problematik, sondern eine starke, im Ton kräftigere Ausgestaltung der zeitgeschichtlich-politischen Stellungnahmen. Diese Aussagen zeigen deutlich eine durch ihre Darstellungsweise begründete Skepsis, resignierte Wut angesichts dessen, was sich seit Ende der 80er Jahre im Politisch-Gesellschaftlichen abspielt, jedoch keine Hoffnungslosigkeit an sich. Gerade die Prosa-Einbeziehung macht aussagemäßig und durch Sprachführung deutlich, daß hier nicht einer schreibt, der sich im Elegischen, in Trauer-Stimmung gefällt (auch wenn Czechowski letztgenannten Begriff an einer Stelle direkt auf sich bezieht: „Trauer, mein Wort“). Vor allem seine Texte aus den 90er Jahren haben eher eine sarkastische als eine elegische Note. Hier schreibt ein sehr wacher, ein bei allem Einsetzen seiner Lebens- und Schreiberfahrungen doch distanzierter Beobachter, auch wenn bisweilen Erschrecken und Bitterkeit zu spüren ist darüber, daß weiterhin nicht gelernt wird aus Geschichte/Zeitgeschichte.
Die Aussage-Kompetenz, die ich für Gedichte von vor der Mauer-Öffnung meine aufzeigen zu können, ist von den Ereignissen der Wende-Zeit zwar betroffen, doch keineswegs in Frage gestellt worden, war sie doch aufgebaut in ständiger Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Realitäten und damit auch deren ideologischen Bedingungen.174 Ein Vergleich mit den beiden 89er Bänden, besonders auch mit den hier nicht noch einmal aufgenommenen Texten, zeigt, daß nichts nachträglich geschönt wurde. Das gilt auch für geänderte Fassungen.
Der neue Band ist sicher eine Fortführung, doch eine mit auffälligen Weiterungen: ganz direkt politischen Aussagen (mehr als bloß einem Ausbau der Geschichts/Zeitgeschichts-Bezüge) und verschiedenen stark variierenden sprachlichen wie formalen Mitteln. So ist der Ironie-Gebrauch weit verbreitet; sprachliche Doppel/Mehrdeutigkeiten werden eingesetzt zur Erzeugung einer zusätzlichen, verstärkenden Aussageschicht (vorher eher erfolgend über direkte Bezugnahmen auf Geschichte/Zeitgeschichte); lyrische Formalia werden verfremdend oder zur Prononcierung gebraucht; die Kombination von lyrischen mit Prosa-Textteilen erzeugt Verdeutlichungen oder führt zu einer Intensivierung der Aussagen, kann auch ein Spannungsverhältnis herstellen aufgrund der unterschiedlichen Literarizität dieser Texte.
Bedeutend geringer als in den Bänden davor sind Reise- und Landschaftsgedichte und solche über Alltagserfahrungen (Älterwerden, Lebensalter schlechthin). Erscheinen solche, sind sie z.T. sprachlich interessant, oft mit Sprachwitz gemacht (z.B. „In Wales“, Nsp, S. 123).
Wenn ich in diesem umfangreichen neuen Band eine „Fortführung“ sehe, dann markiert das zugleich eine Besonderheit: eine solche künstlerische Kontinuität mit diesen Weiterungen ist etwas Auffälliges in Anbetracht der alten wie der neuen Probleme für einen Autor aus der DDR.
Von vornherein war hier keine Gesamtdarstellung geplant. Die von mir aufgebaute Abhebung von Heukenkamp (in gewisser Weise auch von Emmerich) wurde genutzt, um den großen Strang der Czechowskis Lyrik-Präsentation wesentlich kennzeichnenden Arbeiten herauszustellen, jedoch durchaus so, daß das Variieren von Breite und Tiefe erkennbar und abschätzbar wird. Dabei wurde eine ganze Reihe ,normaler‘ Erscheinungen in seinen Arbeiten nicht eigens thematisiert, andererseits wurden aber auch einige sehr auffällige sprachliche Besonderheiten lediglich punktuell behandelt und nicht in einem eigenen Abschnitt. Ich denke hier z.B. an den kontrastierenden Einsatz von und-Verbindungen und sein Arbeiten mit „noch“, „immer noch / noch immer“. Ebenso blieb die poetologische Tradition, blieben Querverbindungen größeren Stils weitgehend unberücksichtigt.
Mit Nachtspur zeigt Czechowski die ganze Bandbreite seines Schreibens und die neuen Gewichtungen. Das läßt ihn, so meine ich, sehen als einen zeitgeschichtlich-politisch engagierten Autor, der Schreib-Situationen intensiv reflektiert, als jemand, bei dem das voll aktiv ist, was Fernando Pessoa in den motto-mäßig diesem Band vorangestellten Zeilen angesprochen hat: das ständige Sich-Befragen nach einem Zuviel oder Zuwenig im lebendigen Erfahren und nach der so schwer zu umschreibenden, zu deutenden und doch ganz wesentlichen „geistige[n] Bedenklichkeit“ (Nsp, S. 5).
Gerd Labroisse, in Gerd Labroisse und Anthonya Visser: Im Blick behalten: Lyrik der DDR. Neue Beiträge des Forschungsprojekts DDR-Literatur der Vrije Universiteit Amsterdam, Editions Rodopi, 1994
Was hinter uns liegt,
Wissen wir. Was vor uns liegt,
Wird uns unbekannt bleiben,
Bis wir es Hinter uns haben.
(1989)
Zur Nostalgie gehört die Einbildung, alles sei einmal „besser“ gewesen. Über den Jahren der Kindheit und der frühen Jugend liegt ein Schleier, der alles in einem milderen Licht erscheinen läßt. Aber auch spätere Jahre, die der näheren Vergangenheit angehören, unterliegen dieser Täuschung. Wenn heute gesagt wird, „in der DDR sei ja nicht alles schlecht gewesen“, so ist das nichts als der Ausdruck eines Bewußtseins, dessen Unschärfe der Verdrängung geschuldet ist. Denn auch in der Nazizeit ist durchaus „nicht alles schlecht gewesen“. Es gehört zu den bekannten Eigentümlichkeiten der Erinnerung, daß sie das Gewesene nicht nur in jenes mildere Licht taucht, sondern es auch bis zur Erträglichkeit filtert. Dieses Phänomen ist Ausdruck eines Überlebensprinzips. Nicht nur im Schummer der Gaslaternen, die unser Viertel beleuchteten, und in der Weihnachtsstimmung, die den Krieg erträglicher machte, sondern auch im Leben zwischen Trümmern und im Mangel der Nachkriegsjahre lebt nach, was sich weiterzugeben lohnt. Das ist die Problematik jeder Art von niedergeschriebener Erinnerung. Darüber zu klagen ist freilich überflüssig, denn alles Geschriebene ist ohnehin nur eine Annäherung an die Wahrheit und an die Wirklichkeit, so daß auch das Gewesene lediglich mit dem Satz „Wie es gewesen sein könnte“ beschrieben werden kann.
Die Zeit, von der ich hier zu sprechen gedenke, verdient in der Tat historisch genannt zu werden, da sie unser aller Leben genauso veränderte wie jenes 1945, das alle Vorstellung vom Gewesenen und vom Zukünftigen sprengte und jene vielbeschworene „Umwertung aller Werte“ zur Folge hatte.
Jener November 1989, um dessen Folgen es hier geht, ist für die Nachgeborenen kaum noch zu verstehen. Man versammelte sich im Nikolaikirchhof, während in der Kirche ein auserlesener Kreis das Montagsgebet absolvierte. Mir ist es nicht gelungen, auch nur einmal zu diesem Zweck ins Innere der Kirche zu gelangen, während der Zunftbruder H., den ich nach dem Gebet traf, von seinen guten Beziehungen zum Superintendenten Magirius sprach. Das in der DDR oft gebrauchte Wort vom Vitamin B hatte also auch in der Wendezeit und erst recht danach seine Gültigkeit behalten.
Aber wir wollen uns angesichts der historischen Größe jener Zeit nicht bei Kleinigkeiten aufhalten. Tatsächlich war jener 9. Oktober 1989 alles andere als ein gewöhnlicher Tag. An ihm vollzog sich die Wende Europas durch eine Wende des Demonstrationszuges, der sich in Richtung der Ritterstraße in Bewegung setzen wollte, aber nicht konnte, da der Zugang zu dieser Straße von Bereitschaftspolizisten des Ministeriums des Inneren versperrt war. Im Vorort Stötteritz, wo ich wohnte, hatte ich mich von meiner Frau und meinem Sohn mit einem unguten Gefühl verabschiedet. Dieses Mal, das war mein Gedanke, konnte es ernst werden. Und es war vielleicht das einzige Mal, wo das später von einem Berliner Kollegen in Umlauf gebrachte Wort von der „Heldenstadt Leipzig“ seine Berechtigung hatte. Denn es schien in der Tat alles Spitz auf Knopf zu stehen.
Der Zug setzte sich in umgekehrter Richtung in Bewegung, dem Ring und der Universität zugewandt, so daß der Maler Mattheuer und der Schriftsteller Heiduczek, die neben mir im Hintergrund des Thomaskirchhofs gestanden hatten, sich plötzlich gemeinsam mit mir fast an der Spitze des Zuges befanden. Man sprach später von etwa 70.000 Demonstranten, die an diesem Oktobermontag aus allen Seitenstraßen herbeiliefen. Tatsächlich spüre ich noch heute jenes leichte Gruseln, das die Aussicht auf Freiheit hervorrief und das mich damals durchströmte, als ich, mich umdrehend, diese nicht enden wollende Menschenmenge erblickte, die sich in Richtung Hauptbahnhof bewegte. Zwar versuchten einige junge Bereitschaftspolizisten, fast noch Kinder, verzweifelt den Zug aufzuhalten, doch sie flüchteten angesichts der Zehntausend alsbald in die Seitenstraßen und in die Anlagen hinter der Oper.
Für einen kurzen Moment dachte ich an Chile, wo die Handlanger Pinochets junge Frauen an den Haaren in die Milizautos geschleppt und die Wohnung des Nobelpreisträgers Pablo Neruda in Santiago de Chile geschändet hatten. Die Sowjetunion und die DDR hatten Allende fallenlassen, aber dann chilenische Emigranten in großer Zahl aufgenommen. Sollte sich so etwas nun in der DDR wiederholen? Doch wohin sollten wir emigrieren? Was mir heute wie der etwas pathetische Versuch einer inneren Rechtfertigung erscheint – ich habe mich damals tatsächlich gefragt, ob es sich lohne, für die Freiheit zu sterben. Denn die geflüchteten jungen Polizisten waren schließlich nicht alles, was die schwer gerüstete DDR zu bieten hatte. Auch die sowjetischen Panzerbrigaden, die in Altenburg standen, hatten vielleicht schon ihre Motoren warmlaufen lassen, um dem Leipziger Spuk ein Ende zu bereiten…
Der Zug bewegte sich mit „Gorbi-Gorbi“-Rufen den Ring entlang in Richtung Hauptbahnhof. In Höhe der Löhrstraße, nicht weit von der Fußgängerbrücke am Hotel International entfernt, höhnten die alten Kampfgruppenhunde, wie sie sich selbst gern nannten, die ihre veralteten sowjetischen Schützenpanzerwagen dort geparkt hatten. Die Fußgängerbrücke, welche die ganze Straße überspannte, gab für die dort postierten Polizisten ein herrliches Schußfeld frei. Doch selbst im schummrigen Licht der Leipziger Straßenbeleuchtung konnte man erkennen, daß sich diese angesichts des herannahenden Zuges entfernten. Das Blutbad, vor dem ich innerlich gezittert hatte, fand nicht statt.
In der Stasi-Zentrale „Runde Ecke“ waren die Lichter ausgegangen. Sprechchöre überall: „Stasi in die Produktion!“ und „Wir sind das Volk!“ Auf den Stufen des Eingangs brannten Tausende Kerzen als Zeichen einer friedlichen Revolution. Aus den Lautsprechern des Stadtfunks schallte der Aufruf „Keine Gewalt!“ Plötzlich herrschte eine entspannte Volksfeststimmung. Das Regime war gekippt, wenn auch noch nicht abgetreten. An so etwas wie eine Wiedervereinigung dachte in diesem Augenblick wohl niemand. Im Gegenteil: Der Ruf „Wir bleiben hier!“ war noch so etwas wie ein Bekenntnis zur DDR, die man sich durch freie Wahlen demokratisiert vorstellte. Die merkwürdigsten Spekulationen machten die Runde: Das Volkseigentum sollte in Aktien für jedermann aufgelöst werden, BRD und DDR sollten eine Staatenkonföderation bilden.
Noch waren die Grenzen nicht offen, aber der Staat war in seinen Grundfesten erschüttert. Als das Leipziger Theater am 3. November 1989 mit meiner Bearbeitung von Bulgakows Der Meister und Margarita nach Brünn fuhr, stand dieses Gastspiel schon unter dem Aspekt einer Versöhnung der seit dem Prager Frühling 1968 entzweiten „Brudervölker“. Obwohl die ČSSR im Gegensatz zur DDR noch in tiefem Schlaf zu liegen schien und von der samtenen Revolution noch niemand sprach, spürte man auch im dunklen Brünn schon eine zunehmende Spannung. Auf der Hinfahrt traf das Ensemble eine Vereinbarung, in Brünn irgend etwas zu unternehmen und eine Botschaft zu verbreiten. Aber wie?
Kaum in Brünn angekommen, rief ich meinen Freund Ludvík Kundera in Kunštát an, das nur wenige Kilometer entfernt ist. Noch in der Nacht fuhr ich mit dem Bus in den Ort, der mit dem Namen des tschechischen Dichters František Hálas verbunden ist, der den in der DDR wohlbekannten, von Franz Fühmann ins Deutsche gebrachten antistalinistischen Vers „Eine Geige zerhackt man nicht“ geprägt hatte.
Im mit Büchern und Manuskripten vollgestopften Arbeitszimmer Ludvíks berieten wir, was zu tun sei. Ludvík hatte seit 1968 Veröffentlichungsverbot in der ČSSR, war jedoch Herausgeber der Lyrikanthologie Die Sonnenuhr, tschechische Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart, bei Reclam – hervorgegangen aus einer listigen Vereinbarung Fühmanns mit dem Verlagsleiter Marquardt.
Wir tranken Slivowitz und sprachen über die bevorstehenden Änderungen, die sich im „sozialistischen Lager“ vorbereitet hatten. Dann schob mir Ludvík einen Zettel zu. Ich las: „Prómìnte ’68 (Entschuldigt ’68).“ Noch in der Nacht fuhr ich nach Brünn zurück. Das Ensemble saß beim Bier in der Theaterkantine. Ich unterbreitete den Vorschlag Kunderas, der allgemeine Zustimmung fand. Doch der Parteisekretär des Theaters bestand darauf, sich mit seinem Amtsgenossen des Brünner Theaters zu verständigen. Beide Sekretäre rieten von einer derartigen Demonstration ab. Was in der DDR schon kein Aufsehen mehr erregt hätte, erwies sich hier noch als unmöglich. Mütterchen DDR und der Sozialismus hatten noch einmal ihre Krallen ausgestreckt. Aber das Transparent mit jener Aufschrift wurde gemalt und nach Schluß des Stückes von einigen beherzten Schauspielern vor den Vorhang getragen. Die ohnehin nicht zahlreichen Zuschauer verließen geduckt das Theater…
Am nächsten Morgen besuchte mich im Hotel der schon todkranke Jan Skácel, auch er in der ČSSR noch immer ein Unerwünschter. Jan war mit von der Partie gewesen, als wir – Wulf Kirsten und ich – 1976 Ludvík in seiner Datscha in der Nähe von Brünn besucht hatten. Wir tranken damals die ganze Nacht Tee, schafften aber natürlich nicht die 200 Sorten aus aller Welt, die Kundera gesammelt hatte. Es regnete währenddessen in Strömen, so daß am Morgen, als wir abreisen wollten, mein Trabant am durchweichten steilen Hang abzurutschen drohte. Die drei Männer stemmten sich mit aller Kraft gegen das Gefährt, so daß es mir gelang, das Wägelchen wieder auf den rechten Pfad zu bringen…
KUNŠTÁT IM REGEN
Für Ludvík Kundera und Jan Skácel
Ob die Wolken abdrehen, Wind
Den Himmel freilegt, oder
Der Regen die Feldsteine weißwäscht –
Wer weiß es?
Substantielle Gespräche, Tee,
Von Kennern in Tassen gebrüht –
Löffelweise
Stiehlt sich die Wahrheit
Nachtwärts
Ins Nichts.
Wie über die getöteten Linden
Hat über uns
Schon die Zukunft
Entschieden:
Man kommt nicht umhin
Von Hálas zu sprechen.
Zugegeben – sehr optimistisch klang das nicht: Aber die damaligen politischen Aussichten waren auch nicht von Hoffnung gezeichnet. Und nun dieses Wiedersehen unter den Zeichen der bevorstehenden „Wende“, von deren Ausgang niemand etwas wußte – der in diesen Tagen fast noch unvorstellbare Zusammenbruch der Sowjetunion und des „sozialistischen Lagers“.
Auf der Rückfahrt von Brünn nach Leipzig am 6. November 1989, wiederum im strömenden Regen, fuhr ich durch das novemberlich verdunkelte Prag, vorbei am Wenzelsplatz und am Nationalmuseum. Und dann, in der Elbwanne hinter Melnik, begegnete ich jenem Strom von Trabanten, Wartburgs, Shigulis, welche die Grenze überwunden hatten und nun im Schritttempo, gehüllt in Zweitakt-Qualm, zur österreichischen Grenze rollten, nachdem den in die Prager Botschaft der BRD im Garten des Lobkowitzschen Palais’ geflüchteten DDR-Bürgern von Genscher Reisefreiheit für die BRD zugesagt werden sollte. In Dresden kam es zu Krawallen, als die Züge später gen Westen durch den Hauptbahnhof fuhren. Es schien, die ganze DDR wolle ausreisen…
Doch das war schon Vergangenheit, die Ereignisse überschlugen sich, als wir an einem Montagabend nach Leipzig zurückkehrten. Die Montagsdemo war noch im Gange, doch dieses Mal tönten mir andere Rufe wie „Deutschland, einig Vaterland“ und „Wir sind das Volk“ entgegen. Die ersten Reichskriegsflaggen entfalteten sich, und die Glatzen, die man schon zu DDR-Zeiten gesehen hatte und die von der Stasi geduldet wurden, grölten das Deutschlandlied. Schon einmal hatte ich mit ihnen zu tun gehabt, als ich nachts nach Hause wollte und mir eine mit Baseballschlägern bewaffnete Horde auf der Naunhofer Straße entgegenkam. Es gelang mir irgendwie, mit Vollgas den hinter mir her grölenden Haufen zu durchbrechen. Ihr dreistes öffentliches Auftreten war neu und ließ nichts Gutes erwarten… Gingen wir vielleicht einer Republik mit Freiheit für Neonazis entgegen?
Während ich mir noch derartige Fragen stellte, schlugen die Wellen der Ereignisse über meinem Kopf zusammen. Kaum wieder in Leipzig, erreichte mich aus Brünn ein Telegramm Ludvíks: „Jan verstorben.“ Das zu Erwartende war eingetreten, und ich fragte mich, welchen Anteil am frühen Tod Jan Skácels die Jahre nach 1968 hatten. 1960, als ich ihn in der Redaktion der Plamen am Wenzelsplatz kennenlernte, waren uns die tschechischen Kollegen, wie mir schien, um Jahrzehnte voraus. Nicht nur, daß ihre Gedichte der Tradition des tschechischen Poetismus folgten – hier wurden Fragen diskutiert, von denen wir in der DDR keine Ahnung hatten und die auch in den Räumen des Literaturinstitutes nicht auf der Tagesordnung standen.
Jetzt stand die Zukunft jener Poesie zur Debatte, der wir uns von der „Sächsischen Dichterschule“ verpflichtet hatten. Ein neues Wort machte in Intellektuellenkreisen die Runde:
Trauerarbeit.
Ich glaube, niemand wußte damit wirklich etwas anzufangen. Es war vieldeutig. Sollte man trauern, 45 Jahre lang vergeblich einer DDR angehört zu haben? Sollte man das Unrecht bedauern, das man anderen angetan hatte?
Als mich Martin Lüttke in Leipzig besuchte und mit einem kleinen Fernsehteam Aufnahmen in Stötteritz machte, führte ich ihn zum alten Dorfkern, den ich trotz seiner Verfallenheit liebte. Die aufgelassenen Häuser und Gehöfte, das ehemalige Kino – ruiniert. Die „Wende“ hatte ihnen den Rest gegeben. Auf der Treppe zum Heizungskeller zentnerweise Briketts. Ein ganzer alter Ortskern, von der DDR dem Verfall überlassen und nun der Marktwirtschaft mit ihren Grundstücksspekulanten preisgegeben… Hier empfand ich plötzlich eine so starke Trauer, daß mir die Tränen über die Wangen liefen… Was in der DDR selbstverständlich gewesen war: die tägliche Begegnung mit dem Verfall, der Verkommenheit, der Gleichgültigkeit, dem Schlendrian – jetzt, wo ich das alles mit den berühmten anderen Augen sah, war es auf eine kaum zu beschreibende Art und Weise gegenwärtig. Und plötzlich hatte das Wort Trauerarbeit einen Sinn.
Natürlich stellte auch ich mich in die Reihen der Visaersucher, nachdem am 9. November die Reisefreiheit ausgerechnet von dem Ekel Schabowski verkündet worden war. Ich fuhr zu Freunden nach Hannover, mußte jedoch feststellen, daß meine Freude über die offenen Grenzen von diesen kaum geteilt wurde. Nun, so wörtlich, tränken auch wir ihre Weine aus der Toskana und brächten ihre sicheren Besitzstände ins Wanken. Wir, die wir besitzlos der Einheit entgegengingen, hatten nichts zu verlieren, aber einiges zu gewinnen – wie wir hofften. Siegestrunken wurde unter den Literaten der Wegfall der Zensur gefeiert. Neue Verlage schossen wie Pilze aus der Erde – um alsbald wieder einzugehen. Die der Stasi gehörenden Villen in Stötteritz gingen für fast symbolische Preise in Privathand über. Ich hatte an all dem keinen Anteil, und mir schwante hinsichtlich meiner Zukunft Böses. Noch war ich von Reisen und Lesungen absorbiert und machte, noch kurz bevor die Lichter der DDR ausgingen, bei Wagenbach in Westberlin ein Büchlein, das mir, wäre die DDR noch intakt gewesen, vermutlich ein paar Jahre Bautzen eingebracht hätte. Statt dessen unternahm ich eine Reise nach Salerno und Paestum.
Der ereignisreiche November ging, es kam der Dezember, der wohl gesetzloseste Monat der Übergangszeit. Niemand wußte so recht, woran er sich halten sollte. Am 19. Dezember sollten Kohl und Modrow, jetzt Ministerpräsident der DDR, vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden sprechen. Ich fuhr hin, weil ich an diesem historischen Tag dabei sein wollte, wenn zwei deutsche Staatsmänner der Zukunft ihres Landes entgegensahen.
Schon auf einem Parkplatz in der Nähe der Autobahnausfahrt Dresden-Neustadt herrschte so etwas wie Fastnachtsstimmung. Frauen wickelten sich in Bundesadler- und Reichskriegsflaggen, Flaschen kreisten, ich hatte Mühe, mich abseits zu halten und nicht in den Sog der Übermütigen hineinzugeraten. Ich stellte mein Auto irgendwo am Rand der Innenstadt ab und ging über die Augustusbrücke, die damals noch Georgi-Dimitroff-Brücke hieß. Dort flanierte die bundesdeutsche Polit- und Presseprominenz freimütig inmitten des Staatsvolks der DDR, das sich auf ungewisse Zeiten vorbereitete.
Auf dem Altmarkt waren Container der Deutschen Bank aufgebaut worden. In einem bayerischen Bierzelt wurde Freibier ausgeschenkt, wozu eine Blaskapelle die entsprechenden Ländler spielte. Auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche, rund um den bronzenen Luther, der die Bibel im Arm hält, versammelte sich in der hereinbrechenden Dunkelheit vor einer erleuchteten Tribüne das Volk, im Hintergrund die zerklüftete Ruine der Frauenkirche, die wir Dresdner nur den „Dorn“ genannt hatten und die ich in dieser Gestalt so gern als Nationaldenkmal Deutschlands erhalten gesehen hätte.
Dort traf ich alsbald auf den Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer und den Dresdner Lyriker Thomas Rosenlöcher. Beide harrten wie ich der kommenden Dinge. Mir fiel aber auf, daß Mattheuer ungewöhnlich gut angezogen war, was ich ihm gegenüber auch zum Ausdruck brachte. Mattheuer murmelte etwas, das ich nicht verstand. Erst am nächsten Morgen erfuhr ich beim Lesen des ND, daß der Bundeskanzler im Anschluß an die Kundgebung im Hotel Belvedere, das noch Honecker zur Einweihung der Semper-Oper hatte bauen lassen, um die Bundesprominenz angemessen unterbringen zu können, einen Empfang für die DDR-Prominenz à la Peter Schreier und Theo Adam gegeben hatte…
Helmut Kohls Rede war, unter uns gesagt, der jetzt beginnende übliche Kackschmus, der den Ostdeutschen die Zukunft vergolden sollte. Modrow blieb im Hintergrund und verzichtete darauf zu sprechen, während Kohl von lieben Brüdern und Schwestern, blühenden Landschaften und einer Staatenkonföderation DDR-BRD sprach.
Aber der Zug in Richtung Einigungsvertrag war schon abgefahren, und wer sich nicht als Bremser betätigen wollte, wie eine auch hier anwesende FDJ- und DDR-Fahnen schwenkende Minderheit, dem blieb nichts übrig, als der Währungsunion und dem Tag der deutschen Einheit entgegenzusehen.
Rosenlöcher hat der Episode vor der Frauenkirche in seinem Dresdner Tagebuch Die verkauften Pflastersteine wie folgt Ausdruck gegeben:
Unter allgemeinem Beifall – gerade wird ein Hammer-und-Sichel-Fahnenwäldchen in Richtung des zu erwartenden Bundeskanzlers durch ein zehn Meter langes schwarzweißrotes Stoffband erfolgreich verdeckt – treffe ich auf den Dichter Czechowski und den Maler Mattheuer […]. Drei Männer in Betrachtung des Bundeskanzlers. […] Beifall, und auch der Bundeskanzler verspricht, diesen Tag nicht zu vergessen. Czecho klatscht mehrmals, ich einmal, und zwar versehentlich – Mattheuer klatscht immer.
Das stimmt freilich nicht ganz mit dem skeptischen Gedicht überein, das ich am nächsten Tag schrieb:
HISTORISCHE REMINISZENZ
Was hat man uns nicht alles eingeredet:
Daß uns Monokulturen bekömmlicher sein sollen
Als Vielfalt und daß die Versteppung der Landschaft
Erst deren wahre Schönheit
Uns offenbare. Heute, so scheint es,
Ist auch so ein Tag, wo man uns einreden will:
Nun wird alles gut! – Wenn ich
Die Augen schließe, hör ich
Die Rufe der Masse wie Brandung. Auf diesem Platz,
Der einstmals einer der schönsten Europas gewesen,
Gedenk ich der Toten, die
Auf diesem Pflaster verbrannten. Wie Pollen
Fliegen die Worte des Kanzlers
Über die Köpfe. Versprochen wird jetzt:
Den Skeptischen Mut,
Den Trauernden Freude und selbst
Noch dem Folterknecht eine
Auskömmliche Rente. Versprochen wird auch:
Die Schnellbahnstraße,
Ein dichtes Telefonnetz, mehr Fernsehkanäle,
Umweltfreundliche Krokodile, Tränen,
Die glücklich machen wie Drogen, die Liebe –
Kostspielig
Und doch erreichbar für jeden. Selbst der Tod
Wird einbezogen in dieses Fest der Versöhnung:
Die Dresdner Bank –
Dank sei dem Eisernen Kanzler! –
Zieht Bilanz in der dreimal zerstörten
Stadt an der Elbe, während das Volk
Sich zu zerstreiten beginnt um seinen Anteil
An einer Ordnung, von der niemand weiß,
Wer nun den Kopf hinhalten wird
Für die Vergangenheit des immerwährenden
Historischen Augenblicks: demokratischer Aufbruch
Ins Niemandsland zwischen
Gestern und Morgen.
Daß die DDR ein lächerlicher Staat war, erwies sich erst recht an ihrem Ende. Es genügte ein relativ geringer Druck durch die Demonstranten in Leipzig und anderswo, um ihre Fundamente ins Wanken zu bringen. Ich weiß nicht mehr, an welchem Montag die Runde Ecke „gestürmt“ wurde. Unvergeßlich jedoch ist mir der Anblick eines über das Dach flüchtenden Stasi-Mannes, dem sicher kein Haar gekrümmt worden wäre, hätte er sich unter die Demonstranten gemischt – „keine Gewalt!“ –: gleichsam ein Symbol für das sich auflösende Staatsgebilde, das außerdem noch das Unglück hatte, ein Halbstaat im Schatten der größeren und mächtigeren BRD zu sein.
Der nun einsetzende Ausverkauf der DDR – rein äußerlich erkennbar durch das vor den Kasernen stattfindende Verhökern von NVA-Eigentum – und die Pleite der GUS-Staaten (auch die Sowjetarmee verkaufte, was nicht niet- und nagelfest war: Benzin und, wie man hörte, auch Handfeuerwaffen), ließen einen Zustand entstehen, der nicht wenig an die Situation nach dem 8. Mai 1945 erinnerte. Ich nahm meine Radtouren rund um Leipzig wieder auf, um als Chronist Zeuge der Veränderungen zu sein, die unübersehbar geworden waren:
HINTER DER STADT
Die Flurstücke, abendwärts, Feldwege,
Von denen du sprachst,
Ziehn sich durch Raps- und Gerstenschläge
Der ehemaligen LPG, gequert
Von den Gleisen der Grubenbahn
Aufgelassenen Lehms. Staubfahnen
Wehen vom Baggerloch
Über verkrautete Felder, aufgeteilt
In Parzellen künftigen Wohneigentums.
Alles im Umbruch. Verwaist
Der Schafstall am Kolm, der Schlachtberg,
Markiert mit dem Apelstein Nr. 13,
Befahren von liebesnestsuchenden
Automobilbesitzern. Die Mangelgesellschaft
Abgelöst von der Marktwirtschaft. Gewerbegebiete
Versiegeln den Boden. Sprachlos
Gewordene durchstreifen das Land
Auf der Suche nach
Verlorenen Gegenständen. Volkseigner Schrott,
Herrenlos, türmt sich
Um Dörfer, viehlos, das Soll
Ersetzt durch die Milchquote.
Auf der Suche nach Rast und Ruh
Findest du
Eine weggeworfene Schreibmaschine, Marke Filia,
Unbrauchbar der
Computergestützten Gesellschaft.
Angesichts derartiger Veränderungen dachte ich mich in jene durchaus nicht konfliktlosen Jahre zurück, als wir, auch mit Gedichten, ankämpften gegen Verfall, Schlendrian und eine verfälschende Geschichtsschreibung. Ich erinnerte mich an die Hetzkampagne gegen die Anthologie In diesem besseren Land, an die von oben abgebrochenen Lyrik-Debatten in der Studentenzeitschrift Forum oder in Sinn & Form. Der Versuch Wulf Kirstens, die Druckgenehmigung für einen Sonderdruck von Gedichten verschiedener Lyriker beim Rat des Bezirkes Erfurt zu erlangen wurde mit der unglaublichen Bemerkung, Privatpersonen sei es nicht gestattet, „Gedichte zu verfassen und zu veröffentlichen“, zurückgewiesen. Eine Sendung mit einigen Gedichten an den inzwischen im Westen lebenden Günter Kunert landete beim Rat des Bezirks Halle. Mich erreichte von dort der Brief eines gewissen Herrn Kuhbach, ich hätte mich bei ihm zur „Erörterung künstlerischer Fragen“ einzufinden.
Schon als ich das Vorzimmer dieses Herrn betrat, wurde mir alles klar. Es saßen dort einige uniformierte Herren der Polizei und des Zolls. Die Sendung war abgefangen worden (alle unsere Briefe wurden ja von den entsprechenden Stellen mitgelesen) und wurde mir nach umfänglichen Belehrungen und Verwarnungen ausgehändigt. Man verbot mir, hinfort Manuskripte über die Westgrenze zu senden. Ich fand freilich andere Wege.
Und schließlich gestattete mir die nach Devisen gierende DDR zwei Lizenzausgaben meiner Gedichte bei Hanser und Rowohlt. Daß es sich um schon gedruckte, also von der DDR zensierte Gedichte handelte, schloß nicht den Versuch aus, auch bisher Ungedrucktes ins Manuskript zu schmuggeln, was freilich von den westlichen Lizenzgebern nicht gern gesehen wurde, wollte man es sich doch mit dem Osten, von dem man auch wohlfeile Klassikerausgaben übernahm, nicht verderben.
Jetzt, wo die Grenzen offen waren und mir eine „grenzenlose“ Zukunft über die Schulter sah, gab es genügend Anlässe, sich zurückzudenken. Es war nicht sinnlos gewesen, der offiziellen Kulturpolitik die Zähne zu zeigen. Unsere Gedichte, in zahllosen Lesungen unter die Leute gebracht, galten als „Lebenshilfen“, vielleicht sogar im Sinne des Rilkeschen „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ Sollte man ausgerechnet jetzt inmitten der sich ankündigenden Warengesellschaft, in der einzig Marktfähigkeit zu zählen schien, untergehen, obwohl man Zensur und Spitzelwesen überstanden hatte?
Heinz Czechowski, aus Heinz Czechowski: Die Pole der Erinnerung. Autobiographie, Grupello Verlag, 2006
mit Heinz Czechowski
Für das Gedicht nenne ich die Landschaft
sanft, sie mutet hier
wie ein ganz leiser Vorgang an, zugehörig einer Rede, einer Natur
für zwei (kein Renoir à trois) Personen
– gerade eben so noch da –,
die einander kennen, ahnen, nennen, mit diesem Meergefühl
für Flüsse, Berge, was durch digitale Nähe nicht zu kompensieren ist,
dies vielleicht auch niemals war,
nur durch die Sonne, eine gelbe Fläche
aus Hypoxis und ins Innere verlagert, geteilt
durch Kopf (Kopf von den Wiesen, Kopf aus kein Mensch sonst)
und unterwegs in einem Gehen durch Einheiten
von Pappelschnee
wie kleine Umhänge für Mücken,
undatiert, also Symbole für Gelingen,
Glücken.
Ron Winkler
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005
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